Die Wiederholung einer Debatte? – Oder: Was heißt eigentlich Klärung?

von Edgar Kunze

Inhalt

Einleitung

Imperialismusdebatte in der DKP 2014/15

Entwicklung der Standpunkte in der Kommunistischen Organisation

Die Aufgabe zur Klärung liegt vor uns – nicht hinter uns

Einleitung

In unserer Diskussion ist der Eindruck entstanden, dass wir angesichts des Krieges in der Ukraine eine Debatte wiederholen, die wir bereits geklärt und doch mit dem Verlassen der DKP längst hinter uns gelassen hätten. In den programmatischen Thesen käme genau das zum Ausdruck, wenn wir Positionen kritisieren, die manchen kapitalistischen Ländern eine objektiv antiimperialistische oder prinzipiell friedensfördernde Rolle zusprechen.

Ich möchte in diesem Beitrag versuchen den Verlauf unserer Debatte, d.h. die Basis, auf der wir uns auf die programmatischen Thesen geeinigt haben zu reflektieren. Es besteht in unserer Debatte eine Gefahr die politische Krise der Bewegung und die Notwendigkeit zur Klärung zu einfach, d.h. unzureichend zu erfassen. Ein Problem, das seine Ursachen bereits im Austrittsprozess aus der DKP hat. Anders formuliert: Mit unserer ganzen Entwicklung mussten (und müssen) wir uns ein immer besseres Verständnis der Krise der Bewegung und dem, was Klärungsprozess bedeutet, aneignen, und dabei Einseitigkeiten und Vereinfachungen überwinden. 

Zu Beginn möchte ich Ausschnitte aus der Diskussion von 2014 zur Lage in der Ukraine und zur Einschätzung Russlands anführen, die in unserer Strömung geführt wurde. Auf dieser Grundlage möchte ich die Vorstellung der Klärung und die Positionen zum Imperialismus, die wir nach und nach entwickelt haben diskutieren.

Imperialismusdebatte in der DKP 2014/15

Vor dem Hintergrund des von der NATO unterstützten Putsches in der Ukraine entbrannte innerhalb der kommunistischen Bewegung eine kontroverse Diskussion zur Einschätzung Russlands, der Lage in der Ukraine, zum Verständnis des Imperialismus allgemein und der Rolle des deutschen Imperialismus konkret, der Konsequenzen für die Arbeiterbewegung usw.
Ich habe Aussagen von Autoren aus der Theorie & Praxis (T&P) Nr. 36 und 37, erschienen zwischen Juni bis September 2014, den Marxistischen Blättern (MB) (1-2015) und der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) Nr. 234 vom Dezember 2014 (Die KAZ ist natürlich nicht Teil der DKP, die hier aufgegriffene Position sicherlich schon) ausgewählt. Ich habe dabei zum Teil etwas längere Ausschnitte ausgewählt, um einen genaueren Einblick in die damals geführten Diskussionen zu ermöglichen. Mein Eindruck ist, dass wir es uns in der KO zum Teil zu leicht machen und ungenau sind mit der Kritik insbesondere an der DKP, aber auch an der Bewegung insgesamt. Dabei droht die Gefahr eine Diskussion entlang von Signalwörtern (In den Beiträgen werden sie uns auch begegnen: Multipolarität, aggressive Außenpolitik, objektiver Antiimperialismus, Ausnutzen zwischenimperialistische Widersprüche, etc.) und letztlich gegen Strohmänner zu führen, die den Kern der vorgebrachten Standpunkte nicht trifft.

Die Auswahl der Zitate und Texte bleibt notwendig beschränkt selektiv. Für einen kurzen Einblick und Eindruck von der Art der Debatte, und zentralen Thesen sollen sie genügen. Es bleibt eine zu leistende Aufgabe, umfassender die Entwicklung der Diskussion in der Bewegung, insbesondere auch in der DKP, zu erfassen. Es war sehr spannend einige der Beiträge (teilweise nochmals) zu lesen, mitunter hätten sie ohne Änderungen auch gegenwärtig veröffentlicht werden können. Ob die Autoren angesichts des russischen Militäreinsatzes ihre Positionen weiterhin vertreten? Ich versuche die einzelnen Zitate jeweils kurz zu kommentieren, um besonders spannende Aspekte hervorzuheben, abschließend versuche ich die Diskussion etwas grundsätzlicher einzuschätzen.

Renate Münder: „Hände Weg von der Ukraine!“ (T&P, 36)[1] 

„Der Faschismus kehrt nach Europa zurück – nein, es ist nicht das erste Mal, dass in einem europäischen Land Faschisten an der Regierung beteiligt sind. Aber die neue Regierung der Ukraine, durch einen Putsch an die Macht gekommen, offenbart frech ihre terroristische Natur, jagt Juden, Antifaschisten und Kommunisten, verfolgt, verbrennt sie, schlägt sie tot, sich stolz ihrer Massaker rühmend. Dass diese Handlanger der Oligarchen und der Imperialisten die Regierung übernehmen konnten, daran ist entscheidend der deutsche Imperialismus beteiligt. Ohne die von Deutschland geführte EU könnte der „neoliberale-faschistische Block“, so die ukrainische Organisation Union Borotba, die Ukraine nicht ins Verderben stürzen. Allerdings ist es nicht – wie geplant – ihr Mann, der an der Spitze steht, sondern der des US-Imperialismus. […]

Die deutsche Linke ist nicht in der Lage, die Politik der Herrschenden zu entlarven, die Medienhetze zu durchbrechen und die Arbeiter- und demokratische Bewegung in ausreichendem Maße zu mobilisieren. Die Ursachen sind eine erschreckende Unkenntnis der Verhältnisse, die zur Verharmlosung und sogar Verherrlichung der ukrainischen Faschisten geführt hat, und vor allem fehlende Klarheit über Russland. Verantwortlich seien alle Imperialisten – auch Russland werden imperialistische Interessen unterstellt.

Auch innerhalb der DKP gibt es Widersprüche, wie der Genosse Hans Günter Szalkiewicz in einem Brief vom 25. Mai 2014 […] darstellt. Er fordert zur Diskussion über die Konfliktsituation in der Ukraine und ihre Verursacher auf. […] Die entscheidende Feststellung darin ist, dass Russland nicht der Aggressor ist und auch keine Teilverantwortung für die Situation trägt. Eine Gleichsetzung Russlands mit den imperialistischen Hegemonialmächten wird scharf zurückgewiesen und die Interessengleichheit der Antifaschisten mit Russland in der Ukrainefrage betont. Das muss nicht zu der Schlussfolgerung führen, Russland sei generell eine Friedensmacht.
Der Nachweis, dass Russland kein imperialistisches Land ist, bedarf allerdings einer fundierten Analyse auf der Grundlage der Leninschen Imperialismustheorie und wird einige Arbeit erfordern.“


Erstens fordert Münder richtigerweise ein, Klarheit über den Charakter Russlands zu gewinnen und betont, dass es dazu einer umfassenden Diskussion und Analyse bedarf. Etwas, das organisiert und kollektiv nicht eingelöst wurde. Zweitens ist für uns interessant, dass Münder hier bereits eine Abgrenzung vornimmt, indem sie sagt, dass eine Interessengleichheit in einer Frage nicht bedeute, dass Russland generell zur Friedensmacht werde.

