Zur Politischen Ökonomie des heutigen Imperialismus

Zusammenfassung in Kurzthesen:

  • In den Programmatischen Thesen der KO finden wir (in Grundzügen) eine klare Orientierung zur Analyse des Imperialismus vor. Die darin entwickelte theoretische Konzeption wird nun in einer Reihe von Diskussionsbeiträgen (Klara Bina, Alexander Kiknadze, in geringerem Maße auch Paul Oswald) abgelehnt.
  • Die Behauptung, wonach das imperialistische Weltsystem von einer „unipolaren Weltordnung“ unter Führung der USA geprägt sei, lässt sich durch die verfügbaren Daten nicht bestätigen. Sowohl das ökonomische als auch das militärische Kräfteverhältnis an der Spitze der imperialistischen Weltordnung widerlegen das Bild einer alleinigen Herrschaft der USA.
  • Ebenso wenig lässt sich die Vorstellung bestätigen, wonach das imperialistische Weltsystem nach wie vor durch die uneingeschränkte Herrschaft der „Triade“ aus Nordamerika, Westeuropa und Japan gekennzeichnet sei. Eine neue Konstellation ist vor allem durch den Aufstieg Chinas an die Spitze der imperialistischen Hierarchie entstanden, aber auch durch den Aufstieg anderer Mächte in führende oder gehobene Zwischenpositionen der Hierarchie.
  • Die Sichtweise, wonach nur die am höchsten stehenden Länder der imperialistischen Rangordnung (die „Handvoll Räuber“) überhaupt als „imperialistisch“ betrachtet werden, blendet die imperialistische Rolle von Ländern in höheren Zwischenpositionen des Weltsystems aus. Exemplarisch werden hier Russland und Mexiko in ihrer Stellung im imperialistischen Weltsystem untersucht. Problematisch sind insbesondere Auffassungen aus der Tradition der Dependenztheorie, die dazu tendieren, die Abhängigkeitsbeziehungen im imperialistischen Weltsystem zu verabsolutieren, als einseitig und unveränderlich aufzufassen.
  • Diese Sichtweise stellt zudem einen Bruch mit dem Leninschen Verständnis des Imperialismus als monopolistischem Kapitalismus und damit als einer neuen Qualität der kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnisse dar. Imperialismus wird nach diesem falschen Verständnis nicht mehr primär als ein in den monopolistischen Eigentumsverhältnissen, der Tendenz zum Kapitalexport wurzelndes Herrschaftsverhältnis aufgefasst, sondern einseitig von den (vermeintlichen) Kräfteverhältnissen zwischen den führenden imperialistischen Ländern abgeleitet.
  • Die richtige Analyse des Imperialismus ist im Gegensatz zu diesen falschen Auffassungen diejenige, die das imperialistische Weltsystem als hierarchische Ordnung von gegenseitigen, aber asymmetrischen Abhängigkeiten versteht, als imperialistische Pyramide, in der nicht nur die Spitze, sondern auch die Zwischenpositionen in nach unten hin abnehmendem Maße die Charakteristika der imperialistischen Epoche des Kapitalismus aufweisen und an der Aufteilung der Beute teilhaben. Die Konzeption der „imperialistischen Pyramide“ ist somit – im Gegensatz zu den Auffassungen ihrer Kritiker – keineswegs eine Abweichung von der Imperialismusauffassung Lenins, sondern deren Anwendung auf die heutige Weltlage.

Der Kampf um die richtige Analyse des Imperialismus ist keine akademische, sondern eine hochgradig politische Frage. Die Imperialismusanalyse ist die Analyse der Herrschaftsstruktur des kapitalistischen Systems, in dem wir leben; es ist die Analyse der Interessen und Strategien der Ausbeuter, die wir bekämpfen. Eine wichtigere Frage gibt es nicht.

Die KO hat bereits eine Analyse des Imperialismus diskutiert und beschlossen. Diese findet sich in ihren Programmatischen Thesen. Darin weist die KO ausdrücklich die Vorstellung zurück, „der Imperialismus sei die Vorherrschaft einiger, „westlicher“ oder „nördlicher“ Staaten wie der USA, Westeuropas und Japans. (…) Es ist falsch, bestimmten, relativ unterlegenen imperialistischen Polen innerhalb dieses Systems eine prinzipielle Friedensfähigkeit oder fortschrittliche Rolle zuzuschreiben. Die fatale Konsequenz aus solchen Fehleinschätzungen ist, dass die Arbeiterklasse sich unter der Fahne fremder Interessen, nämlich des einen oder anderen imperialistischen Pols sammelt. Der Imperialismus ist ein globales System gesellschaftlicher Beziehungen, das alle kapitalistischen Länder umfasst, nicht nur die USA, Japan und Westeuropa. Auch andere Staaten, in denen (monopol-)kapitalistische Verhältnisse bestehen, wie etwa China, können keinen antiimperialistischen Charakter annehmen.“. Diese Worte scheinen aus heutiger Sicht prophetischen Charakter zu haben: Sie sind so geschrieben, als hätten sie bestimmte Standpunkte, die nun von Teilen unserer Organisation vertreten werden, vorausgesehen und versucht, sich von ihnen abzugrenzen. Das war natürlich nicht so. Dennoch waren die von uns damals gewählten Formulierungen sehr bewusst gewählt – sie sind das Ergebnis einer bereits in der DKP und SDAJ geführten Diskussion, die letztlich ein maßgeblicher Grund dafür war, weshalb ein Teil der heutigen KO sich damals entschloss, diese Organisationen zu verlassen. Dass nicht allen Beteiligten damals die Tragweite dieser Positionierung klar gewesen ist, mag sein. Dass die KO jedoch einen klaren Standpunkt zu dieser Frage hat, ist eine Tatsache.

Diesen Standpunkt hatte die KO sich nicht im luftleeren Raum erarbeitet, sondern sie konnte von den Ausarbeitungen und Debattenbeiträgen der internationalen kommunistischen Bewegung profitieren. Die Auseinandersetzung mit bestimmten problematischen Auffassungen vom Imperialismus ist also nicht neu und nicht auf Deutschland beschränkt, sie wurde allen voran von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) aufgenommen.

Der imperialistische Krieg in der Ukraine hat nun auch in Deutschland in der kommunistischen Bewegung bestehende Dissense an die Oberfläche und zur Explosion gebracht. Dass dem so ist, mag die „natürliche“ Folge einer welthistorischen Zäsur sein, wie sie der Krieg in der Ukraine darstellt – erfreulich ist das allerdings nicht. Statt dass wir uns nun, gestützt auf eine richtige Analyse, in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen positionieren, müssen wir uns mit uns selbst und mit Grundsatzdebatten beschäftigen. Dass wir dies tun, ist jetzt aber unvermeidlich und somit richtig.

Ein Mangel vieler der bisherigen Beiträge, wobei ich insbesondere diejenigen von Klara Bina[1], Paul Oswald[2] und Alexander Kiknadze[3] meine, liegt darin, dass sie ihre Abgrenzung gegenüber der Imperialismusanalyse der KKE hauptsächlich auf Behauptungen stützen, die sie kaum belegen. Eine Auseinandersetzung mit dem Faktenmaterial findet (noch) sehr wenig statt, beispielsweise werden die für Klara Bina zentralen Thesen der „unipolaren Weltordnung“ und der „Abhängigkeit“ nicht konkret belegt. An sich ist das verständlich, da die Diskussion unter Zeitdruck geführt wird. Problematisch wird es aber, wenn die Argumentation sich in eine Richtung entwickelt, die, wie hier gezeigt werden soll, mit den realen Verhältnissen nicht mehr viel zu tun hat.

Für eine Analyse des heutigen imperialistischen Weltsystems hilft es nur sehr begrenzt weiter, detailliert Lenins Texte auszuwerten, wie es z.B. Paul Oswald tut. Es ist richtig, das von Lenin entwickelte begrifflich-theoretische Instrumentarium anzuwenden, um die Situation der heutigen Welt zu analysieren. Etwas anderes und falsch ist es hingegen, wenn aus Mangel an aktueller Analyse die Antworten allein in Schriften gesucht werden, die über 100 Jahre alt sind. Lenins Werk ist von unschätzbarer Bedeutung für uns, aber es ist keine Sammlung aus Glaubenssätzen. An der Analyse der objektiven Realität kommt man nicht vorbei. Dass Klara und Paul im Prinzip auch diesen Anspruch formulieren, ist ausdrücklich zu begrüßen, auch wenn sie ihn in ihren Beiträgen nicht einlösen. Deshalb soll dieser Beitrag einen Schritt in diese Richtung wagen und einige grundsätzliche Einschätzungen der Konstellation des heutigen Imperialismus geben.

Die Beiträge der Genossen Paul, Klara und Alexander werden ab hier der Einfachheit halber einfach ohne Fußnoten zitiert.

1. Überblick über die Debatte

In der aktuellen Diskussion scheinen drei unterschiedliche Analysen des heutigen Imperialismus miteinander zu konkurrieren.

Das ist erstens die von Klara als „Weltsystemansatz“ bezeichnete Analyse, die von einer abgestuften internationalen Hierarchie der asymmetrischen, aber doch gegenseitigen Abhängigkeiten („imperialistische Pyramide“) ausgeht.

Zweitens eine weiterhin verbreitete Analyse, die man als „Triaden-Theorie“ bezeichnen könnte und die nach wie vor nur Westeuropa, die USA und Japan (die „Triade“) als imperialistische Mächte betrachtet, die die Welt untereinander aufteilen. Zwischenimperialistische Widersprüche entwickelten sich nur zwischen den Mitgliedern der Triade, die Widersprüche zwischen der Triade und dem Rest der Welt wiederum werden als solche zwischen unterdrückenden und unterdrückten Staaten gesehen.

Drittens eine „Superimperialismus“-These, die selbst den westeuropäischen Mächten, Kanada und Japan ihre Eigenständigkeit als imperialistische Akteure abspricht und nur noch die USA als wirklich imperialistische Macht betrachtet.

Die erste Position wird, wie gesagt, von der KO in ihren Programmatischen Thesen vertreten. Dieser Standpunkt wird aber nun durch einen Teil der Organisation infrage gestellt, die zur zweiten (tendenziell Klara) oder dritten Position (tendenziell Alexander) tendieren. Die zweite und dritte Position bauen in ihren Annahmen erkennbar auf der Dependenztheorie auf, die die Beziehungen zwischen „Nord“ und „Süd“ als Beziehungen einseitiger Abhängigkeit charakterisiert. Die erste Position erkennt zwar die starke Asymmetrie der Abhängigkeiten im imperialistischen Weltsystem an, steht aber der Dependenztheorie in ihren verschiedenen Varianten kritisch gegenüber. Warum, wird im Verlauf des Beitrags hoffentlich deutlich werden.

Wie argumentiert nun die Position, die das Imperialismusverständnis der Programmatischen Thesen ebenso wie das der KKE grundsätzlich infrage stellt? Diese Position soll hier kurz wiedergegeben werden. Am ausführlichsten ist sie bei Klara ausgearbeitet.

