Was bedeuten die neuen Lockerungen für uns? – Schäubles Gedanken sind die Gedanken der Herrschenden

Mit den Beschlüssen vom 06. Mai wird ein Großteil der bestehenden Beschränkungen aufgehoben: Alle Geschäfte sollen ab jetzt wieder öffnen dürfen, Restaurants und Hotels ab Mitte Mai, Reisen und Sport soll wieder möglich sein und auch Besuche in Pflegeheimen werden erlaubt. Das Kontaktverbot wird nur leicht gelockert und soll zusammen mit weiteren Hygiene-Regeln bestehen bleiben. Jedem, der in den letzten Tagen schon im öffentlichen Nahverkehr unterwegs war, der die letzten Wochen normal zur Arbeit gehen musste, der die wieder geöffneten Geschäfte besuchte, weiß, dass die Einhaltung des Kontaktverbot an diesen Orten nahezu unmöglich ist. Es mutet an, als wäre das Kontaktverbot das heilige Mittel, damit alle wieder ihrem gewohnten Tun nachgehen können: Die Arbeiter sollen zur Arbeit und nach Feierabend in den Geschäften einkaufen gehen, die Kapitalisten sollen getrost produzieren lassen und verkaufen können, damit die Profite in ihren Kassen klingeln.

An diesen Beschlüssen wird deutlich, dass es um die Kontrolle und nicht um die Verhinderung der Ausbreitung des Virus geht – man nimmt Tote geflissentlich in Kauf. Und selbst die Möglichkeit, das die Herrschenden die Verbreitung des Virus wirklich unter Kontrolle halten können, kann zum aktuellen Zeitpunkt noch lange nicht bewiesen werden. Wir werden noch lange mit dem SARS-Cov-2-Virus konfrontiert bleiben, dass bestreitet auch niemand in der Bundesregierung. Der Weg der Herrschenden ist laut Bundeskanzlerin Angela Merken „ein Mutiger“. Das zeigt sich auch an ihrer Aussage, dass für weitere Maßnahmen und Lockerungen die Bundesländer verantwortlich seien. In Zukunft wolle man statt landesweiten Beschränkungen nur noch lokal eingegrenzt auf Infektionsgeschehen reagieren. Das bedeutet, dass komplette Landkreise oder Städte abgeriegelt werden könnten, um eine Ausbreitung über den jeweiligen Ort hinaus zu verhindern. Eine fragwürdige Bestimmung, wo doch jeder weiß, dass die Bewegung über Landkreis- und Städtegrenzen hinweg für sehr viele Menschen in Deutschland Alltag ist. 

Doch bereits seit den letzten Lockerungen scheint sich die Stimmung im gesamten Land verändert zu haben. Viel mehr Leute bewegen sich auf den Straßen, sind in Gruppen unterwegs und die Stimmen, die sagen, dass „alles wohl gar nicht so schlimm sei“ oder alles gar für eine große Verschwörung halten, werden lauter. Unter all diesen Stimmen sind die Rufe nach dem „Restart“ in der Wirtschaft besonders laut: Direkt im Anschluss an die Beschlüsse der Beratung der Regierungen des Bundes und der Länder am 06. Mai twitterte der mächtige Bundesverband der deutschen Industrie (BDI): „Die deutsche Wirtschaft ist #ReadyForRestart“. 

Dass die herrschende Klasse der Kapitalisten in unserer Gesellschaft auch Stichwortgeber bei Veränderungen und Entwicklungen ist, hatte schon Karl Marx sehr klar und deutlich formuliert:

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“

Das beweist sich in Zeiten der Pandemie einmal mehr mit aller Deutlichkeit. Zwar hatten die verschiedenen Wirtschaftsvertreter schon seit Wochen nach Lockerungen und einer Exit-Strategie aus den Beschränkungen ihrer Profitmacherei geschrien, doch brauchte es einen Vertreter des Gesamtkapitals um dem ganzen Geschrei die volle Legitimation zu geben. Wolfgang Schäuble, von vielen als der „Zweite Mann“ im Staat hinter Angela Merkel gehandelt, erfüllt diese Rolle mit Bravur. Im Tagesspiegel vom 26.04. erklärte er klipp und klar:

„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ 

Mit dieses Aussage verschiebt, oder besser gesagt, fokussiert er die herrschende Debatte auf ein angebliches Dilemma: Entweder es sterben Menschen jetzt an Covid-19 oder der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands wird „gewaltige ökonomische, soziale, psychologische und sonstige Auswirkungen“ haben. Schäuble bedient sich damit der altbekannten aber sehr effektiven Strategie des „kleineren Übels“. Denn niemand würde ernsthaft in Zweifel ziehen, dass ein andauernder Lockdown unter kapitalistischen Bedingungen „gewaltige ökonomische, soziale, psychologische und sonstige Auswirkungen“ haben würde. Und auch ein vergleichsweise kurzer Lockdown wie aktuell in Deutschland praktiziert, zeigt schon solche Auswirkungen. 