Hans-Günter Szalkiewicz: „Analyse der Kommunisten gefragt“ (T&P, 36)[2]

„Putin hat seit 1999 im Grunde genommen nichts weiter getan, als dem nationalen Verrat und dem völligen nationalen Ausverkauf ein Ende zu setzen und den Interessen des Landes Schritt für Schritt zu entsprechen. Er hat Russland aus der politischen, ökonomischen und sozialen Zersetzung herausgeholt. Er hat die katastrophalen Folgen des Versagens der „KPdSU-Patrioten“ aufgefangen und in einer patriotischen Anstrengung die Kolonialisierung des Landes verhindert. Anzunehmen, dass das Russland unter Jelzin eine neue, selbstständige imperialistische Macht geworden wäre, ist geradezu irreal. […]
Das Problem beginnt damit, dass Lenin mit seiner Imperialismus-Analyse nicht ernst genommen wird. Die fünf Merkmale haben wir gelernt, heute wird gesagt – sieht das alles etwas anders aus als im Jahre 1916, der Begriff des Finanzkapitals wird verflacht und entstellt, u. a. durch die Version von der dominierenden Rolle der Finanzmärkte usw. […] Offensichtlich ist die Einsicht abhanden gekommen, dass es sich beim Imperialismus um ein ökonomisch und politisch definiertes Herrschaftssystem handelt. 
[Hervorhebung im Original] Elemente dieses Systems – in Stichworten und sehr eng bei Lenin bleibend – sind die wechselseitige Verflechtung der privaten und staatlichen Monopole, wobei „die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloß einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den größten Monopolisten um die Teilung der Welt sind“ (S. 255), das Finanzkapital als eine so „entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationale Beziehungen, dass es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit genießen (S. 264); eine ungeheurere Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern. (…) Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten.“ (S. 281/282)

Wer glaubt, das heutige Russland in die Reihe der „größten Monopolisten“ einordnen zu können, hat weder den Charakter des Finanzkapitals noch das politische System des Imperialismus begriffen.“

Der in der T&P leider nur gekürzt erschienene Beitrag ist insgesamt lesenswert, vor allem deshalb, weil Szalkiewicz selbst die bereits laufende Debatte in der DKP bespricht. Die Diskussion zur Einschätzung Russlands wird hier nur angedeutet, insbesondere die „patriotische Anstrengung“ Putins gegen die Kolonialisierung wird bei einigen Lesern Alarmsignale aktivieren. Werden hier die Interessen der Arbeiterklasse mit der Konsolidierung der nationalen russischen Bourgeoisie gemein gemacht? Wie verhält sich die Arbeiterbewegung zu den unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen und Konkurrenzbeziehungen der kapitalistischen Länder? Wir sind jedenfalls mittendrin, in der Auseinandersetzung um den Imperialismus und die Frage, wie der Widerstand einer nationalen Bourgeoisie gegen die Unterwerfung imperialistischer Staaten einzuschätzen ist; wie sich die Arbeiterbewegung dazu stellen muss.

Der Bezug auf Lenins Imperialismusverständnis ähnelt in einigen Aspekten, Positionen unserer laufenden Debatte: Die Hervorhebung des Autors, dass es sich beim Imperialismus sowohl um ökonomische als auch politische Merkmale handelt, die Bedeutung des Finanzkapitals und die Bestimmung von einer Gruppe imperialistischer Großmächte, zu denen Russland nicht gehöre.

Klaus Linder: „Ukrainer, Faschismus und Deutsche Osteuropa-Strategie“ (T&P 36)[3] 

„Das alles erscheint erst schlüssig, wenn der ukrainische Faschismus als wesentliches Instrument deutscher Osteuropa-Strategie erkannt wird. […] So mühelos in den 90er Jahren Genscher-Deutschland zur Zerschlagung Jugoslawiens auf die Re-Mobilisierung kroatischer Ustascha Faschisten zurückgriff, so mühelos kann heute in der Ukraine das Auswärtige Amt an die Kollaboration der Bandera Faschisten anknüpfen; und zwar sowohl über ihren parlamentarischen als auch über ihren militärischen Arm.
[…]
Die Propagandakampagne zu diesem Zweck arbeitet mit dreierlei: 1. Umetikettierung des ukrainischen Faschismus als „pro-europäischer Nationalismus“, 2. Leugnung seines antisemitischen Charakters, 3. Präsentation des organisierten Faschismus als Willensbekundung einer „Zivilgesellschaft“.
[…]
Es steht in der Ukraine kein verfassungsmäßig legitimierter „Staat“ mehr der „Zivilgesellschaft“ gegenüber, sondern eine von Bündnissen konkurrierender Imperialismen an die Macht gehievte, brüchige und provisorische Putschistenriege. Staat und Zivilgesellschaft wurden aus den Angeln gehoben. Als Gegenpol einer fiktiven „Zivilgesellschaft im Protest“ bleibt der Propaganda folglich nur ein exterritorialer Staat als Zielscheibe: der Moskauer. So begrenzt dessen faktische Macht auch ist: Es geht bei der Pseudo-Entgegensetzung von „Ukrainischer Zivilgesellschaft“ und „Moskauer Staat“ um etwas anderes als das empirische Russland von heute. Es geht um die Mobilisierung gegen einen fiktiven Staat schlechthin, den „Sowjetstaat“. Der ist politisch und geographisch Historie. Aber bei aller Irrealität kommt hier ein innerstes Anliegen des deutschen Imperialismus zum Vorschein: Der weltgeschichtliche Sieg der Sowjetunion, des Sowjetvolkes und der Roten Armee über den Faschismus soll in der Ukraine widerrufen werden, und zwar gerade hier. Über die Ukraine soll das Ziel der Konterrevolution verwirklicht werden, mit dem Oktober 1917 auch den 8. Mai 1945, mit der Oktoberrevolution auch den Sieg über den Faschismus rückgängig zu machen.“
Linder hebt zunächst die historische Kontinuität der Bedeutung der Faschisten für die Strategie des deutschen Imperialismus hervor. Neben der sich gerade vollziehenden Zuspitzung der Rehabilitierung des Faschismus ist es allemal ein interessanter Punkt, dem man nachgehen sollte. Es wäre genauer zu untersuchen, wie die historisch gewachsene Strategie des deutschen Imperialismus immer wieder aufs Neue bestimmte politische Partner zur Durchsetzung seiner ökonomischen Interessen braucht und hervorbringt.