Klara hat einige „Fragen“ zur Imperialismusanalyse gestellt, die allerdings in Wirklichkeit eher Thesen sind. Klara gibt sehr deutlich zu verstehen, dass sie die Position der KKE und generell der Parteien des leninistischen Pols in der IKB für grundlegend falsch hält – mehr noch, an mehreren Stellen wird der „Weltsystemansatz“ sogar implizit dem Opportunismus zugerechnet (z.B. „… weil der Weltsystemansatz als eine Reaktion auf andere (!) opportunistische Vorstellungen in der Imperialismusfrage auftritt“).

Sie selbst ist der Ansicht, dass die heutige Welt von einer „Handvoll Räuber“ beherrscht werde, womit sie nicht nur eine geringe Anzahl monopolistischer Konzerne sondern auch eine Gruppe weniger führender imperialistischer Staaten meint. Hierbei bezieht sie sich auf entsprechende Formulierungen aus Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Lenin sage „unmissverständlich und das zieht sich wie ein roter Faden durch die Imperialismusschrift, dass es erstens Großmächte gibt, die sich qualitativ vom Rest der Welt unterscheiden, zweitens, dass diese Großmächte die Welt beherrschen, drittens dass der Widerspruch zwischen ihnen darin besteht, wie sie die Beute unter sich aufteilen“.

Wir leben demnach in einer Welt, „wo auf der einen Seite die „Handvoll Räuber“ und auf der anderen Seite „die Beraubten“, auf der einen Seite „die unterdrückenden“, auf der anderen Seite „die Unterdrückten“ stehen. Wenn dieses Bild nicht mehr stimmen soll, dann handelt es sich genau genommen nicht mehr um Imperialismus.“ – weil für Klara gerade das Wesen des Imperialismus darin besteht, dass die Welt scharf in unterdrückende und unterdrückte Länder und Nationen aufgeteilt wird.

Dass die KKE von gegenseitigen statt einseitigen Abhängigkeiten spricht, widerspricht für Klara nicht nur „sehr grundsätzlich den Vorstellungen Lenins“, sondern grenze auch „an Sinnentleerung des Begriffs Abhängigkeit“. Sie argumentiert dagegen, dass quantitative Unterschiede zwischen Ländern an einem gewissen Punkt in eine neue Qualität umschlagen müssten, „und zwar in eine einseitige Abhängigkeit, die bis hin zur totalen Unterwerfung oder sogar Zerstörung jeglicher Reste von Eigenständigkeit gehen kann“. Im Gegensatz dazu seien die imperialistischen Staaten in der Lage „durch das Vorhandensein von immensen Kapitalsummen die ganze Welt mit ihrem Kapital zu überziehen und zu kontrollieren“.

Von einseitiger Abhängigkeit gingen auch die Dependenztheorien aus. Ähnlich argumentiert aber auch der Beitrag von Paul Oswald: „Meinem Verständnis nach bildet damit die koloniale Unterdrückung den Kern des Imperialismus.“; „Es ist meiner Ansicht nach also nicht möglich vom Imperialismus zu sprechen, ohne diese zwei Lager (der unterdrückenden und unterdrückten Nationen, Th.S.) in der Welt vor Augen zu haben“. Dabei sei heute, nach der Dekolonisierung, vor allem die Rolle von „Halbkolonien“ wichtig. Sehr weit geht hierbei auch Alexander, der die Frage stellt: „Sind USA nur die Spitze der (…) imperialistischen Pyramide oder SIND sie die Pyramide mit ihrer immer noch weltweit deutlichen militärischen Überlegenheit und Währung?“.

Alexander schreibt auch, es werde deutlich, „wie schwach unser kollektiver Diskussionsstand in Form der Programmatischen Thesen ist. Es leiten sich in der Einschätzung der konkreten Situation diametral unterschiedliche Standpunkte ab“. Nachdem in den Programmatischen Thesen der Imperialismus als ein alle Länder umfassendes Weltsystem charakterisiert wird, ist schwer nachvollziehbar, wie jemand die Auffassung vertreten kann, die dazu gegenteilige Ansicht wäre ebenfalls eine „Ableitung“ aus den Programmatischen Thesen. Das ist sie keineswegs, sondern, das sollte ganz klar gesagt werden, die in den Beiträgen von Klara Bina, Paul Oswald und Alexander vertretene Imperialismusanalyse ist explizit eine Gegenposition zu der Position der Programmatischen Thesen.

Nun sagt diese Feststellung aber noch nichts über ihre Richtigkeit oder Falschheit aus. Natürlich ist es denkbar, dass wir uns geirrt haben könnten. Dann sollten wir unsere Analyse korrigieren.

Um zu beantworten, ob die Programmatischen Thesen in ihrer Imperialismusanalyse grundlegend falsch liegen, wird es nun notwendig sein, das in den Programmatischen Thesen vertretene Imperialismusverständnis besser auszuarbeiten und an der Realität zu überprüfen. Hier wäre auch eine Selbstkritik der gesamten Organisation angebracht: Dass wir diese Frage bisher nicht gezielt angegangen haben, ist ein großer Mangel, der uns jetzt zum Verhängnis wird. Um dieses Problem früher zu erkennen, wäre es allerdings notwendig gewesen, dass diejenigen, die unser Imperialismusverständnis für falsch halten, dies schon früher deutlich formuliert hätten.

Die Frage, ob das Imperialismusverständnis der KO und der KKE tatsächlich von Lenin abweicht oder nicht, wird in den ersten Kapiteln außen vor gelassen und erst am Ende wieder aufgegriffen. Damit soll zuerst mithilfe der von Lenin entwickelten Kategorien die empirische Analyse des imperialistischen Weltsystems vorgenommen werden, um dann zu beantworten, inwiefern Lenins Theorie heute noch geeignet ist, um den Imperialismus zu analysieren und ob der Standpunkt der Programmatischen Thesen mit dem von Lenin in Einklang zu bringen ist (Die Antwort ist auf beide Fragen: Ja!)

Ist es nun tatsächlich so, dass die Programmatischen Thesen auf dem Holzweg sind? Ich nehme meine Antwort bereits im Titel vorweg – Nein! Das Imperialismusverständnis der Programmatischen Thesen ist vollkommen korrekt. Es bedarf keiner „Korrektur“ oder Revision, sondern einer genaueren Ausarbeitung. Diese müssen wir uns vornehmen und vielleicht leistet dieser Diskussionsartikel ja auch schon einen Beitrag dazu.

2. Wer beherrscht die Weltwirtschaft? Zur Rangordnung im heutigen imperialistischen Weltsystem

Um den imperialistischen Charakter eines Landes aufzuzeigen, wählt Lenin vor allem den Grad der Konzentration und Zentralisation, also die Herausbildung des Monopolkapitals als grundlegendes Kriterium. Darauf aufbauend und als Folge der Entstehung des Monopolkapitals analysiert er zudem die Entstehung des Finanzkapitals und die Tendenz zum Kapitalexport. Das ist bis heute plausibel: Denn das Monopolkapital markiert den Übergang zu einer neuen Qualität auf der Ebene der Produktionsverhältnisse. Es beendet die „freie“ Konkurrenz kleinerer Kapitale in großen Teilen der Ökonomie und ersetzt sie durch die Konkurrenz der Monopole, die vorrangig nicht als Preiskonkurrenz, sondern mit anderen Methoden (z.B. Werbung, hohe technologische Barrieren und Spezialisierung usw.) ausgetragen wird. Die Akkumulation gewaltiger Kapitalsummen, gleichzeitig der erhöhte Bedarf an Finanzierung führen zur Verschmelzung von Banken und Industrie, zur Gründung eigener Banken durch die Industrie, zur tendenziellen Ablösung des Kapitaleigentums vom fungierenden Kapital in Form des Beteiligungssystems usw. Die Überakkumulation von Kapital und ständige Jagd nach neuen Anlagemöglichkeiten führt das Kapital über die nationalen Grenzen hinaus, sie macht den Kapitalexport gesetzmäßig notwendig.

Diese Phänomene, Monopolisierung, Finanzkapital und Kapitalexport, sind darum die hauptsächlichen Kriterien, um den imperialistischen Charakter der Ökonomie zu analysieren.

Klaras Auffassung vom heutigen imperialistischen Weltsystem lässt sich an verschiedenen Stellen herauslesen. Beispielsweise: „Die Vorstellung, dass es eine absolute Alleinherrschaft eines Imperiums gäbe, ist in dieser Extremform abzugrenzen von der allgemeinen und meiner Ansicht nach auch nicht falschen Darstellung des derzeitigen Imperialismus als unipolare Herrschaft“

Deutlicher äußert sich Alexander in diese Richtung. Die USA seien „weiterhin die Nation, die der gesamten Welt ihre Politik diktieren kann“. Es wird sogar die Frage aufgeworfen: „Sind USA nur die Spitze der von Aleka Papariga begründeten imperialistischen Pyramide oder SIND sie die Pyramide?“. Bei den beiden letzten Aussagen dürfte dem Autor bewusst sein, dass er sich hier zu extremen Übertreibungen versteigt – es ist wohl einigermaßen offensichtlich, dass die USA eben nicht der gesamten Welt „ihre Politik diktieren“ können, wenn sie beispielsweise seit 63 Jahren daran scheitern, die Regierung einer Karibikinsel in ihrer direkten Nachbarschaft zu stürzen. Doch nehmen wir die These der „unipolaren Weltordnung“, mit der gegen die Imperialismusanalyse der Programmatischen Thesen und der KKE argumentiert wird, einmal ernst und konfrontieren sie mit den Fakten.

Ein erster, sehr oberflächlicher Zugang kann die Länder anhand ihres BIP vergleichen. Dabei ist es sinnvoll, nicht das nominale BIP (das die offiziellen Wechselkurse zugrunde legt) zu verwenden, sondern das in Kaufkraftparität gemessene BIP. Dieses rechnet den Effekt der Inflation heraus und ist besser geeignet, um Länder mit unterschiedlichem Lebensstandard und sehr unterschiedlicher Kaufkraft (wie z.B. die USA, Russland und China) miteinander zu vergleichen – das BIP wird so berechnet, als würden die Waren aller Länder in US-amerikanischen Preisen verkauft. Demnach sind die 10 stärksten kapitalistischen Volkswirtschaften der Welt:

Tabelle 1: Wirtschaftsleistung nach Kaufkraftparität in Mrd. US$, 2020

LandBIP
China23.020
USA19.863
Indien8.509
Japan5.062
Deutschland4.276
Russland3.876
Indonesien3.130
Brasilien2.989
Vereinigtes Königreich2.868
Frankreich2.852

Quelle: Weltbank.