Das Problem liegt vielmehr in der Gegenüberstellung an sich. Warum sollte es nicht möglich sein, möglichst viele Tote durch Covid-19 zu verhindern und gleichzeitig die Auswirkungen eines Lockdowns auf die Leute maximal zu reduzieren? Warum muss ein Lockdown zu mehr Vereinsamung, häuslicher Gewalt, Depressionen und ähnlichem führen? Er muss es nur in einer Gesellschaft, in der das Leben eines Arbeiters nur soviel wert ist, wie Profit aus ihm geschlagen werden kann. Bei einem Lockdown in einer Gesellschaft, die ausschließlich den Interessen der breiten Arbeiter- und Volksmassen folgt, würde mit allen Mitteln versucht werden, das Leben und die Bedürfnisse aller Teile der Bevölkerung zu schützen. Der Umgang des sozialistischen Kubas mit der Pandemie ist, trotz Sanktionen und Blockaden durch den Imperialismus, der schlagende Beweis. 

Die Folgen von Schäubles Aussage sind beachtlich, ein bisschen Manöverkritik, aber im Wesentlichen hört man aus den Reihen der herrschenden Klasse große Zustimmung zu den Aussagen eines so „großen Staatsmannes“. Sowohl unter Zweiflern der Lockerungen, als auch Befürwortern. Ob hochrangige Kirchenvertreter wie Margot Käßmann, Scharfmacher wie Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer oder FDP-Größen wie Wolfgang Kubicki – viele folgen seinem Ruf und gehen zum Teil noch weit über ihn hinaus. Die oberflächlichen Begründungen für weitere Lockerungen sind unterschiedlich, jedoch folgen sie alle der Logik des „kleineren Übels“ und verschleiern damit den eigentlichen Kern der Forderung: Die Unternehmen in Deutschland müssen wieder Profite machen können! Koste es letztlich was es wolle! 

Doch die Logik des „kleineren Übels“ und des „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch mir gut“ greift nicht nur bei Vertretern der Herrschenden Klasse. Die Logik wird durch Aussagen wie Schäubles befördert, aber vor allem durch die Lockerungsmaßnahmen selbst immer tiefer in das Bewusstsein der Menschen in unserem Land eingebrannt. Es findet eine regelrechte „Lockerung im Kopf“ statt: Ob in der Nachbarschaft, im Betrieb oder im Supermarkt, Viele fangen an, die Gefahr des Corona-Virus gering zu schätzen und diejenigen, die schon immer behauptet haben, dass es gar keine Pandemie gäbe oder eine große Verschwörung wittern bekommen Auftrieb. Immer mehr Menschen werden unvorsichtig und glauben den Staatsvertretern, dass alles „unter Kontrolle“ sei. Genau diesen Umgang nutzen die Kapitalisten schamlos aus, wenn sie Bereiche der Produktion wieder öffnen in denen sie darauf zählen können, dass Arbeiter sich in falscher Sicherheit wägen und bereitwillig auf Gesundheitsschutz-Maßnahmen verzichten.

Gleichzeitig droht die Gefahr einer schrittweisen Isolation derjenigen, die Angst vor dem Virus haben, die selbst zur Risikogruppe zählen oder die bereits durch Covid-19 Angehörige verloren haben. Denn durch die Verschiebung in der Herrschenden Meinung wird es viel schwieriger für den vollständigen Lockdown inkl. der Schließung aller nicht-lebensnotwendigen Betriebe, für einen effektiven Gesundheitsschutz zu argumentieren. Alle Seiten werfen mit echten oder angeblichen Fakten um sich, doch derjenige, der sich durch die Politik der Herrschenden bestätigt fühlt, wägt sich in Sicherheit. 

Für Viele gibt es jetzt sowieso keine Alternative mehr. Was als „Freiheit“ verkauft wird, ist für sie ab jetzt Zwang. Tausenden Beschäftigten in der Gastronomie und im Einzelhandel ist der Boden entzogen, auf dem sie zum Schutz ihrer Gesundheit bisher stehen konnten. Ab jetzt geht es zurück an die Arbeit, zurück in den direkten Kundenkontakt unter fragwürdigen Hygiene-Vorschriften. Imbissbudenbesitzer, Frisöre und andere müssen ihre Läden jetzt wieder öffnen, um in Zukunft kein Kunden zu verlieren – ob sie zur Risikogruppe zählen und eine Infektion mit dem Virus verhindern wollen, zählt schlicht nicht in der kapitalistischen Konkurrenz. 