So wie ich den zweiten Zitatteil lese, überhöht Linder die historische Bezugslinie des deutschen Imperialismus mit den ukrainischen Bandera-Faschisten allerdings soweit, dass es Deutschland auch heute (bzw. 2014) wesentlich um die Revidierung der Oktoberrevolution und des Siegs der roten Armee gehe. Auch wenn der Antikommunismus zu den Grundlinien deutscher Politik zählt, ist der Geschichtsrevisionismus in der Frage der Ukraine kein Hauptanliegen, sondern notwendiges und gern ergriffenes Beiwerk der deutschen Politik. Eine vermeintliche oder tatsächliche Gleichsetzung Russlands mit der Sowjetunion kann ich aber auch in der Position Linders nicht erkennen.

Björn Schmidt: „Distanzierung überwinden!“ (T&P 37)[4]

„Russlands Politik ist von einer geostrategischen Defensive geprägt. Seine wirtschaftliche Einflusssphäre ist vor allem eine Pufferzone gegen die Aggressionen von NATO und EU. Angesichts dieser Kräfteverhältnisse von einer zwischenimperialistischen Rivalität zu sprechen, die eine ernsthafte Herausforderung des Westens durch Russland suggeriert, verkennt das derzeitige internationale Kräfteverhältnis. 
[…] Auch heute spricht einiges dafür, dass die historisch nie dauerhaft geglückte Unterwerfung Russlands erneut angegangen werden soll. 
[…]
Neben der erdrückenden Übermacht des Westens kommt zur Beurteilung der russischen Rolle die Situation in der Ukraine selbst. Dort findet eine Transformation hin zu einem faschistischen Regime statt. Es ist eine Situation entstanden, in der die mit Russland verbündeten Milizen gegen den Faschismus und für bürgerlich demokratische Freiheiten kämpfen, während die mit der NATO/EU verbündeten Banden und die ukrainische Armee den Übergang zu einem faschistischen Herrschaftssystem repräsentieren. 

In dieser Situation gefährden Aufrufe an die ukrainische Bevölkerung, sich nicht mit einer kapitalistischen Macht zu verbünden, den antifaschistischen Kampf. Hier zeigt sich, dass die grundsätzlich richtige Strategie, die Arbeiterbewegung auf Autonomie und Überwindung des Kapitalismus zu orientieren, nicht in die falsche Taktik münden darf, die unterschiedlichen Kampfbedingungen unter einer demokratisch-liberalen und unter einer faschistischen Herrschaft zu ignorieren. Es ist eben kein „No-go“, in bestimmten historischen Situationen mit kapitalistischen Staaten zu kooperieren, wenn ein klarer Blick über die jeweiligen Interessen bewahrt wird und das zu erreichende kurzfristige Ziel den Bevölkerungsinteressen und dem strategischen Ziel – dem Sozialismus – dient.

In der Bevölkerung muss verbreitet werden: Russland ist in dieser Situation nicht der Aggressor, sondern wird umgekehrt von der NATO/EU bedrängt.“

Interessant ist die von Schmidt sehr klar getroffene Einschätzung, dass die ukrainische Arbeiterklasse einen antifaschistischen Kampf führen muss und insofern notwendigerweise ein taktisches Bündnis mit allen Kräften, die gegen die ukrainischen Faschisten kämpfen (d.h. unter anderem mit Russland), eingehen muss. Neben der generellen Einschätzung der Rolle Russlands gegenüber den westlichen Imperialisten, wird der Blick auf die konkreten Kampfbedingungen der ukrainischen Arbeiterklasse gerichtet. 

Relevant für die Debatte auch heute ist zudem die Diskussion um das Verhältnis von Strategie und Taktik. Hierauf gehe ich später noch ein.  

Kerem, SDAJ: „Analyse braucht Fakten“ (T&P 37)[5]

„Die Fakten zeigen: Russland ist eine imperialistische Macht mit eigener Einflusssphäre, vor allem in der „GUS“. Es hinkt einerseits den anderen imperialistischen Hauptmächten hinterher, entwickelt sich andererseits aber schnell und baut seine ökonomische Stärke relativ gesehen weiter aus. Gerade deshalb wird es über kurz oder lang auch politisch entschieden auf seine Interessen pochen müssen. 

Mit Blick auf die Ukraine sollten wir klar vor Augen haben, dass Russland zwar nicht der Aggressor ist, aber auch nicht aus friedliebenden oder antifaschistischen Motiven handelt, sondern aus eigenen imperialistischen Interessen. Dass es aktuell im Kampf gegen die faschistische Gefahr in der Ukraine möglich sein mag, die zwischenimperialistischen Widersprüche zum eigenen Vorteil auszunutzen, ist der konkreten taktischen Situation geschuldet und birgt keine grundsätzliche und langfristige strategische Option für den antiimperialistischen Kampf.“

Russland wird hier eindeutig als imperialistisches Land eingeschätzt. Interessanterweise eine Position, die auch heute noch von der SDAJ so klar bezogen wird.[6] Im Text selbst argumentiert Kerem seine Schlussfolgerungen mit Blick auf einige russische Monopole und Banken, sowie die ausländischen Direktinvestitionen Russlands (Kapitalexport) und dem Ausbau der russischen Einflusssphäre mittels der Eurasischen Union und der Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags (OVKS). 

Im Schnelldurchlauf diskutiert Kerem also die fünf Merkmale des Imperialismus, die er Lenin entnimmt, entlang der russischen Verhältnisse. Insbesondere die von ihm anerkannte Unterschiedlichkeit zu den anderen imperialistischen Ländern wird allerdings letztlich nicht untersucht und in ihrer Bedeutung nicht eingeschätzt. 

Ansonsten ist interessant, dass sich explizit und offensiv von Vorstellungen abgegrenzt wird, die Russland unabhängig von der besonderen Lage eine fortschrittliche Rolle beimessen, wenngleich unklar bleibt, gegen wen sich konkret abgegrenzt wird. Von wem und wie diese Position also vertreten werden.

AG Ukraine (Corell, Karlchen, Lobo, O’Nest): „‘Äquidistanz’ zu Russland heißt Unterstützung des eigenen Imperialismus“ (KAZ Nr. 349, Dezember 2014)[7]

„Man stellt fest, es gibt Monopole in Russland, es gibt Kapitalexport aus Russland, es gibt dort auch die Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zum Finanzkapital, da die großen Industriekonglomerate auch gleich noch selbst Banken haben; man stellt schablonenhaft fest, dass die russischen Konglomerate und Russland selbst in die Neuaufteilung der Welt eingreifen. Und resümiert dann schließlich, dass wir doch nicht den einen Imperialisten, auch wenn er schwächer wäre, gegen den anderen verteidigen. […] Generell heißt Widersprüche zwischen Imperialisten ausnutzen in konkreten Fällen üblicherweise, den einen Imperialisten gegen den anderen zu unterstützen, mindestens den einen Imperialisten weniger unter Feuer zu nehmen als den anderen. Deswegen ist schließlich auch die Festlegung eines Hauptfeinds in einer gegebenen historischen Situation von einiger Bedeutung. […]