Gemessen an ihrem absoluten Gewicht in der Weltwirtschaft, also an den jeweils produzierten Waren und Dienstleistungen, ist China inzwischen mit gewissem Abstand die größte Volkswirtschaft der Erde. Die „alten“ wirtschaftlichen Großmächte USA, Japan, Deutschland, Großbritannien und Frankreich stehen nicht mehr alleine an der Spitze der Weltwirtschaft. Russland, dessen imperialistischer Charakter von einigen angezweifelt wird, steht immerhin auf Platz 6. Der Vollständigkeit halber können wir uns die Liste auch gemessen an offiziellen Wechselkursen, also der anderen üblichen Messart, ansehen:

Tabelle 2: Wirtschaftsleistung nach laufenden Preisen in Mrd. US$, 2020

LandBIP
USA20.953
China14.723
Japan5.058
Deutschland3.846
Vereinigtes Königreich2.760
Indien2.660
Frankreich2.630
Italien1.889
Kanada1.645
Südkorea1.638

Quelle: Weltbank.

Hier ergibt sich ein etwas anderes Bild, doch das Wesentliche bleibt: Auch hier sind die alten Großmächte nicht mehr unangefochten an der Spitze. China, Indien und Südkorea machen ihnen die obersten Plätze streitig. Russland und Brasilien folgen auf den Plätzen 11 und 12.

Für einen ersten Blick auf die Stellung einer Ökonomie innerhalb des kapitalistischen Weltsystems war der Vergleich des Bruttoinlandsprodukts hilfreich. Allerdings erlaubt dieser Blick nur begrenzte Aussagen darüber, ob ein Land eine beherrschende oder doch eher Zwischenposition in der Hierarchie spielt. So ist beispielsweise das BIP von Indien durch die schiere Masse der indischen Bevölkerung, die in ökonomische Aktivitäten der einen oder anderen Art eingebunden sind, größer als es seiner Stellung im imperialistischen Weltsystem entspricht.

2.1. Die Beherrschung des internationalen Warenhandels

Ein weiterer Indikator für das ökonomische Gewicht eines Landes sind seine Exporte. Die folgende Tabelle zeigt die Exporte der weltgrößten Exporteure.

Grafik 1: Der Welthandel im Jahr 2020

Natürlich ist auch relevant, wie diese Exporte sich zusammensetzen. Es macht einen Unterschied, ob ein Land v.a. hochwertige Industriegüter exportiert oder nur unverarbeitete Landwirtschaftsprodukte. Allerdings schlägt sich diese Unterscheidung ohnehin bereits insofern nieder, dass erstere zu weitaus höheren Preisen verkauft werden und es daher ohne entwickelte Industrie kaum möglich ist, in die Reihe der größten Exportländer aufzusteigen. Daher sagt uns auch diese Datenreihe etwas über die ökonomischen Hierarchien: Auch hier steht China ganz vorne, dann folgen einige der alten imperialistischen Mächte, aber auch Südkorea, Singapur, Irland, Indien und Mexiko besetzen nennenswerte Teile des Weltmarktes. Sehen wir uns aber als nächstes an, welche Länder bei den Exporten von Industriegütern führend sind, exemplarisch anhand der wichtigen Branchen KfZ, Elektronik, Chemie und Werkzeugmaschinen. Grau unterlegt sind Länder, die nicht zur alten imperialistischen „Triade“ (Nordamerika, Westeuropa, Japan) gehören (Irland als ehemalige Quasi-Kolonie sollte demnach ebenfalls nicht zur „Triade“ gerechnet werden).

Tabelle 3: Die größten Exporteure der Industriesektoren Automobil, Elektronik, Chemie, Werkzeugmaschinen, in Mrd. US$., 2020.

RangAutosElektronik
ChemieWerkzeugmaschinen
1BRD122Hong Kong154China72BRD6
2Japan81Taiwan123USA45Japan5,1
3USA46China117Irland42China3,5
4Mexiko40Singapur86BRD35Italien2,6
5Südkorea36Südkorea83Schweiz26Taiwan1,8
6Belgien33Malaysia49Belgien24Schweiz1,7
7Kanada32USA44Japan22Südkorea1,6
8Spanien32Japan29Südkorea21USA1,3
9UK27Philippinen20Niederlande19Belgien0,7
10Slowakei24Vietnam14Indien19Österreich0,7
11Tschechien21Deutschland13UK16

12Frankreich19Niederlande12Frankreich14

13Italien15Irland8Singapur12

14Ungarn11Thailand7Saudi Arabien12

15Schweden11Frankreich7Italien10

Quellen: www.worldstopexports.com; Eurostat (für Werkzeugmaschinen)

Am ehesten halten die Länder der alten „Triade“ noch in der Autoindustrie ihre Vorherrschaft aufrecht. Bei der Elektronik, der größten der hier aufgeführten Branchen, liegt die Dominanz vollkommen in Ost- und Südostasien. In der chemischen Industrie und der vergleichsweise kleinen Branche Werkzeugmaschinen ist das Bild gemischt, eine unangefochtene westliche Vorherrschaft gibt es hier allerdings auch nicht.

Sicherlich ließe sich hier einwenden, dass es aber darauf ankommt, wer diese Produktion kontrolliert. Dieser Einwand ist teilweise berechtigt, denn natürlich macht es einen Unterschied, ob bestimmte Länder nur weit oben in der Statistik auftauchen, weil sie zum Produktionsstandort ausländischer Industrie auserkoren wurden, die aber ihre Profite ins Mutterland repatriiert und dort auch die meisten Steuern zahlt. So erklären sich z.B. sicherlich teilweise die hohen KfZ-Exporte von Mexiko, aber auch Spaniens und Tschechiens (Seat und Škoda als größte Fahrzeughersteller gehören beide VW). Wir werden uns daher auch noch ansehen, welche Länder mit ihren Konzernen die Weltwirtschaft dominieren. Allerdings sind die Exportstatistiken deshalb alles andere als aussagelos. Denn auch die Bourgeoisie eines Produktionsstandorts, der von ausländischem Industriekapital abhängig ist, profitiert indirekt von dieser Konstellation in Form von Steuereinnahmen, regionalen Infrastrukturprojekten, Wissens- und Technologietransfer usw. Wie China, Taiwan, Südkorea, Singapur und andere Länder zeigen, kann das durchaus zur eigenständigen Entwicklung eines einheimischen Monopolkapitals beitragen, das mittel- und langfristig sogar eine internationale Führungsrolle übernehmen kann. Daher ist es berechtigt, die Industrieexporte als Indikator für die Stellung innerhalb der imperialistischen Pyramide zu werten.

2.2. Der Kapitalexport

Um die Stellung innerhalb der imperialistischen Hierarchie zu bestimmen, ist auch der Kapitalexport eines Landes wichtig. Denn dessen Umfang bestimmt, in welchem Umfang die Bourgeoisie, d.h. vor allem (aber nicht nur) das Monopolkapital eines Landes in anderen Ländern mit Investitionen aktiv ist. Lenin schreibt: „Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.“[4]

Kapitalexport kann als Direktinvestitionen (FDI) oder als Portfolioinvestitionen (PFI) stattfinden, je nachdem, wie groß der Kapitalanteil ist, der an einem Unternehmen erworben wird. Da die Daten für FDI weitaus leichter verfügbar sind, sehen wir uns die Kapitalflüsse aus einigen ausgewählten Ländern an. Hierbei handelt es sich nicht um Bestandsgrößen, sondern um die Kapitalflüsse innerhalb eines Jahres:

Grafik 2: Auswärtige Direktinvestitionen (Flussgrößen) in Mrd. US$, 2020.[5]

Als Tabelle:

Tabelle 4: Auswärtige Direktinvestitionen (Flussgrößen) in Mrd. US$, 2020.

LandAuswärtige Direktinvestitionen in Mrd. US$
USA264,8
Japan115,7
China109,9
Frankreich45,9
Deutschland34,9
Indien11,1
Russland6,8
Vereinigtes Königreich-65,4

Quelle: OECD

Die Aussagekraft der Direktinvestitionen bezüglich des realen Kapitalexports ist, wie fast immer bei bürgerlichen Statistiken begrenzt. Die marxistische Kategorie des Kapitalexports existiert in diesen Statistiken natürlich nicht. Ein Teil dessen, was in den Statistiken als FDI erscheint, sind keine realen Investitionen, sondern Operationen, die der Steuervermeidung oder ähnlichen Zwecken dienen und oft damit einhergehen, dass dieselbe Summe einmal hin- und wieder zurücküberwiesen wird[6]. Da dieses Phänomen aber nicht nur die russische Ökonomie betrifft, können wir die Daten über FDI trotzdem als einen groben Indikator für Kapitalexport heranziehen.

Die Direktinvestitionen zeigen, dass bei auswärtigen Kapitalflüssen immer noch die USA, Westeuropa und Japan eine relativ dominierende Position einnehmen. Die einzige massive Ausnahme, die das Bild in den letzten Jahren stark verändert hat, ist China, das 2020 mit kurzem Abstand hinter Japan den dritten Platz einnahm. Wenn China und Japan und allen voran die USA in der „ersten Reihe“ stehen, kommt danach eine zweite Reihe aus Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern, die der Übersichtlichkeit halber weggelassen wurden (Südkorea, Schweden usw.). In der dritten Reihe stehen Russland und Indien (außerdem Belgien, Italien, Israel, Dänemark, Australien usw.). Die meisten Länder der Welt exportieren hingegen nur geringe Mengen Kapital unterhalb des Milliardenbereichs. Diese kann man in eine vierte, fünfte, sechste Reihe usw. einordnen.

Ein weiterer Indikator für die Position eines Landes beim Kapitalexport ist der Nettoauslandsvermögenstatus (englisch: net international investment position). Dieser bildet sich aus der Differenz zwischen den Forderungen, die die Eigentümer eines Landes im Rest der Welt haben und den Forderungen, die der Rest der Welt in diesem Land hat. Ist diese Position positiv, bedeutet das, dass das Land mehr Kredite vergeben hat und Aktiva im Ausland hält als umgekehrt. Auch dieser Indikator hat eine begrenzte Aussagekraft: Denn auch wenn ein Land hier eine negative Bilanz hat, kann daraus natürlich nicht abgeleitet werden, dass es nicht imperialistisch ist. Das bedeutet dann nur, dass andere imperialistische Länder mehr in diesem Land investieren als umgekehrt.

Tabelle 5: Nettoauslandsvermögensstatus ausgewählter Länder in Billionen US$, 2020

Was zeigen uns die Daten aus Tabelle 5? Dass China in der imperialistischen Hierarchie eine führende Gläubigerposition innehat und die USA der Welt v.a. als Schuldner gegenüberstehen. Aber auch, dass neben China auch weitere Länder außerhalb der traditionellen „Triade“ wie Singapur, Saudi Arabien, Russland und Südkorea ebenfalls bedeutende positive Auslandsvermögenspositionen halten. Die internationale Expansion des Kapitals ist bei weitem nicht mehr auf die „Handvoll Räuber“ beschränkt, von denen sie Anfang des 20. Jahrhunderts ausging.