Die Folge der Lockerungen und ihrer ideologischen Begleitmusik ist das Einsetzen einer weiter um sich greifende Verrohung der gesamten Gesellschaft. Erfolgreich wurde die Verantwortung vom Staat wieder auf jeden Einzelnen verlagert und die Spaltung der Arbeiterklasse vertieft. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach es klar und deutlich auf der Pressekonferenz am 06. Mai aus: 

Ich habe gesagt: Wir gehen mutig vor, aber wir glauben, dass wir mit den Randbedingungen, unter denen wir das zulassen, eine Chance haben. Allerdings (…) sind wir dabei fast noch mehr auf das Mitmachen der Menschen angewiesen; denn ohne das Mitmachen der Menschen sind alle unsere Bedingungen oder Maßnahmen natürlich nicht wirksam. Deshalb: Jedes Stück Freiheit, das möglich ist, muss unter den Bedingungen des Virus von jedem einzelnen Menschen verantwortungsbewusst genutzt werden. Wir bitten immer wieder alle, das zu tun; denn wenn es jeder tut, ist es für alle gemeinsam besser.

Wer keine Maske trägt oder den Abstand nicht einhält, ist selbst schuld, wenn er sich selbst oder andere ansteckt. Dabei ist es für die breite Masse der Bevölkerung sehr schwierig, eine eigene richtige Einschätzung der Gefahr durch das Virus und der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der einen oder anderen Maßnahme zu bekommen. Die Verantwortung auf den Einzelnen verlagern heißt also eine Absage an eine umfangreiche gesellschaftliche Planung im Umgang mit einer gefährlichen Pandemie: Jeder handelt nach „bestem Wissen und Gewissen“, ohnmächtig gegenüber den Herrschenden und ihrem Staat. 

Jetzt hört man aus allen Ecken, dass es in Anbetracht der Krise nicht mehr richtig ist, Menschen zu retten, die, wie Boris Palmer es formuliert hat: „in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Zwar wird er für die Brutalität seiner Aussage oberflächlich gescholten, laut vielen Politikern sollen wir uns aber an eine „Neue Normalität“ gewöhnen. Soll heißen: Wir sollen uns auch in Deutschland daran gewöhnen, dass Menschen an Covid-19 sterben. So wie wir uns schon lange daran gewöhnt haben, dass auf dem afrikanischen Kontinent ständig Menschen an Ebola oder Malaria sterben. Menschen, die man zum Großteil hätte retten können in einer Gesellschaft, die nicht der Jagd auf Profite einiger weniger folgt, sondern den Lebensbedürfnissen der breiten Massen.  

So nachvollziehbar es ist, dass viele Menschen ihre unmittelbaren wirtschaftlichen und finanziellen Interessen in ein direktes Verhältnis mit der Möglichkeit setzen, ihrer Lohnarbeit nachgehen zu können – so falsch ist es gleichzeitig. Denn im Kapitalismus gibt es für Arbeiter keine Sicherheit – ob Corona-Pandemie oder nicht, ob Wirtschaftskrise oder Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Arbeiter sind vereinzelt und isoliert vollständig abhängig von den Profitinteressen der Monopolkapitalisten. Wenn die Herrschenden von wirtschaftlichem Niedergang sprechen, dann geht es einzig um die Profite – denn weder die Maschinen noch die Rohstoffe gehen kaputt, wenn die Produktion in nicht lebensnotwendigen Bereichen eine zeitlang für den Gesundheitsschutz von Millionen still steht. Voller Lohnausgleich für die arbeitsfreie Zeit wäre möglich, denn während die Monopole aktuell Massenentlassungen vorbereiten, schütten sie Milliarden in Dividenden an die Aktionäre aus.  

Doch im Kapitalismus herrschen die Aktionäre und Eigentümer und nicht die Arbeiter. Jedes bisschen Verbesserung der Lebenslage muss von uns erkämpft und verteidigt werden. Im Gesundheitsschutz aber auch in der Abwehr der Existenzbedrohung breiter Teile der Bevölkerung durch Erwerbslosigkeit und Lohneinbußen in der jetzigen Krise. Dafür braucht es eine immer weiter um sich greifende Organisierung der Arbeiter, unterstützt durch eine Gegenöffentlichkeit, die die Gedanken der Herrschenden entlarvt. Wir dürfen uns nicht auf die Logik des „kleineren Übels“ einlassen – sondern müssen die Interessen und Bedürfnisse der gesamten Arbeiterklasse und des Volkes verteidigen. Nur so können wir der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse etwas entgegensetzen und eine einheitliche Organisierung vorantreiben. Organisierung und Kampf für die Interessen der Mehrheit sind gleichzeitig die notwendige Voraussetzung für die Erkämpfung des Sozialismus. Nur ihn ihm werden die Interessen der Mehrheit vollständig zur Geltung kommen und Verrohung und kapitalistische Barbarei begraben werden können. 

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