Die Vertreter dieser Linie vergessen, dass der alte Imperialismus, der sich auf eigener kapitalistischer Grundlage entwickelt hat, grundverschieden ist von einem Kapitalismus, der auf den Trümmern des Sozialismus errichtet wird. […]

Nach dem Sieg der Konterrevolution und in der Etappe der Aufteilung der Beute unter den Imperialisten und der neuen Bourgeoisie – in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – wurden diese Kräfte zum Teil Kompradorenbourgeoisie und zum Teil nationale Bourgeoisie. Diese Teilung wird gerade durch den Begriff „Oli­garchen” verdeckt. […] Der Imperialismus, der Gorbatschow und Jelzin unterstützte, hatte für das wieder kapitalistisch werdende Russland nicht die Rolle einer neuen Großmacht vorgesehen, das hätte geheißen, einen neuen imperialistischen Konkurrenten heranzuziehen. Sie hatten Russland die Rolle einer Halbkolonie zugedacht, die permanent destabilisiert, den freien Zugriff auf die Rohstoffe und Märkte dieses Landes durch die westlichen Monopole ermöglicht hätte. […]

Die Regierung Russlands unter Vladimir Putin handelte hier – angesichts des durch den Zerfall der UdSSR zu Ungunsten Russlands veränderten internationalen Kräfteverhältnisses – im Interesse der russischen nationalen Bourgeoisie, aber auch im nationalen Interesse Russlands gegen den Imperialismus und damit auch im Interesse der internationalen Arbeiterklasse. […] Russland handelte hier, wie es früher Entwicklungsländer getan haben, um die Herrschaft über ihre Ressourcen zu gewinnen. Man mag das ökonomisch als Staatskapitalismus bezeichnen, faktisch ist es nichts anderes als der Versuch, die politische Souveränität Russlands ökonomisch zu untermauern und zu verhindern, dass Russland weiter in die Stellung einer Halbkolonie herabsinkt. […]

Und Russland handelt auch in unserem Interesse, wenn es dem aggressiven Vormarsch des Imperialismus an seine Grenzen entgegentritt und die Kiewer Putschisten und Faschisten bekämpft. Aber man vergesse nicht, dass auch die nationale Bourgeoisie eben Bourgeoisie ist und letztlich für Profit und nicht für nationale Interessen und schon gar nicht für proletarischen Internationalismus steht. Und man vergesse nicht, dass sich Putin klar gegen die Kommunisten in Vergangenheit und Gegenwart positioniert hat. Im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt aber steht er gegen den Imperialismus, und solange er das tut, verdient er jegliche Unterstützung.“

Im ersten Abschnitt wird meines Erachtens berechtigterweise eine verkürzte Methode zur Imperialismusanalyse kritisiert, wie sie beispielsweise Kerem im zuvor zitierten Beitrag praktiziert.

Der Beitrag von Corell, Karlchen, Lobo und O’Nest ist insgesamt sehr lesenswert. Entlang der Beschreibung über die Formierung der Kompradorenbourgeoisie wird die Entwicklung des kapitalistischen Russlands in den 90er Jahren beschrieben. Erst auf dieser Grundlage ergebe sich ein Verständnis der Konfrontation zwischen NATO und Russland heute. Die Politik Putins wird verstanden als Versuch dem Herabdrücken auf den Status einer Halbkolonie zu begegnen, ohne dabei den antikommunistisch-kapitalistischen Charakter dieser Politik zu vergessen. 

Daniel Bratanovic und Sebastian Carlens: „Der Ukraine-Konflikt als Epochenzäsur“(T&P 37)[8]

„In der gegenwärtigen Phase besteht in der Frage des Antifaschismus für uns Interessengleichheit mit dem Vorgehen Russlands und dem der ukrainischen Antifaschisten. Russland ist das Land, das angegriffen wird, das dürfen Antimilitaristen und Antiimperialisten hierzulande nicht vergessen.

Das Russland Putins ist kapitalistisch, es ist ein verhinderter Imperialismus in einer Defensivposition, das sich – aus der Situation der Umzingelung heraus – außenpolitisch oftmals objektiv antiimperialistisch verhält, dennoch aber eigene politökonomische Interessen verfolgt. Trotz nicht unerheblicher Diversifizierungsbemühungen in den letzten Jahren konzentriert sich die russische Wirtschaft noch immer auf die Ausbeutung primärer Rohstoffe, vornehmlich im Energiebereich. Diese Rentenökonomie ist mit der Staatsmacht weitgehend verschmolzen. Der Anteil am Welthandel ist vergleichsweise gering. Gleichwohl: Als kapitalistischer Staat betreibt Russland kapitalistische Außenpolitik und versucht, seine Einflusssphären zu sichern. Es benötigt an seinen Grenzen Staaten, die dem eigenen Anspruch auf Teilhabe am Weltmarkt nicht im Wege stehen.

[…]

Es ist die Übereinstimmung der beiden maßgeblichen imperialistischen Blöcke – der USA und ihrer Vasallen und der von der BRD dominierten EU – in dieser einen Frage: Ein Wiederaufstieg Russlands in den elitären Zirkel der Großmächte ist nicht gewünscht, denn jeder Konkurrent kann nur zu Lasten der bereits etablierten Mächte aufsteigen. Russland soll nicht am Weltmarkt teilnehmen, es soll ganz zerlegt werden.“

Im Versuch die Lage theoretisch zu fassen, bilden und verwenden Bratanovic und Carlens hier große Begriffe („Epochenzäsur“, „verhinderter Imperialismus in Defensivposition“, „objektiver Antiimperialismus“). Meinem Eindruck nach tragen diese nicht zur Klarheit über die Lage bei, sondern überladen die Diskussion mit zum Teil missverständlichen und unklaren Begriffen. Insbesondere die Bezeichnung des „objektiven Antiimperialismus“ ruft bis heute, berechtigterweise, viele Fragezeichen hervor. Geht es dabei um eine längerfristige Charakterisierung der Rolle eines Landes, oder um konkrete Einzelfälle? Inwieweit kann ein kapitalistisches Land, wenn auch nur objektiv und nicht subjektiv, gegen den Imperialismus gerichtet sein, und nicht wenn dann nur gegen die Vorherrschaft einzelner imperialistischer Länder? Daran anknüpfend: Kann sich ein antiimperialistischer Charakter im Handeln eines kapitalistischen Landes verwirklichen, ohne dass es vom Standpunkt der internationalen Arbeiterbewegung integriert wird in die Strategie des weltweiten Klassenkampfes?