2.3. Die großen Monopolkonzerne

Ein weiterer wichtiger Indikator für die Stellung eines Landes innerhalb des imperialistischen Weltsystems ist die Anzahl der in diesem Land beheimateten Konzerne, die in die Reihe der größten Konzerne der Welt gehören. Die international operierenden Konzerne sind die hauptsächlichen Träger des Kapitalexports, der internationalen Ausweitung und Projektion ökonomischer Macht, ihre grenzüberschreitende Expansion ist die Ursache dafür, dass die Profitinteressen des Kapitals global in Konfrontation miteinander geraten und zwischenstaatliche Konflikte hervorbringen.

Diesen Indikator wollen wir uns einmal etwas genauer ansehen. Das Fortune-Magazin veröffentlicht bekanntlich jährlich eine Liste der 500 größten Konzerne der Welt. Es versteht sich von selbst, dass die 500 größten Konzerne der Welt allesamt ökonomische Giganten sind. Der Konzern auf Platz 500 hat immer noch einen Umsatz von 24 Mrd. US$. Die bloße Zugehörigkeit eines Unternehmens zu dieser Liste belegt eine globale Monopolstellung (Monopol im marxistischen Sinne, d.h. es kann noch andere Monopole geben, die in derselben Branche aktiv sind). Die Zugehörigkeit eines Landes zu dieser Liste belegt ebenfalls bereits einen gehobenen Status in der imperialistischen Hierarchie, wenngleich – wie wir sehen werden – hier immer noch sehr große Unterschiede zu beachten sind. Unter diesen Konzernen sind Industrie-, Handels, aber auch reine Finanzkonzerne vertreten (allerdings keine Banken). Nach marxistischem Verständnis handelt es sich jedoch in allen Fällen um monopolistisches Finanzkapital.

Im Jahr 2021 verteilten diese 500 Megakonzerne sich auf 31 Länder. Die Zahl von 31 alleine sollte Anlass genug, die Einschätzung infrage zu stellen, wonach der Imperialismus lediglich von einer „Handvoll Räuber“ beherrscht werden. Jedenfalls lässt der Ausdruck „eine Handvoll“ doch eher an eine begrenzte Zahl von vielleicht 5-7 Ländern denken.

Doch sehen wir uns die Daten genauer an. Von den 500 größten Konzernen haben 135 ihren Sitz in China, das damit auf Platz 1 der Weltliste liegt. An zweiter Stelle kommen dann – wenig überraschend – die USA mit 122 Konzernen. Danach Japan mit 53, Deutschland mit 27, Frankreich mit 26, Großbritannien mit 22 usw.

Um die Konzentration an der Spitze der Global 500 zu sehen, werfen wir einen Blick auf die größten 20 Konzerne der Liste: Von diesen waren 2021 acht aus den USA, sechs aus China und jeweils einer aus Großbritannien, Deutschland, Südkorea, Saudi-Arabien, Japan und den Niederlanden.

Wer ist nun die Nummer 1? China oder die USA? China hat inzwischen mehr Konzerne unter den Top500 platziert, aber immer noch etwas weniger unter den Top20. Als einen weiteren Indikator kann man die Umsätze der größten Konzerne beider Länder addieren und miteinander vergleichen. Die größten 10 chinesischen Konzerne kommen dann zusammen auf Umsätze von 2,2 Bio. US-Dollar. Die größten 10 US-Konzerne auf einen etwas höheren Wert: 2,8 Bio. US-Dollar

Um die Verschiebungen zu verdeutlichen, lohnt sich der Vergleich mit einem früheren historischen Zeitpunkt. Das Jahr 1995 ist das früheste, das sich in der Online-Datenbank von Fortune findet und wurde daher hier als Vergleichspunkt herangezogen. 1995 lagen die USA und Japan mit jeweils 148 Konzernen gleichauf. Allerdings zeigt der Blick auf die 20 größten Konzerne eine deutliche Dominanz Japans auf der Spitze des Berges: 12 der größten 20 Konzerne kamen damals aus Japan, lediglich die Hälfte (also sechs) aus den USA.

Ebenfalls große „Player“ waren im Jahr 1995 die BRD mit 42, Großbritannien und Frankreich mit jeweils 35 Konzernen, die Niederlanden mit 12 (plus einen, der auf den niederländischen Antillen gelistet war) und Italien mit 11. Eine genauere Auflistung findet sich in Tabelle 6.

Auffällig sind folgende Fakten:

Erstens werden die Fortune Global 500 und auch die oberen Ränge weiterhin von drei Weltregionen dominiert, nämlich Westeuropa, Nordamerika und Ostasien.

Aber, und das ist ein sehr großes „Aber“: Zweitens ist Ostasien anders als früher in dieser Hinsicht nicht mehr im Wesentlichen durch Japan vertreten. Zum einen spielen Taiwan und Südkorea ebenfalls eine wichtige Rolle. Zum anderen, und das ist wohl die entscheidende Verschiebung im imperialistischen Weltsystem, ist der mit Abstand wichtigste ökonomische Akteur in Ostasien inzwischen nicht mehr Japan, sondern China.

Ein dritter Aspekt wird vor allem durch den Vergleich mit früheren Zeiten deutlich: Die Verteilung tendiert immer mehr zu einer „multipolaren“ Konstellation in dem Sinne, dass kein Land oder imperialistischer Pol durch seine weltbeherrschenden Konzerne mehr eine eindeutige ökonomische Dominanz innehat. Genannt wurden bereits Taiwan und Südkorea mit 8 bzw. 10 Konzernen auf der Liste. Heute sind aber auch z.B. einige südostasiatische (Singapur, Indonesien, Malaysia, Thailand) und südasiatische Konzerne (Indien) auf der Liste vertreten. Aus Indien stammen sieben der gelisteten Konzerne bzw. acht, wenn ArcelorMittal (das zu über 40% von der indischen Milliardärsfamilie Mittal gehalten, aber in Luxemburg gelistet ist) mitgezählt wird. In Lateinamerika ist Brasilien der stärkste Akteur mit sechs Konzernen, gefolgt von Mexiko mit zwei. Russland spielt ebenso wie die zuletzt genannten Länder ökonomisch eher in der zweiten Reihe eine bedeutende Rolle und kommt auf vier Konzerne innerhalb der Weltliste.

Unterdessen haben die meisten Länder der früheren „imperialistischen Triade“ (Westeuropa, Nordamerika, Japan) deutliche Verluste hinnehmen müssen. Die USA sind von 148 auf 122 Konzerne zurückgefallen. Deutschland von 42 auf 27. Frankreich und Großbritannien von jeweils 35 auf 26 resp. 22. Am weitesten ist Japan durch seine jahrzehntelange Stagnationskrise in der imperialistischen Rangordnung zurückgefallen: Von 148 Konzernen in den Top500 und 12 der weltgrößten 20 Konzerne im Jahr 1995 auf aktuell 53 in der Top500-Liste und nur noch einen in den Top20.

Tabelle 6: Ausgewählte Länder in den „Fortune Global 500“-Listen 1995 und 2021 (nach Rangordnung von 2021, besonders drastische Entwicklungen sind grau unterlegt)

LandAnzahl unter den Top 500 1995Anzahl unter den Top 500 2021Anzahl unter den Top 20 1995Anzahl unter den Top 20 2021
China213506
USA14812268
Japan14853121
BRD422711
Frankreich352600
Großbritannien35221 (brit-niederl.)1
Kanada51200
Niederlande12, davon 3 Kooperationen mit B und GB + 1 auf den niederl. Antillen111 (brit-niederl.)1
Südkorea81001
Taiwan2800
Spanien6700
Indien1700
Italien11600
Brasilien1600
Russland0400
Mexiko1200

Quelle: Fortune Global500.

Sehen wir uns ergänzend noch die Rangliste der größten Banken an, die in den Fortune Global500 nicht enthalten sind.

Tabelle 7: Größte Banken der Welt nach Aktiva, 2021

RangNameLandKapital in Mrd. US$
1Industrial & Commercial Bank of ChinaChina5,4
2China Construction BankChina4,6
3Agricultural Bank of ChinaChina4,4
4Bank of ChinaChina4,1
5JP Morgan Chase & CoUSA3,7
6Mitsubishi UFJ Financial GroupJapan3,3
7BNP ParibasFrankreich3,2
8Bank of AmericaUSA3,0
9HSBC HoldingsUK3,0
10Crédit AgricoleFrankreich2,7
11China Development BankChina2,6
12CitigroupUSA2,3
13Sumitomo Mitsui Financial GroupJapan2,2
14Japan Post BankJapan2,1
15Mizuho Financial GroupJapan2,0
16Wells FargoUSA1,9
17BarclaysUK1,9
18Postal Savings Bank of ChinaChina1,9
19Banco SantanderSpanien1,9
20Société GénéraleFrankreich1,8

Quelle: ADV Ratings.

Der Blick auf die Banken zeigt noch klarer: Von einer Vorherrschaft der USA kann keine Rede mehr sein. Die vier größten Banken der Welt sind inzwischen chinesische Staatsbanken. In der zweiten Reihe stehen vor allem Banken aus den USA, Japan und Frankreich. Deutschland hingegen spielt inzwischen mit seiner einzigen Großbank, der Deutschen Bank, nicht mehr an der Spitze mit.

2.4. Die Sonderrolle der USA: Dollar und Wall Street

Sind die USA weiterhin die mit Abstand führende Wirtschaftsmacht der Welt? Die Frage kann auf Grundlage der angeführten Daten klar verneint werden. Dennoch haben die USA nach wie vor eine Reihe von Vorteilen gegenüber ihrem größten Rivalen China. Auf ökonomischem Gebiet sind dies vor allem ihre weiterhin zentrale Rolle im Weltfinanzsystem und die Rolle des US-Dollar als weltweiter Leitwährung.

Die Rolle der USA im Finanzsystem ist dadurch, dass mittlerweile chinesische Banken an der Spitze stehen, bereits deutlich relativiert. Anders sieht es aus, wenn man sich ansieht, wo der Großteil der Finanzgeschäfte abgewickelt wird. Die folgende Auflistung zeigt, dass immer noch die große Mehrheit der Börsengeschäfte an Börsen in den USA stattfinden.

Tabelle 8: Die zehn größten Börsen der Welt, 2021

RangBörseOrtMarktkapitalisierung der gelisteten Unternehmen 2021 in Bio. US$
1NYSEUSA27,7
2NASDAQUSA24,6
3Shanghai Stock ExchangeChina8,2
4EuronextEU7,3
5Japan Exchange GroupJapan6,6
6Shenzhen Stock ExchangeChina6,2
7Hong Kong ExchangesHong Kong5,4
8LSE GroupUK3,8
9National Stock Exchange of IndiaIndien3,6
10TMX GroupKanada3,3

Quelle: statista.de

Diese Zahlen zeigen aber zunächst einmal nur, dass der Großteil der Infrastruktur des globalen kapitalistischen Finanzsystems in den USA liegt. Sie bedeuten nicht, dass der US-Imperialismus über die genannten Summen einfach verfügen kann. Beispielsweise ist die Nr. 1 an der New Yorker Börse (NYSE, die größte Börse der Welt) aktuell der chinesische Konzern Alibaba.

Die führende Rolle der USA im Finanzsystem ist eine Folge davon, dass das Monopolkapital der USA lange Zeit global führend war. Um im großen Geschäft mitzuspielen, gingen auch die Großkapitalisten anderer Länder nach New York, wo die meisten Firmen gelistet waren und daher auch die umfangreichsten Möglichkeiten für Finanzgeschäfte vorhanden waren. China, die EU und Japan liegen auf diesem Gebiet nach wie vor weit zurück, obwohl sich auch hier zeigt, dass der chinesische Kapitalismus schnell aufholt. Denn mit der Verschiebung des Zentrums der Mehrwertproduktion in Richtung Ostasien bzw. vor allem China wird mit einiger Verzögerung auch das Finanzsystem sich schrittweise verschieben.

Konkreter sind die Vorteile, die die USA aus der Rolle des US-Dollars als internationaler Leitwährung ziehen. Die Vorherrschaft des Dollar als Reservewährung und in Transaktionen (z.B. im Rohstoffhandel) ist zweifellos ein wichtiger Vorteil des US-Imperialismus in der globalen imperialistischen Rivalität. Konkret bedeutet die Dollar-Dominanz:

  • Dass die Einkommen, die der US-Zentralbank Federal Reserve Board durch die Geldschöpfung entstehen (Seigniorage-Gewinne) höher sind, weil mehr Geld geschöpft werden kann.
  • Dass das Finanzministerium (Treasury) der USA sich in weitaus höherem Maße in der eigenen Währung verschulden kann, weil die Zentralbank in viel höherem Umfang Geld schöpfen kann, ohne dass dies in den USA zur Geldentwertung führt.
  • Dass die USA zusätzliche Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme bekommen, weil sie die Dollar-Reserven anderer Staaten einfrieren können.
  • Dass der US-Dollar als viel nachgefragte Währung stabiler ist als die meisten anderen Währungen. Dadurch werden Wechselkursschwankungen minimiert, was ein großer Vorteil sowohl für den Warenhandel als auch die Zuverlässigkeit von Finanzgeschäften ist.
  • Dass die hohe Nachfrage nach dem US-Dollar dessen Wert tendenziell in die Höhe treibt. Das hat einerseits den Vorteil, dass die Kaufkraft des US-Kapitals international steigt und Importe von Vorprodukten für die Industrie billiger werden. Der Nachteil ist, dass die Verbilligung von Importen ebenso wie die aufgrund des steigenden Wechselkurses erhöhten Preise für Exportgüter auch die internationale Konkurrenzfähigkeit der Industrie in den USA unterminieren.[7]

Alles in allem sind das große Vorteile, die eine wichtige Rolle dabei spielen, die Position der USA an der Spitze der imperialistischen Pyramide abzustützen. Deshalb haben die USA seit Jahrzehnten alles versucht, um die Dollar-Hegemonie aufrecht zu erhalten, indem sie beispielsweise Regierungen, die danach strebten, den Ölhandel in anderen Währungen abzuwickeln, militärisch angegriffen und gestürzt haben.

Eine „Wunderwaffe“ ist die Dominanz des US-Dollars allerdings auch bei weitem nicht. Sie begründet keine absolute und unanfechtbare ökonomische Vorherrschaft. Sie verhinderte Mitte der 90er nicht, dass das japanische Monopolkapital zeitweise in vielen Bereichen vor dem der USA lag. Und sie verhindert heute nicht, dass das chinesische Monopolkapital[8] dabei ist, die Bourgeoisie der USA auf immer mehr Ebenen zu überholen. Sie verleiht den USA auch nicht die wundersame Macht, Russland und anderen Produzenten die Öl- und Gaspreise diktieren zu können, wie Alexander fälschlicherweise behauptet. Die Dollar-Hegemonie findet auf Grundlage der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise statt, nicht außerhalb ihrer. Deshalb werden auch die Rohstoffpreise letzten Endes über den Markt gebildet, auch wenn es dabei erhebliche politische Interventionen gibt – allerdings nicht nur von den USA, sondern gerade z.B. auch von den Produzentenländern. Die ölproduzierenden Länder der OPEC haben immerhin zweimal durch eine bewusste Einschränkung der Fördermengen zu schweren Krisen in der Weltwirtschaft beigetragen.

Die Dominanz des US-Dollar ist zwar nach wie vor sehr deutlich, aber deshalb keineswegs unangefochten: Der Anteil des US-Dollar im globalen Handel schwankte 1999-2021 ungefähr zwischen 25 und 45%, liegt aber aktuell ungefähr auf dem Niveau von 1999, d.h. bei etwa 35%. Der Anteil des US-Dollar an den weltweiten Reserven in ausländischer Währung ist im selben Zeitraum von etwa 70% auf ca. 60% gesunken. Dies war zuerst auf die Gründung des Euro zurückzuführen, dessen Anteil meistens zwischen 20 und 30% schwankte, allerdings durch die Krise ab 2009 dauerhaft auf etwa 20% abgesunken zu sein scheint. Dass der Dollar von der Krise des Euro kaum profitieren konnte, liegt vor allem am Aufstieg anderer, sogenannter „nicht-traditioneller“ Währungen (d.h. andere als Dollar, Euro, japanischer Yen und britisches Pfund Sterling). Hier ist natürlich auch der chinesische Renminbi zu nennen, aber vor allem eine Reihe anderer Währungen, namentlich den australischen und kanadischen Dollar, den Schweizer Franken, den koreanischen Won, die schwedische Krone, den Singapur-Dollar usw. Die Guthaben, die in „nicht-traditionellen“ Reservewährungen gehalten werden, betragen inzwischen immerhin umgerechnet 1,2 Billionen US-Dollar. Regional spielen oft auch andere Währungen eine Rolle, z.B. halten Kasachstan und Kirgisistan auch hohe Rubel-Reserven aufgrund ihrer engen Beziehungen zu Russland.[9]

Auch die führende Rolle des US-Dollar ist nicht unabhängig von der Stellung der USA im imperialistischen Weltsystem, d.h. der materiellen Grundlage dieser Stellung in der Produktion und der Fähigkeit der USA, ihre Position politisch und militärisch abzusichern. Da die ökonomische und militärische Vorherrschaft des US-Imperialismus infrage steht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Vorherrschaft seiner Leitwährung erodiert. Der Aufbau des Renminbi zur führenden Leitwährung der Weltwirtschaft ist erklärtes Ziel der chinesischen Regierung. Indem China momentan auf Hochtouren daran arbeitet, die USA in der imperialistischen Pyramide auf den zweiten Platz zu verweisen, schafft es auch für den Aufstieg seiner Währung die entsprechenden Voraussetzungen.

3. Zwischenpositionen und Aufstiegsprozesse im imperialistischen Weltsystem

Wie bereits gezeigt wurde, kann eine Imperialismusanalyse nicht allein darin bestehen, sich die Spitze der Pyramide anzusehen (umso weniger, wenn diese Spitze in Unkenntnis der Fakten mit den USA gleichgesetzt wird). Auch unterhalb des führenden Segments des imperialistischen Weltsystems gibt es Länder, die in der Struktur des Weltsystems eine wichtige Rolle spielen. Wir werden nun der Frage nachgehen, ob es richtig ist, diese als imperialistisch zu bezeichnen. Auch dafür sind die anfangs genannten Kriterien, insbesondere die Herausbildung des Monopolkapitals heranzuziehen.

Die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) warnt hierbei: „Die Tendenz, solche Beziehungen herzustellen, ist nicht gleichzusetzen mit der Fähigkeit, solche Beziehungen konkret herzustellen. Es ist immer das zweite Kriterium, das für die Definition eines imperialistischen Landes gilt.“ (These 7).

Es geht nicht nur um die Tendenz zur Monopolisierung, zum Kapitalexport usw., die natürlich in einer kapitalistischen Gesellschaft immer besteht, sondern es geht vor allem darum, inwiefern sich diese Tendenzen auch materialisieren – genau das muss untersucht werden und wird hier anhand von zwei Ländern exemplarisch geschehen.

Das erste dieser Länder ist natürlich Russland, da immerhin Auslöser der ganzen Diskussion. Der Streit, ob Russland überhaupt imperialistisch ist, schwelt im marxistischen Spektrum bereits seit Jahren und hat jetzt, nachdem die Position dazu eigentlich in der KO geklärt war, auch uns wieder erreicht.

Das zweite, deutlich knapper behandelte Land ist Mexiko. Die Kommunistische Partei Mexikos vertritt eine ähnliche oder gleiche Imperialismusanalyse wie die KKE und schätzt Mexiko als ein Land in einer Zwischenposition, also mit durchaus imperialistischen Charakteristika ein. Mexiko wurde zudem ausgewählt, weil die Frage, ob es imperialistisch ist, weniger offensichtlich zu bejahen ist als im Fall Russlands. Es geht dabei darum, grundsätzliche Aussagen über die Beschaffenheit der imperialistischen Pyramide ableiten zu können.

Ansonsten wäre es aber genauso möglich, Brasilien, Indien, die Türkei, Thailand, Malaysia oder eine Reihe anderer Länder heranzuziehen, was natürlich jetzt aus Platzgründen nicht passiert. Es wird hoffentlich ausreichen, das Phänomen allgemein und exemplarisch zu untersuchen, sodass es leicht vorstellbar wird, dass es ähnliche Entwicklungen in vielen Ländern überall auf der Welt gibt.

3.1. Die Stellung Russlands im imperialistischen Weltsystem

Alexander gibt folgende Charakterisierungen zum Status Russlands innerhalb des imperialistischen Weltsystems ab: 1) Russland sei „seit der Konterrevolution bis zum Regierungsantritt Wladimir Putins eine Kolonie“ gewesen, deren Hauptzweck Rohstofflieferungen an den Westen waren. 2) Mit der Regierung Jelzin habe „kein ideeller Gesamtkapitalist, der Akkumulation und Zirkulation politisch organisierte“ existiert. 3) Russland sei unter Putin dabei, sich aus diesem „Kolonialstatus“ „schrittweise vorsichtig“ zu befreien. 4) Russland sei aber, so Alexander mehrfach implizit, auch heute kein imperialistischer Staat.

Dies entspricht nicht der Einschätzung der KO in ihren Programmatischen Thesen, wo Russland (ebenfalls implizit, aber dennoch eindeutig so gemeint) zu den „relativ unterlegenen imperialistischen Polen“ gerechnet wird.

Wer hat nun Recht?

Glücklicherweise sind wir nicht darauf angewiesen, uns die Struktur des russischen Imperialismus komplett alleine zu erarbeiten, da bereits eine Vielzahl von Arbeiten unterschiedlicher Strömungen mit marxistischem Anspruch dazu existiert. Besonders hervorzuheben ist hier die Arbeit von fünf Genossen des Rksm(b) (der Jugendorganisation der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei) aus dem Jahr 2007.[10] Obwohl diese schon älter ist, ist sie in höchstem Maße aktuell und uneingeschränkt zu empfehlen.