Willi Gerns – „Das Putinsche Russland – Machtverhältnisse und Politik“ (MB – 01-2015; S. 67-77)

„Fazit: Das Russland Putins ist ein kapitalistisches Land in dem die ökonomischen Grundlagen des Monopolkapitalismus/Imperialismus mit gewissen Besonderheiten durchaus weitgehend gegeben sind. […]

Die wichtigste Besonderheit des russischen Kapitalismus liegt dabei darin, dass dieser durch seine Integration in das von den USA, der EU unter Führung des deutschen Imperialismus und Japan beherrschte System der kapitalistischen Weltwirtschaft in diesem System nur eine zweitrangige Rolle spielt. Seine Hauptfunktion besteht darin, Rohstofflieferant für ökonomisch höher entwickelte, imperialistische Länder und Markt für deren technisch fortgeschrittene oder konkurrenzfähigere Produkte zu sein. […] Der Platz des heutigen Russlands im System der kapitalistischen Weltwirtschaft findet seinen Ausdruck auch in der Verwundbarkeit des Landes durch die von den USA und der EU verhängten Sanktionen. […]

Sein Einfluss in der Welt beruht heute auf seinem Status als Atommacht und Vetomacht in der UNO, auf seinen Naturreichtümern, insbesondere den Vorräten an Energieträgern, und darauf, dass sein Eintreten für eine multilaterale Weltordnung in China, den übrigen BRICS-Staaten, in der Schanghai-Kooperationsorganisation sowie in weiteren regionalen Organisationen und Staaten eine zunehmende Unterstützung erfährt. Nach alledem lässt sich aus meiner Sicht die in der Zwischenüberschrift gestellten Frage ob Russland ein imperialistisches Land ist, trotz des Vorhandenseins wesentlicher ökonomischer Merkmale dieses Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht mit einem uneingeschränkten „JA“ beantworten. […]

Schließlich gehört zu den marxistisch-leninistischen Charakteristika des Imperialismus auch die auf seine ökonomischen Merkmale gründende Politik imperialistischer Staaten, insbesondere deren aggressive, mit Hilfe von imperialistischen Kriegen auf die Neuaufteilung der Einflusssphären in der Welt gerichtete Außenpolitik. In dieser Hinsicht bestehen allerdings wesentliche Unterschiede zwischen dem Putinschen Russland und den klassischen imperialistischen Mächten. […] Im Unterschied zu den USA mit ihrem NATO-Gefolge sind auf diesem Feld zumindest heute und in der nächsten Zukunft keine russischen Ambitionen auf die Weltherrschaft zu erwarten. Dafür wären auch die Kräfteverhältnisse nicht gegeben. Hier strebt das Russland Putins danach, dem Weltherrschaftsanspruch des US-Imperialismus und seiner Verbündeten eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen.“

Versteht Gerns dann also Imperialismus als aggressive Außenpolitik? Ich denke, dass klar wird, dass eine solche Bewertung eine völlige Vereinfachung, ja Verdrehung der Position von Gerns wäre. Er macht klar, dass sich die Politik auf Grundlage der Ökonomie entwickelt, sie fortsetzt, insbesondere eben in der Außenpolitik mit dem Ziel der Neuaufteilung der Einflusssphären. Interessant ist, dass Gerns die Gesamtheit der Verhältnisse Russlands in den Blick nimmt, ebenso wie es Szalkiewicz einfordert, die ökonomischen und politischen Aspekte im Zusammenhang betrachtet, wobei die Analyse letztlich unzureichend bleibt. Die Qualität der russischen Monopole müsste im Verhältnis zu den Monopolen westlicher Imperialisten untersucht werden. Die internationale Verflechtung des russischen Finanzkapitals, seine Potenz Arbeit in aller Welt kommandieren zu können, müsste im Verhältnis zu denen US-Amerikanischer, deutscher und weiterer Monopole diskutiert werden. Eine solche Auseinandersetzung könnte den Zusammenhang zwischen russischer (Außen-)Politik und der ökonomischen Potenz Russlands herstellen. 

Beate Landefeld – „Im Übergang zur Multipolarität“ (Marxistische Blätter 01-2015, S.19-29)

„Während Multipolarität in wirtschaftlicher Hinsicht heute durchaus existiert, herrscht auf militärischem Gebiet die nach wie vor erdrückende, unangefochtene Dominanz der USA.  […] Dass sie diese Stärke ausspielen, auch in Kompensation des schleichenden Niedergangs auf anderen Feldern, ist typisch für einen absteigenden Hegemon: Er ersetzt Führung zunehmend durch Zwang. Dies macht den langen Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität oder zu einer irgendwann entstehenden, neuen Hegemonie zu einer Periode großer Gefahren. […]

Die US-Strategie zielt darauf, potentielle Rivalen einzudämmen. Daher liegt das Hauptaugenmehr der NATO-Führung auf der Osterweiterung und der militärischen Einkreisung Chinas. […]

Ab 1998 durfte Russland am Tisch der G7 Platz nehmen, doch nur solange es sich in die ihm zugedachte Rolle des Rohstofflieferanten und Absatzmarkts für die Exporte der alten imperialistischen Mächte fügte. Putins Stopp des Ausverkaufs der Ressourcen des Landes führte zur Abkühlung. Als nun mit dem Krim-Referendum das Vorrücken der NATO auf ein deutliches Stoppschild stieß, wurde Putin aus der G7 verbannt. […]

In einer multipolaren Welt wird es voraussichtlich Verflechtungscluster um mehrere Zentren herum geben. Unterschiedliche, auch konkurrierende, regionale und kontinentale Integrationsprojekte existieren in Teilen der Welt jetzt schon, darunter fortschrittliche, wie in Lateinamerika. […] Das Gewicht der BRICS erleichtert Ländern mit sozialistischer Orientierung und Projekten wie ALBA, die Folgen kolonialer Abhängigkeit zu überwinden. […]
Die Länder, die sich heute gegen die Einmischung des Imperialismus in ihre inneren Angelegenheiten zur Wehr setzen, sind extrem unterschiedlich. Sie reichen vom reaktionären Regime des Iran, über ein Russland in Oligarchenhand bis zum sozialistischen Kuba. Die Durchsetzung zwischenstaatlicher Beziehungen der Kooperation anstelle von Beherrschung, Unterordnung und Konfrontation liegt jedoch im ureigenen Interesse aller Lohnabhängigen.“

Landefeld versucht die ganz allgemeine Entwicklungsrichtung im Imperialismus zu fassen, als langsame Ablösung der Unipolarität zur Multipolarität. Aus dieser weltbestimmenden Entwicklungstendenz ergebe sich eine zunehmende Kriegsgefahr und gleichzeitig sieht sie Potentiale für fortschrittliche Bewegungen. Interessant ist ihre These, dass es die Multipolarität in wirtschaftlicher Hinsicht zwar bereits gebe, der Prozess der Ablösung der Unipolarität damit aber nicht abgeschlossen sei. Es kommt demnach auf die Gesamtheit der Bewertung der verschiedenen Faktoren zur Hegemonie an.

Auffällig ist die Bezeichnung der „Länder mit sozialistischer Orientierung“. Wer ist hier gemeint? Kuba, die Demokratische Volksrepublik Korea? Glimmen hier die letzten Funken der Hoffnung über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika? Unabhängig davon eröffnet Landefeld aber eine spannende Diskussion um die Frage des Antiimperialismus. Welche Bedeutung hat die Abwehr und Zurückdrängung imperialistischer Abhängigkeit? Wie können diese Kämpfe mit dem Kampf um den Sozialismus verbunden werden? Ist das alles eine überholte Diskussion der antikolonialen Bewegungen, oder kann es unter den Bedingungen neokolonialer Abhängigkeiten noch bedeutsam für die Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung sein?