Batov und Genossen schreiben über eine Strömung, die damals in der kommunistischen Bewegung Russlands existierte: „Die Leugnung der Existenz des russischen Imperialismus, die Idee Russlands als einer Kolonie hat bereits viele Kommunisten ruiniert, die, indem sie den US-Imperialismus kritisieren und den russischen Imperialismus leugnen, den Pfad der Rechtfertigung der nationalen Bourgeoisie (…) und des Bruchs mit dem Marxismus eingeschlagen haben.“. Die Position, auf Grundlage einer (vermeintlich) „antiimperialistischen“ Argumentation Bündnisse mit der herrschenden Klasse Russlands einzugehen, wird unter russischen Kommunisten auch als „roter Putinismus“ bezeichnet.

Die Genossen führen eine Vielzahl an Daten an, die die Konzentration und Zentralisation des russischen Kapitals und seine Expansion in die benachbarten Länder, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken belegen, z.B. die Ukraine, Armenien, Georgien, Belarus, Kasachstan, Usbekistan, die baltischen Staaten usw. Da diese Daten vom Stand von 2007 sind, werden sie hier nicht wiederholt. Sie belegen aber die Eigenständigkeit des russischen Kapitals, seinen hohen Grad der Konzentration und Zentralisation, seinen Kapitalexport in die Nachbarländer. Sie widerlegen eindeutig den angeblich „kolonialen“ Charakter der russischen Volkswirtschaft.

Wie hat der russische Kapitalismus sich seitdem entwickelt?

Ein Indikator für den fortgesetzten relativen Aufstieg Russlands innerhalb der imperialistischen Hierarchie wurde bereits angeführt: Während Russland 1995 noch nicht unter den Top500 der weltgrößten Konzerne vertreten war, sind mittlerweile immerhin vier russische Konzerne darunter (Gazprom, Lukoil, Rosneft, Sberbank), wobei Gazprom unter den 100 größten Konzernen der Welt rangiert.

Gazprom ist der größte russische Monopolkonzern und größter Erdgasproduzent der Welt. Der Konzern wird mehrheitlich vom russischen Staat gehalten. Gleiches gilt für den Ölkonzern Rosneft, das zweitgrößte russische Staatsunternehmen. Daneben stehen die Öl- und Gasriesen Lukoil und Surgutneftegas, wobei ersterer mehrheitlich dem Kapitalisten Alekperov gehört und letzterer sich in Streubesitz befindet. Der Export von Öl, Gas und Kohle ist wichtigste Devisenquelle für die russische Wirtschaft, die damit stark von der Entwicklung der Weltmarktpreise für diese Rohstoffe abhängt. Auch Produktion und Verarbeitung nicht-energetischer Rohstoffe, v.a. die metallurgischen Industrien, spielen eine wichtige Rolle: Novolipetsk (Stahl), Rusal (Aluminium), Norilsk Nickel usw. Spricht die Abhängigkeit vom Rohstoffexport dagegen, die russische Ökonomie als imperialistisch zu charakterisieren?

Sicher nicht. Denn der Rohstoffsektor ist ein wichtiges Kampffeld der Konkurrenz zwischen den Monopolen. Die Rohstoffförderung, -raffinierung und der Verkauf werden von russischen Großkonzernen organisiert, die damit die Stellung des russischen Kapitalismus in der imperialistischen Hierarchie insgesamt aufwerten und am Kampf um die Extraprofite teilnehmen. Kein Marxist würde die Bedeutung der Ölkonzerne Shell, Total oder Exxon als tragende Säulen des imperialistischen Weltsystems in Abrede stellen. Daher sollte das auch für die russischen Konzerne nicht getan werden.

Die Stärken des russischen Kapitals liegen keineswegs, wie oft behauptet wird, nur im Export von Öl und Gas, auch wenn diese Rohstoffe natürlich einen hohen Anteil an der russischen Handelsbilanz haben. Die TKP stellt in ihrer Analyse des russischen Imperialismus richtigerweise fest: „Die russische Wirtschaft hat die Fähigkeit zum Durchbruch, sofern sie ihre Beschränkungen der Kapitalakkumulation überwindet, mit ihrer aus der Sowjetunion übernommenen industriellen Infrastruktur, ihrem Selbstversorgungsgrad in Bezug auf ihre Grundindustrien zusammen mit ihrem Reichtum an natürlichen Ressourcen sowie ihrer führenden Position im Export von Petrochemie und ihrer vorteilhaften Position in den Hochtechnologiesektoren in Bezug auf ihre fortschrittliche Industrie in den Bereichen Verteidigung, Luftfahrt und Raumfahrt. Daher kann die russische Wirtschaft nicht mit einem vereinfachten Wirtschaftsmodell erfasst werden, das auf dem Export natürlicher Ressourcen und insbesondere auf dem Export von Energie basiert.“.[11]

Komparative Vorteile hat das russische Kapital auch in den Bereichen Rüstung (mit den mehrheitlich staatlichen Rüstungskonzernen Rostec, OAK und dem Schiffsbauer OSK) und in der zivilen Luftfahrt (Aeroflot, eine der weltgrößten Airlines). Im Finanzsektor sind die mehrheitlich staatliche Sberbank und VTB Bank dominierend sowie die private Investmentfirma Sistema.

Russland ist beispielsweise bei der Produktion und dem Export von Nuklearreaktoren Weltmarktführer. Auch wenn China seine Kapazitäten auf diesem Gebiet massiv ausbaut, ist Russland mit dem Verkauf seines VVER1200 bisher bei weitem die Nr. 1 auf dem Weltmarkt, einige davon nach China selbst.[12] Ähnliches gilt für die Produktion und den Export von Raumfahrttechnologie. Die US-Regierung stellt mit wachsendem Unbehagen fest, wie ihre Stellung in der internationalen Raumfahrt von russischer Technologie abhängig ist: „Amerikas Satellitenproduzenten wenden sich zunehmend ausländischen Versorgern von Weltraumantrieben zu (…). Das trifft besonders auf Unternehmen zu, die geostationäre Satelliten für verschiedene Kommunikationszwecke herstellen. Es trifft aber auch auf Firmen zu, die Satelliten für das zivile Raumprogramm der NASA und das militärische Raumprogramm produzieren. (…) Die Industrie geht graduell zur sogenannten elektrischen Antriebstechnologie über, und auf diesem Gebiet ist der primäre ausländische Verkäufer Russland. Obwohl der Kongress Druck auf das Militär ausübt, seine Abhängigkeit von russischen Raketenantrieben zu beenden, werden Amerikas Satelliten zunehmend abhängig von einer Art Weltraumantrieb, bei denen Russland weltweit führend ist“.[13]

Im Bereich Rüstung ist Russland einer der größten Produzenten der Welt, 2020 kam etwa ein Fünftel aller Rüstungsexporte der Welt auf Russland, da die russischen Rüstungsgüter von hoher Qualität sind und daher gerne gekauft werden.[14]

Die Vorstellung, dass es sich bei Russland einfach um eine „abhängige“ Ökonomie handle, die außer Rohmaterialien nichts zu bieten habe und dementsprechend gar nicht die Kraft zu bedeutendem Kapitalexport, entbehrt somit jeder Grundlage.

Auffällig ist, dass die russischen Großkonzerne einen hohen Einfluss des Staates aufweisen. Am (monopol-)kapitalistischen Charakter dieses Kapitals ändert das natürlich nichts. Diese Konzerne agieren ebenso wie andere Monopolkonzerne mit dem Ziel der Profitabilität. Doch auch wenn der Staat jeweils große Anteile hält, wird jeweils ebenfalls ein großer Teil von privaten Investoren gehalten. Es gibt unter den russischen Großkonzernen zudem auch zahlreiche private Firmenimperien. Der Aluminiumkonzern Rusal gehört mehrheitlich dem russischen Großkapitalisten (im Westen „Oligarchen“ genannt) Oleg Deripaska. Das in zahlreichen Branchen aktive Konglomerat Renova gehört dem Putins Regierung nahestehenden „Oligarchen“ Wiktor Wekselberg; Arkadij Rotenberg, enger Freund und ehemaliger Judolehrer Putins, ist Miteigentümer der Stroygazmontazh-Gruppe, des größten Baukonzerns der Russischen Föderation; der Investmentkonzern „Alfa Grupp“ gehört zu einem großen Anteil Michail Fridman; Vagit Alekperov ist Eigentümer des größten Anteils an Lukoil usw. usf. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen teilstaatlichen und privaten Konzernen gibt es dabei nicht. Auch die privaten Konzerne im Besitz von „Oligarchen“ unterhalten enge Beziehungen zur Regierung, auf die sie in der Tat auch angewiesen sind. Weil in Russland die Kapitalistenklasse durch einen rasanten Prozess des kaum verdeckten Raubes am Volkseigentum entstanden ist, und das sehr oft mit kriminellen Methoden, können die Kapitalisten sich ihres neuen Eigentums nur dann sicher sein, wenn sie durch formelle und informelle Institutionen (einschließlich offener Korruption) über eine gesicherte Beziehung zum Staatsapparat verfügen.[15] Der andere Grund für die massive Rolle des Staates hängt mit der Stellung Russlands im imperialistischen Weltsystem, genauer gesagt seiner relativen Unterlegenheit gegenüber dem Westen zusammen: Die Absicht, Russland als imperialistische Macht gegen den Widerstand der USA und ihrer Verbündeten zu konsolidieren, lässt sich aufgrund der relativen Schwäche des russischen Kapitals nicht ohne Schutzmaßnahmen vor der ausländischen Konkurrenz realisieren. Der Staat erfüllt hier die Rolle, einerseits sicherzustellen, dass die Vertreter der russischen Bourgeoisie den gesamtkapitalistischen Interessen Russlands verpflichtet bleibt (Abweichler unter den „Oligarchen“ wie Boris Beresowski und Mikhail Khodorkowski wurden entsprechend politisch kaltgestellt); und andrerseits die Aufwertung der russischen Position in der imperialistischen Pyramide durch unterstützende wirtschaftspolitische und außenwirtschaftspolitische Maßnahmen zu fördern. Dass der Staat eine zentrale, lenkende und fördernde Rolle dabei spielen kann, die Position eines Landes in der imperialistischen Hierarchie aufzuwerten, ist absolut nichts Neues. Es ließ sich in den vergangenen Jahrzehnten besonders auffällig in Ländern wie Frankreich, Japan, Südkorea und aktuell China und Russland beobachten. Bereits Lenin beschreibt, „wie sich in der Epoche des Finanzkapitals private und staatliche Monopole miteinander verflechten und die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloß einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den größten Monopolisten um die Teilung der Welt sind“.[16]

Der russische Kapitalismus ist im Vergleich auch zu anderen entwickelten kapitalistischen Ökonomien von einer sehr hohen Konzentration und Zentralisation des Kapitals gekennzeichnet. Die starke „Monopolisierung und Oligopolisierung der Ökonomie“ wird auch von bürgerlichen Ökonomen festgestellt, die ansonsten diese Begriffe eher vermeiden: „400 führende Unternehmen (mit Umsätzen über 15 Mrd. Rubeln, d.h. 700-750 Mio. US$ nach Kaufkraftparität) produzierten im Jahr 2014 41% des BIP, und viele davon waren Monopole (Gazprom, Norulsky Nikel, Russian Railways, Aeroflot, Transneft) oder führende Oligopole (Lukoil, Rosneft, Sberbank, Rostelecom, Megafon) in ihren Industrien. Dies führt zu einer Dominanz der Monopole (Oligopole) und zur Ineffektivität der nationalen Anti-Monopol-Politik in Russland – sogar im Vergleich mit anderen BRICS-Ökonomien“.[17]

Dies ist eine Folge der besonderen Entstehung des russischen Kapitalismus aus einer Konterrevolution. Die russische Bourgeoisie musste nicht durch langfristige Konzentrations- und Zentralisationsprozesse das monopolistische Stadium des Kapitalismus erreichen, sondern bildete sich durch die Privatisierung der gewaltigen Produktionskomplexe der Sowjetunion, wobei das ehemalige Volkseigentum auf oft illegalem oder halb-legalem Weg in die Hände weniger neuer Kapitalisten übertragen wurde.