Was zeigt die Diskussion?

In der Diskussion werden viele wichtige und komplizierte Fragen aufgemacht:

  • Es wird darum diskutiert wie wir an eine Imperialismusanalyse herangehen können und welche Kriterien letztlich entscheidend dafür sind um ein Land als imperialistisch zu bezeichnen. Diskutiert wird das Verhältnis von Ökonomie und Politik, das richtige Verständnis Lenins usw.
  • Es wird konkret darum gerungen, die Situation in der Ukraine einzuschätzen, welche Rolle die Faschisten haben, welche vorrangige Aufgabe sich der ukrainischen Arbeiterklasse stellt. Damit zusammen hängt die Frage nach der Bedeutung von Faschismus und Antifaschismus allgemein für die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse.
  • Es wird konkret über die Rolle Russlands in der Welt diskutiert und die Bedeutung der besonderen Genese des russischen Kapitalismus auf Grundlage der Konterrevolution. Dabei wird darüber gestritten, ob Russland ein imperialistisches Land ist, wie die russische Bourgeoisie und ihr Konkurrenzverhältnis zu den Kapitalisten der westlichen Imperialisten einzuschätzen ist.
  • Es wird diskutiert über die tendenzielle Entwicklung hin zur Multipolarität und die Bedeutung dieser Entwicklung für die Arbeiterklasse. 

Was ich aus den oben zitierten Beiträgen nicht herauslese sind einfache Behauptungen Russland sei eine prinzipielle Friedensmacht oder, dass „die Erinnerung an die Sowjetunion dazu bei[trägt], eine diffuse Sympathie für Russland zu erhalten“ (Thanasis – Das zwischenimperialistische Kräftemessen und der Angriff Russlands auf die Ukraine). 

Aus meiner Sicht verdeutlichen die Beiträge mit Nachdruck, dass wir sehr genau arbeiten müssen und uns nicht an vermeintlichen Strohmännern abarbeiten dürfen. Wenn unsere Kritik ungenau wird, wird sie die Bewegung letztlich auch nicht voranbringen können.

Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Einfallstore für Illusionen in den Imperialismus bzw. eine Abkehr von einem unabhängigen Standpunkt der Arbeiterbewegung in der Debatte gab. Ein wesentliches Problem ist offensichtlich, dass die zusammengefassten Fragen und Diskussionskomplexe auch heute noch in der DKP (ebenso wie bei uns und der Kommunistischen Bewegung insgesamt) bestehen. Das zeigt nicht zuletzt das Referat von Patrik Köbele auf einer Tagung des Parteivorstandes der DKP Anfang April:

„Die Bandbreite der Meinungen in unserer Partei ist groß. Es gibt einige, die bereits ausgetreten sind, weil sie in den Erklärungen des Parteivorstands keine eindeutige und scharfe Verurteilung des ‚Aggressors Putin/Russland‘ sehen. Es ist in Reden und Flugblättern die Rede von dem ‚durch nichts zu rechtfertigenden‘ Angriff Russlands. Es gibt andererseits Genossinnen und Genossen, die in dem Einmarsch des russischen Militärs in der Ukraine einen Akt der Nachvorneverteidigung sehen.“[9]


Das verdeutlicht, dass die Debatte seit 2014 nicht organisiert und strukturiert fortgeführt und zu einem produktiven Ende gebracht wurde. Die Positionen, die von den Beteiligten damals ergriffen wurden, bestehen heute in der Bewegung im Wesentlichen fort. Die Diskussion funktionierte als Schlagabtausch einzelner Autoren, die versucht haben, Einschätzungen und Analysen zu liefern. Als ganzes hat die DKP nicht diskutiert oder auf eine Klärung hingearbeitet. Die Aufgabe, die Renate Münder in ihrem zu Anfang zitierten Beitrag stellt bleibt offen: „Der Nachweis, dass Russland kein imperialistisches Land ist, bedarf allerdings einer fundierten Analyse auf der Grundlage der Leninschen Imperialismustheorie und wird einige Arbeit erfordern.“

Hierin liegt ein Grundproblem, das wesentlich zu der Position geführt hat, dass wir uns unabhängig organisieren müssen, um einen kommunistischen Klärungsprozess zustande zu bringen. So lange die Klärung nicht organisiert angepackt wird, sind die Kommunisten tatsächlich dazu verdammt, die Debatte auf ähnlich gleichbleibenden Niveau zu wiederholen. Konkret heißt das im übrigen, dass wir den Modus unserer Diskussion, wie sie zur Zeit geführt wird, möglichst bald überführen müssen, in eine kollektive Arbeit mit der wir die Kernfragen der Debatte wissenschaftlich bearbeiten.

Entwicklung der Standpunkte in der Kommunistischen Organisation

Kollektive Austrittserklärung aus SDAJ und DKP (November, 2017)

Vor dem Hintergrund auch dieser Auseinandersetzungen schrieben die Genossen, die im Herbst 2017 SDAJ und DKP verlassen haben folgendes zum Thema der Imperialismusfrage in ihre Austrittserklärung:

„Nach einer Lesart, die auch in der SDAJ und DKP vorherrscht, ist der Imperialismus vor allem als politökonomische Dominanz einer relativ kleinen Gruppe westlicher Staaten zu verstehen, die sich den Großteil der restlichen Welt unterwerfen. Afrika, Lateinamerika und viele Länder Asiens, manchmal sogar europäische Länder Osteuropas oder Griechenland und Portugal, sind demnach einfach abhängige Staaten. Dabei beruft man sich auf Lenins Unterscheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen. Vielen Vertretern dieser Deutung gelten die Rivalen der USA und EU, hauptsächlich Russland und China, nicht als imperialistisch. 

1. inwiefern ist es sinnvoll vom Imperialismus als „Eigenschaft“ einiger Führungsmächte zu sprechen, wenn doch gerade seine weltweite Durchsetzung kennzeichnend ist? Gerade weil doch die zunehmende Internationalisierung der Produktionsbeziehungen in alle Ecken der Welt eindringt, sind auch alle kapitalistischen Länder Teil desselben imperialistischen Weltsystems, wenn auch auf der Grundlage extrem ungleicher Entwicklungen und Durchsetzungsmittel. 

2. Kann es fortschrittlich sein, auf dem Boden des Kapitalismus um die wirtschaftliche Unabhängigkeit des eigenen Nationalstaats zu kämpfen, ohne diese Frage mit der revolutionären Überwindung des Kapitalismus zu verbinden? Oder ist das unter den Bedingungen des heutigen Weltmarkts und der Staatenkonkurrenz im imperialistischen Weltsystem sowieso eine Illusion? 