Sehen wir uns als nächstes den Kapitalexport Russlands an:

Der Bestand auswärtiger Direktinvestitionen Russlands stieg nach Daten der russischen Zentralbank von tatsächlich eher vernachlässigbaren 20 Mrd. US$ im Jahr 2000 auf 480 Mrd. US$ im Jahr 2013 an, bevor sie wegen der Wirtschaftskrise, der westlichen Sanktionen und des sinkenden Ölpreises in den Folgejahren wieder etwas abfielen.[18] Allerdings ist die Aussagekraft dieser Kapitalflüsse sehr begrenzt: Drei Viertel der russischen auswärtigen Direkt- und Portfolioinvestitionen fließen allerdings in Länder wie Zypern, die Niederlande oder die britischen Virgin Islands, d.h. in der Regel nicht um dort produktiv investiert zu werden, sondern um Steuern zu umgehen, durch fiktive Transaktionen Einkommen zu generieren usw. und fließen dann meistens wieder zurück ins Heimatland.[19] Wirklicher Kapitalexport im marxistischen Sinne ist das sicherlich nicht. Sind diese Daten also doch kein Anzeichen dafür, dass Russland ein imperialistisches Land ist?

Eher im Gegenteil. Solche Tendenzen sind für entwickelte imperialistische Ökonomien durchaus typisch, auch aus den USA gehen etwa 2/3 ihrer auswärtigen Kapitalflüsse in solche Ziele.[20] Dies ist eine Folge der von Lenin konstatierten zunehmenden Trennung des Kapitaleigentum vom fungierenden Kapital in der Produktion und im Handel: Die Entstehung der imperialistischen Finanzoligarchie, die gewaltige Finanzsummen in ihren Händen konzentriert, für diese aber aufgrund begrenzter produktiver Investitionsmöglichkeiten ständig nach profitablen Anlagen suchen muss, ist die Ursache des Phänomens. Bulatov argumentiert zudem, dass es gerade der im internationalen Vergleich sehr hohe Monopolisierungsgrad des russischen Kapitals ist, der für kleinere Unternehmen die Eintrittsbarrieren in viele Branchen enorm hoch setzt, weshalb diese ihr überakkumuliertes Kapital in Steuerparadiese usw. schaffen.[21]

Das russische Monopolkapital ist auf internationaler Ebene alles in allem den Monopolen aus den USA, China, Deutschland, Japan, Südkorea usw. untergeordnet. Anders als die chinesischen Monopole, die mit denen der USA an der Spitze der imperialistischen Hierarchie stehen und die Vorherrschaft westlicher multinationaler Konzerne auch in Europa selbst herausfordern, kann das russische Kapital vor allem in solchen Ländern expandieren, in denen es bestimmte komparative Vorteile besitzt. Hier zeigt sich, wie enorm wichtig die Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik des Staates im imperialistischen Zeitalter für die internationale Expansion des Kapitals wird. Es ist daher kein Zufall, dass sich die von Batov et al. beschriebenen Trends zum Kapitalexport vor allem in die Republiken der ehemaligen Sowjetunion fortgesetzt haben. Dieser Trend wurde auch durch die seit langem hohen Preise für Öl, Gas und andere Rohmaterialien unterstützt, durch die die russischen Monopolkonzerne gewaltige finanzielle Mittel erwarben, die sie wiederum als Kapital in benachbarte Länder exportierten.[22]

Der russische Handelsvertreter in Kasachstan, Alexander Jakowlew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen führenden Vertreter der Konterrevolution in der UdSSR), berichtete 2017, dass russische Unternehmen jährlich in Kasachstan im Umfang von etwa einer Milliarde US$ investieren würden. Von 41.000 ausländischen Unternehmen in Kasachstan seien ein Drittel, nämlich 13.000 aus der Russischen Föderation.[23]

In Armenien kaufte 2021 der Konzern GeoProMining des russischen Milliardärs Roman Trotsenko einen Mehrheitsanteil von 60% des größten armenischen Bergbauunternehmens ZCMC, das im Südosten des Landes etwa 4000 Arbeiter beschäftigt und eine der Haupteinnahmequellen der Regierung ist. Trotsenko überschrieb sofort Anteile im Wert von 15% der Gesamtaktien auf die armenische Regierung – sicherlich keine reine Freundschaftsgeste, sondern eine Maßnahme zum Ausbau politischen Vernetzung im Interesse zukünftiger Geschäfte.[24]

Insgesamt investierte Russland 2019 und 2020 in 139 verschiedene Projekte im Ausland, davon ca. 30% in ehemaligen Sowjetrepubliken. Die russischen Auslandsinvestitionen beschränkten sich keineswegs auf den Gas- und Ölsektor. Im Gegenteil kam dieser erst an vierter Stelle nach Finanzdienstleistungen (22% der Gesamtinvestitionen), Kommunikations- und Medienunternehmen (14,6%) sowie Software und IT (9,8%) und lagen etwa gleichauf mit russischen Investitionen in Logistik und Baumaterialien. Größter Empfänger von russischem Kapitalexport unter den ex-sowjetischen Republiken war Kasachstan mit 14 verschiedenen Projekten, die 22,6% der gesamten Auslandsinvestitionen in Kasachstan ausmachten. Auf den folgenden Plätzen standen in dieser Reihenfolge Usbekistan, Tadschikistan, Belarus und, da die Krim in der Statistik weiterhin als ukrainisch zählt, die Ukraine. In Tadschikistan kamen im genannten Zeitraum über 35% der ausländischen Investitionen aus Russland, in Turkmenistan 25%. Die russischen Investitionen in der postsowjetischen Welt gehen mit politischer Einflussnahme und dem Aufbau von Beziehungen einher. Es ist sicherlich kein Zufall, dass keins der Hauptzielländer russischer Investitionen für die UN-Resolution zur Verurteilung der Invasion in der Ukraine gestimmt hat.[25]

Doch auch in Syrien, wo Russland seit Jahren die syrische Regierung gegen den IS und andere Rebellen militärisch unterstützt hat, verstärken auch russische Unternehmen ihre Präsenz. So wurde 2019 ein Vertrag mit zwei russischen Unternehmen (Mercury und Velada) zur Ölförderung unterzeichnet. Zudem wurden ebenfalls von russischen Unternehmen große Investitionen in den Hafen von Tartus bekanntgegeben, der der russischen Marine als Flottenstützpunkt im Mittelmeer dient, aber auch für den Export von landwirtschaftlichen Produkten aus Russland ausgebaut werden soll.[26]

Auch zu Pakistan, das immer stärker mit China zusammenarbeitet und Ziel chinesischen Kapitalexports wird, entwickelt Russland zunehmend Beziehungen. Eine russische Handelsdelegation unter Leitung des Monopolkonzerns Gazprom gab 2019 bekannt, in Pakistan 14 Mrd. US$ in den Bau einer Pipeline und unterirdische Lagerungsanlagen zu investieren. Damit soll Erdgas, das von russischen Konzernen teilweise im Iran oder Turkmenistan gefördert wird, u.a. nach Indien und China transportiert werden.[27]

Bei der Bildung zwischenstaatlicher Bündnisse, um die internationale Expansion des Monopolkapitals zu erleichtern und zu fördern, sind die westlichen imperialistischen Länder nach wie vor führend (EU, EWWU, NATO, NAFTA usw.). Doch auch Russland geht mit der Schaffung imperialistischer ökonomischer, politischer und militärischer Bündnisse entsprechende Schritte. Insbesondere zu nennen sind die Eurasische Wirtschaftsunion (EWU) und die Shanghai Cooperation Organisation, die v.a. ein militärisches und sicherheitspolitisches Bündnis ist (wichtigste Mitgliedsländer sind China, Russland, Indien, Pakistan, Kasachstan und der Iran mit einem Beobachterstatus), aber auch zunehmend Projekte zur Wirtschaftszusammenarbeit realisiert. Zur EWU noch mal aus dem oben bereits zitierten Diskussionsbeitrag: „2011 unterzeichneten Russland und eine Reihe anderer Staaten inklusive der Ukraine im Rahmen der EWU die Schaffung einer Freihandelszone; 2012 wurde der Gemeinsame Wirtschaftsraum Russlands, Kasachstans und Weißrusslands beschlossen, der nach dem Vorbild der EU die „vier Freiheiten“ von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften zwischen den drei Ländern vorsieht. Da bisher überwiegend kleinere und schwächere Volkswirtschaften Teil der EWU waren, hätte der Beitritt der Ukraine dieses Bündnis enorm aufgewertet. Das russische Monopolkapital, das in vielen Bereichen innerhalb dieser Union führend ist, hätte dadurch seine Position stärken können. Im Handel innerhalb der EWU ist der russische Rubel die bei weitem vorherrschende Währung, wovon russische Banken und Investmentgesellschaften profitieren.“[28]

Auf ökonomischer, politischer und vor allem auch militärischer Ebene gewinnt das strategische Bündnis Russlands mit China an Bedeutung. Seit dem Amtsantritt Xi Jinpings in China im Jahr 2012 wurden die Beziehungen zwischen beiden Ländern ausgebaut. Xi Jinping sprach schon 2013 davon, das strategische Zusammenwirkung beider Länder habe eine langfristige Perspektive – Grundlage dieser neuen russisch-chinesischen Partnerschaft ist vor allem der gemeinsame Gegner: die USA und NATO. China hat sich allen Aufforderungen des Westens, den russischen Krieg in der Ukraine zu verurteilen, widersetzt. Die westlichen Sanktionen gegen Russland führen zu einer noch verstärkten Umorientierung Russlands weg vom Westen und hin zu China.[29]

Russland hat in den letzten Jahren aber auch alleine zunehmend politisch und militärisch als wichtige Macht in verschiedenen Konflikten interveniert. In Syrien hat Russland zur Verteidigung und Verfolgung seiner geopolitischen, aber auch wirtschaftlichen Interessen jahrelang interveniert und seinen politischen Einfluss in dem Land stark gesteigert. In Libyen hat Russland gemeinsam mit Frankreich die ostlibysche Bürgerkriegspartei des Warlords Khalifa Haftar unterstützt. In der Zentralafrikanischen Republik interveniert Russland seit 2018 mit Waffenlieferungen, Militärberatern sowie mutmaßlich privaten Militärfirmen. In Mali kooperiert seit kurzem die regierende Militärjunta mit Russland, das wiederum Militärausbilder geschickt hat.