3. Inwiefern sollte es für uns in irgendeiner Form notwendig und gewinnbringend sein, uns im Sinne der „Ausnutzung innerimperialistischer Widerspruche“ mit Solidarisierungen auf eine Seite zwischenimperialistischer Konflikte zu schlagen? Die genannten Staaten haben zwar einen partiellen Interessengegensatz gegenüber den derzeit führungsstärksten hegemonialen Staaten wie allen voran den USA, aber sie verlassen dabei nicht den Boden der kapitalistischen Weltordnung, den sie beinahe ausnahmslos befürworten. Subjektiv ideologisch verbindet uns in den allermeisten Fällen nichts mit ihnen. 

Diese Zweifel endlich auszuräumen wollen wir uns zur Aufgabe machen!“

Zweifellos treffen die Absätze durchaus Grundlinien der Argumentationen der oben zitierten Diskussionsbeiträge. Der Imperialismus wird darin verstanden als ein System aus Unterdrückenden und Unterdrückten Staaten. Russland und China werden mehrheitlich nicht als imperialistisch bezeichnet. Das Hinterfragen und Kritisieren dieser Punkte bildet den damaligen Diskussionsstand der Genossen ab. 

Entscheidend ist aber: Hier werden zunächst vor allem Fragen formuliert. Eine umfassende Auseinandersetzung und kollektive Diskussion haben zu diesem Zeitpunkt und seitdem bisher nicht stattgefunden. Das Wissen und die Beschäftigung mit der Debatte der kommunistischen Bewegung in Deutschland und International ist unter uns unterschiedlich und allgemein auf nicht ausreichendem Niveau. 

Die programmatischen Thesen

In den programmatischen Thesen, die auf der Gründungsversammlung der KO im Sommer 2018 verabschiedet wurden, legen wir die „[…] politischen Standpunkte dar, von denen ausgehend wir den Klärungs- und Aufbauprozess organisieren.“ Auch daraus will ich kurz zitieren, um den Stand der Debatte klar vor Augen zu haben.

Zur Debatte um den Imperialismus ist dieser Absatz hier zentral:

„Eine der zentralen Spaltungslinien in der kommunistischen Weltbewegung ist die Debatte um die These „objektiv antiimperialistischer“ Staaten. Nach dieser Auffassung spielten bestimmte kapitalistische Staaten eine „objektiv antiimperialistische“ und damit friedensfördernde Rolle. So wird z.B. Russland wegen seiner Interessensdivergenz mit den USA oft eine solche Rolle zugesprochen. Diese These ist jedoch falsch. Sie beruht auf der falschen Vorstellung, der Imperialismus sei die Vorherrschaft einiger, „westlicher“ oder nördlicher“ Staaten wie der USA, Westeuropas und Japans. Wir halten jedoch daran fest, dass der Imperialismus eine gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium ist. Es ist falsch, bestimmten, relativ unterlegenen imperialistischen Polen innerhalb dieses Systems eine prinzipielle Friedensfähigkeit oder fortschrittliche Rolle zuzuschreiben. Die fatale Konsequenz aus solchen Fehleinschätzungen ist, dass die Arbeiterklasse sich unter der Fahne fremder Interessen, nämlich des einen oder anderen imperialistischen Pols sammelt. Der Imperialismus ist ein globales System gesellschaftlicher Beziehungen, das alle kapitalistischen Länder umfasst, nicht nur die USA, Japan und Westeuropa.“

Die Aufgabe zur Klärung liegt vor uns – nicht hinter uns

Die Debatte, die wir jetzt führen, aber auch die nochmalige Auseinandersetzung mit der Diskussion die 2014 in der DKP bereits geführt wurde zeigen für mich, dass die Beschreibungen der Problematik in den programmatischen Thesen noch ungenau sind und den Kern der Auseinandersetzung noch nicht gut treffen. Völlig richtig ist, dass wir klarstellen, dass sich der Kapitalismus und einzelne kapitalistischen Länder niemals grundsätzlich gegen den Imperialismus richten. Die Entwicklung hin zum Imperialismus verlief eben notwendigerweise, d.h. nach der Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus. Eine Rückkehr zum Kapitalismus der freien Konkurrenz ist nicht möglich. Der Monopolkapitalismus ebenso wenig wie der Krieg, der sich in letzter Instanz ebenso notwendig aus der Konkurrenz des Monopolkapitals entwickelt ist nur mit dem Sozialismus aus der Welt zu kriegen. Historischen Fortschritt und prinzipielle Friedensfähigkeit bringt nur die Diktatur des Proletariats. Soweit so klar und allgemein. Knifflig wird’s vor allem beim letzten zitierten Satz und hier liegt denke ich eine entscheidende Diskussion. Wir verstehen den Imperialismus als Entwicklungsepoche des Kapitalismus, die wesentlich durch die Vorherrschaft des Monopolkapitals bestimmt ist. Insofern ist der Imperialismus natürlich weltumspannend. Das Monopolkapital und seine Staaten befindet sich ja in permanentem Konkurrenzkampf um Neuaufteilung. Aber was heißt das nun für die Beurteilung einzelnen Länder? Die Unterschiedlichkeit im Grad der Entwicklung der Länder und ihre ungleichen Abhängigkeitsverhältnisse werden nicht geleugnet, aber tendenziell zugunsten der Gleichheit der kapitalistischen Produktionsweise unterbetont und nicht bestimmt. Wir müssen uns darüber Klarheit verschaffen wie wir die Unterschiedlichkeit und die Abhängigkeitsverhältnisse fassen und welche Bedeutung sie für unseren Kampf haben. Ich meine, dass hier eine Gefahr zur Indifferenz gegenüber der politischen, ökonomischen und militärischen Unterwerfung einzelner Länder liegt, die dann nicht länger in der Lage ist, den Kampf um den Sozialismus mit dem Kampf gegen diese Unterwerfung zu verbinden. In der Konsequenz kann es so etwas wie antiimperialistische Bündnisse nicht geben. Antiimperialismus ist dann einfach dasselbe wie Antikapitalismus. Zum Verständnis antiimperialistischer Bündnisse wäre es gut noch intensiver zu diskutieren, evtl. kann ich mich in einem weiteren Beitrag dazu äußern. Für eine Strategie der internationalen Arbeiterbewegung kommen wir nicht umhin, die verschiedenen Dynamiken und Kämpfe der Klassen und Staaten zu beurteilen, und ihre Potentiale für den epochenbestimmenden revolutionären Bruch vom Kapitalismus zum Sozialismus zu diskutieren. In diesem Zusammenhang müssten wir uns die antiimperialistische Strategie[10] des sozialistischen Lagers nach dem zweiten Weltkrieg genauer ansehen. Ist die mit dem Wegfall direkter kolonialer Unterwerfung und mit der Niederlage des sozialistischen Lagers passé, war sie von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Die Positionierung in unseren Thesen wendet sich im Kern gegen eine Haltung, die sich auf die Seite einzelner kapitalistischer Mächte stellt, also eine Aufgabe eines Standpunktes der Arbeiterklasse bedeutet. Aber wer tut das? Geht es nicht vielmehr darum, ob es in Einzelfragen und bestimmten Situation eine Interessensübereinstimmung geben kann? Ganz ohne also zu leugnen, dass es die Interessen der Bourgeoisie eines Landes sind, die politisch wirksam werden, steht die Frage, ob sie für bestimmte Situationen und Zusammenhänge dem Kampf der Arbeiterklasse zuträglich sein können bzw. von uns in diesem Sinne genutzt werden müssen.

Die Grundfrage, um die meines Erachtens alles kreist ist, wie wir das Verhältnis des Kampfes der Arbeiterbewegung für den Sozialismus zu den Dynamiken und Beziehungen der kapitalistischen Ordnung bestimmen. Wie muss sich der Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung auf die Entwicklungen im Imperialismus beziehen? 

Ich meine, dass die oben zitierten Texte fast alle genau diese Frage zum Ausdruck bringen. Das nicht zu sehen, und in der Kritik zu behaupten, es werde einfach der Klassenstandpunkt des Gegners eingenommen trifft das Problem nicht. Es besteht ein Problem, aber das ist so einfach noch nicht gegriffen. Die Argumentation von Thanasis ist wesentlich davon getragen sich vehement gegen die Gefahr der Aufgabe des unabhängigen Standpunktes der Arbeiterklasse zu wenden. Die Gefahr eben, sich „für die Pläne des einen oder anderen imperialistischen Pols einspannen“ (Thanasis) zu lassen und vom Kampf um den Sozialismus abzurücken. 

Die Gefahr des Verlassens des proletarischen Klassenstandpunktes hat einen wahren Gehalt. Ich meine, dass diese Gefahr die Ausrichtung der DKP als Ganzes durchaus trifft. Der materielle Kern der Kritik liegt in einer Überbetonung und letztendlichen Abkopplung der Taktik vom strategischen Kampf für den Sozialismus. Taktische Überlegungen zum Kampf der Arbeiterklasse sind nicht integriert in einem einheitlichen Kampf für den Sozialismus. Das Ziel des revolutionären Umsturzes ist nicht sichtbar und vorhanden als Teil jedes einzelnen Schrittes dorthin. Kurzum: Eine revolutionäre Strategie für den Sozialismus fehlt. Und so lange sie fehlt, trägt jede taktische Überlegung die Gefahr in sich, letztlich nicht in den Kampf für den Sozialismus zu münden, sondern davon abzukommen. Auch dann, wenn der Sozialismus als Ziel prinzipiell benannt wird.

In Reaktion auf diesen Mangel dürfen wir nicht den reflexartigen Fehler machen nur noch das strategische Ziel zu kennen, und jede taktische Überlegung als Abrücken vom Weg zum Sozialismus oder gleich als Etappismus zu verstehen. Natürlich hat unser Kampf Etappen, entscheidend ist, dass sie alle auf das Ziel des revolutionären Umsturzes gerichtet sind. Unsere Strategie muss in der Lage sein das ganze Material an politischen und ökonomischen Widersprüchen und Bewegungen in sich aufzunehmen und produktiv im Sinne der Arbeiterbewegung zu verarbeiten. Es ist zugleich eine Strategie in Hinblick auf den Klassenkampf im Weltmaßstab, d.h. unter Berücksichtigung der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung. Das Problem der Internationalen Kommunistischen Bewegung liegt genau an diesem Punkt, es mangelt uns an einer weltumspannenden Strategie und Taktik, die sich ganz konkret auf die politische, ökonomische und militärische Lage bezieht.

Sich dahin anzunähern ist Ziel und Zweck des Klärungsprozesses. Die Austrittserklärung und die programmatischen Thesen markieren Standpunkte, keine fundierten Einschätzungen. Sie sind nicht Endpunkt, sondern Start- bzw. Wegpunkte der Klärung, indem sie versuchen die politischen Probleme unserer Bewegung zu greifen. Und dafür sind sie ein sehr tauglicher Zwischenstand. Eine falsche Verabsolutierung, wie sie Hensgen in seinem Beitrag vornimmt, führt uns allerdings ab vom Ziel des Klärungsprozesses. Schärfer formuliert: Wir haben die Thesen geschrieben mit dem Ziel sie zu korrigieren. Nicht weil die Thesen falsch sein müssen, sondern weil wir notwendigerweise noch nicht dazu in der Lage waren (und sind) den Stand der kommunistischen Bewegung in seiner Gesamtheit kritisch zu erfassen. Ich verstehe den Klärungsprozess insofern als ständigen Prozess der Selbstkritik, in dem uns die Relativität und die Einseitigkeiten unserer Standpunkte immer klarer werden.

Hensgen sagt es gehe um den „den Charakter der KO“. Ich plädiere dafür ihn einzulösen und tiefer einzusteigen in die Dissense die vor uns liegen, um den Kern der Auseinandersetzung wirklich umfassend zu verstehen. Die Gründe zur Formierung der „Lager“ sind zu dünn, die Abgrenzung zu ungenau (nicht nur innerhalb der KO, letztlich auch innerhalb der Internationalen Kommunistischen Bewegung). Auf einer solchen Grundlage bedeutet Lagerbildung Abwendung von Klärung. „Die Lager beim Namen nennen“ bedeutet nicht mehr als die Unreife der Position der KO mit scheinklarer Rhetorik zu übertünchen.


[1] https://theoriepraxis.files.wordpress.com/2014/06/tup_36_druck.pdf

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] https://theoriepraxis.files.wordpress.com/2014/10/tup37.pdf

[5] Ebd.

[6] https://www.jungewelt.de/artikel/423449.sozialistischer-jugendverband-viele-ahnen-dass-sie-die-rechnung-zahlen-werden.html?sstr=Andrea%7CHornung

[7] https://www.kaz-online.de/artikel/aequidistanz-zu-russland-heisst-unterstuetzung-des-eigenen-imperialismus

[8] https://theoriepraxis.wordpress.com/2014/10/11/der-ukraine-konflikt-als-epochenzasur-2/

[9] https://www.unsere-zeit.de/frieden-geht-nur-mit-russland-und-china-168025/?fbclid=IwAR2jf8n7Vu-ZAq7lcz6jRKwj3MeQjDQRHQFZ1fuXa_DzbBnvv2P0w6MSyjk

[10] Die Komplexität der zu leistenden Aufgabe wird im kleinen politischen Wörterbuch unter der Definition des „internationalen Kräfteverhältnis“ schon ganz gut beschrieben: „Verhältnis der durch ökonomische, politische, ideologische, militärische, soziale, ideologische, militärische, soziale, historische, demographische u.a. Faktoren bestimmte Potentiale und den sich darauf ergebenden Wirkungsmöglichkeiten und Einflüssen aller Klassen, Staaten und Staatengruppierungen, die in der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus existieren.“ – Eine solche Aufgabe verlangt geradezu nach der internationalen Organisierung der Kommunisten!

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