Ist Russland also ein imperialistisches Land?

An der Antwort kann nun kein Zweifel mehr bestehen: Ja. Russland ist ein Land, dessen ökonomische Grundlage voll und ganz auf dem Boden des Monopolkapitalismus steht und das in bedeutendem Maße Kapital in seine Nachbarländer exportiert. Es steht ökonomisch dabei auf einer gehobenen Zwischenposition innerhalb der imperialistischen Pyramide – ganz anders als im militärischen Bereich, wie wir weiter unten sehen werden.

Die TKP stellt fest, Russland und China seien „imperialistische Länder, deren Interventionskapazitäten mit ihrem beträchtlichen Wirtschaftspotenzial, mächtigen Monopolen, fortgeschrittenen militärischen Potenzialen und langjährigen politischen und diplomatischen Traditionen immer größer werden.“.

Russland übe mit diesen Kapazitäten einen „störenden Einfluss (…) auf das bestehende Gleichgewicht innerhalb des imperialistischen Systems“ aus, es habe aufgrund seiner „strategischen Position inmitten der wichtigsten Energieressourcen der Weltwirtschaft, seinem natürlichen Reichtum und seiner Wirtschaftsstruktur hat Russland das Potenzial, seinen regionalen Einfluss in eine globale wirtschaftliche und politische Macht zu verwandeln“. „Unter den Faktoren, die die Position Russlands innerhalb des Systems bestimmen, überwiegen die politischen, militärischen und kulturellen Faktoren gegenüber den wirtschaftlichen.[30]

Diesen Einschätzungen ist uneingeschränkt zuzustimmen.

3.2. Die Stellung Mexikos im imperialistischen Weltsystem

Die Kommunistische Partei Mexikos (PCM) analysiert die Stellung Mexikos im imperialistischen System folgendermaßen: „Während die Beziehung der mexikanischen Ökonomie insgesamt und die ihrer Bourgeoisie insgesamt als eine der Abhängigkeit und Unterordnung unter die nordamerikanische beschrieben werden kann, ist klar, dass bei der Monopolfraktion die Beziehungen zwischen Gleichen ablaufen, zwischen gleichrangigen Geschäftspartnern, die die hohen Profitmargen unter sich aufteilen, derer sich eine Ökonomie wie die unsere erfreut“. Lateinamerika sei das „natürliche Jagdgebiet des mexikanischen Kapitals, das einen nicht unerheblichen Sektor der kapitalistischen Geschäfte kontrolliert, bis hin dazu, eine zentrale Kraft der Durchdringung vieler Länder und Regionen zu sein. Die mexikanische Großbourgeoisie ist also ein bedeutender Investor von Kapital in Lateinamerika mit einem Vorstoß, der von Carlos Slim angeführt wird, dessen América Móvil das größte private Unternehmen der Region ist, nur hinter den staatlichen Ölkonzernen.“[31]

Der letzte Punkt ist inzwischen nicht mehr korrekt: América Móvil liegt inzwischen vor der staatlichen Ölgesellschaft Pemex. Beide Unternehmen gehören zu den 500 größten der Fortune-Liste auf Platz 237 und 257. Es ist kein Wunder, dass Carlos Slim zeitweise der reichste Mann der Erde war und auch heute noch hoch auf der Liste steht.

Weitere mexikanische Konzerne mit Multimilliardenumsätzen sind die staatliche Elektrizitätsgesellschaft CFE, der Getränkekonzern FEMSA, der Baumaterialienproduzent Cemex (2020 fünftgrößter Baumaterialienkonzern der Welt), die Grupo Bimbo im Bereich der Nahrungsverarbeitung, die Televisa Gruppe (Medien und Telekommunikation), der Chemiekonzern Mexichem usw. usf.

Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals setzt sich in Mexiko fort. 2019 fanden 312 Fusionen und Übernahmen mit einem Volumen von 18,9 Mrd. US$ statt, 2020 brach das Volumen aufgrund der Pandemie auf 13 Mrd. US$ ein und erholte sich 2021 auf 16,9 Mrd. US$ (344 Fusionen und Übernahmen).[32] Zum Vergleich: Das BIP Mexikos betrug 2020 etwas mehr als eine Billion US$. Das bedeutet, dass mexikanische Konzerne jedes Jahr Fusionen und Übernahmen mit einem Volumen von zwischen 1 und 2% der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes vollziehen.

In einer mexikanischen Zeitung heißt es: „Mexiko hat sich als industrieller Hub zwischen den Amerikas konsolidiert, zusätzlich zu der großen inneren Stärke, die es aufweist. Einige Industriesektoren weisen ein signifikantes Wachstum auf, so wie die Automobilproduktion, Luft- und Raumfahrt und Informationssicherheit“.[33]

Das mexikanische Kapital expandiert auf der ganzen Welt. Mexikanische Unternehmen investierten 2012-2018 zusammengerechnet fast 230 Mrd. US$ an Direktinvestitionen im Ausland[34]. Die internationale Expansion des mexikanischen Kapitals begann in den 1990ern, Fahrt aufzunehmen, angeführt durch den Zementkonzern Cemex, der Anfang der 90er zwei spanische Zementfirmen und dann weitere in den USA und Lateinamerika aufkaufte. Cemex ist ein weltweit führender Baumaterialienhersteller mit globalen Operationen. América Móvil kaufte Telekommunikationsfirmen in den USA, den Niederlanden und Österreich auf.[35]

Grupo Bimbo beispielsweise beschäftigt 134.000 Arbeiter in 32 Ländern fast aller Erdteile. [36]Mexichem ist der größte Hersteller von Plastikrohren in Lateinamerika und ist stark internationalisiert mit über 120 Produktionsstandorten in 50 Ländern.[37]

2014 beteiligten mexikanische Konzerne sich an sieben der 15 größten grenzüberschreitenden Firmenübernahmen, die von lateinamerikanischen Firmen getätigt wurden. América Móvil, Grupo Bimbo, Mexichem, Alsea, Finaccess und Alfa kauften in diesem Jahr zusammen Unternehmensanteile von über 9 Mrd. US$ auf. Andere wichtige „Player“ in der Region sind Brasilien, Chile und Kolumbien.[38]

Insgesamt haben 32 mexikanische Großkonzerne Tochtergesellschaften und Zweigstellen im Ausland (Stand 2016), 70% davon in den USA, die auch mit großem Abstand Hauptzielland mexikanischer Direktinvestitionen sind. Das mexikanische Kapital bevorzugt den US-amerikanischen Markt aufgrund der geografischen Nähe, zahlreichen Investitionsmöglichkeiten, aber auch aufgrund des Freihandelsabkommens NAFTA, das den Kapitalexport stark erleichtert. Auch in Zentral- und Südamerika investieren viele mexikanische Konzerne wie z.B. América Móvil, das zum größten Mobilfunkprovider des Kontinents aufgestiegen ist.[39]

Wie ist die Stellung Mexikos im imperialistischen System zu charakterisieren? Es ist offensichtlich, dass die Einordnung der mexikanischen Ökonomie als „abhängig“ zwar richtig, aber für sich genommen auch sehr irreführend ist. So groß das Machtgefälle gegenüber den USA ist, so deutlich ist auch, dass Mexiko selbst eine imperialistische Rolle auf untergeordneter Stufenleiter spielt: Es verfügt über einen entwickelten Kapitalexport, über Monopolkonzerne mit gewaltigen internationalen Operationen und globaler Reichweite. So wenig es möglich ist, Mexiko mit seinem nördlichen Nachbarland auf eine Stufe zu stellen, so unmöglich ist es auch, es mit seinen südlichen Nachbarländern (Guatemala, Honduras usw.) gleichzusetzen. Genau das zeichnet ein Land aus, das sich in einer Zwischenposition der imperialistischen Pyramide befindet.

4. Das militärische Kräfteverhältnis: USA, China, Russland

Die TKP schreibt in ihren Thesen zum Imperialismus: „Der Imperialismus ist keine Tatsache, die nur auf der wirtschaftlichen Ebene beobachtet wird, sondern ein mehrdimensionales Weltsystem, das politische, ideologische, militärische und kulturelle Aspekte hat. Daher sollte die imperialistische Vorherrschaft und Dominanz nicht nur auf der ökonomischen Ebene analysiert werden, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer politischen, ideologischen, militärischen und kulturellen Dimensionen“ (These 8).

Dieser Hinweis ist wichtig, weil es nicht ausreicht, den Imperialismus aus einem rein ökonomischen Blickwinkel zu betrachten. Die Fähigkeit des (Monopol-)Kapitals, seine Herrschaft aufrechtzuerhalten und durchzusetzen ist maßgeblich von den Beziehungen des Kapitals zum Staat und der Stärke dieses Staates abhängig. Um imperialistische Interessen in der eigenen geografischen Umgebung oder gar auf anderen Kontinenten durchsetzen zu können, ist ein stabiler, durchsetzungsfähiger Staat mit einem starken Militär die Voraussetzung. Für die Bestimmung der Position eines Landes innerhalb der imperialistischen Rangordnung muss daher auch die militärische Stärke mit einbezogen werden.

Hierbei gibt es ein methodologisches Problem: Die militärische Stärke von Staaten ist sehr schwer direkt miteinander zu vergleichen. Es gibt verschiedene Indikatoren, die herangezogen werden können, von denen jeder aber nur eine sehr begrenzte Aussagekraft hat. Beispielsweise sagt die Personalstärke einer Armee nichts über ihre Ausstattung mit moderner Technologie, d.h. ihre Befähigung für einen modernen Krieg aus. Die Rüstungsausgaben eines Staates sind ebenfalls nur sehr begrenzt aussagekräftig, weil die Ausstattung einer Armee nicht allein davon abhängt. Russland ist hier das beste Gegenbeispiel: Als Erbe der Sowjetunion, die neben den USA zweifellos über die stärkste Armee der Welt verfügte, hat die Russische Föderation militärische Ausrüstung, Knowhow und Anlagen für militärische Forschung sowie Erfahrung geerbt, auf denen die forcierte Modernisierung der russischen Streitkräfte nach dem Georgienkrieg 2008 aufbauen konnte. „Russland erbte große Inventare von wichtigen konventionellen Waffensystemen von der Sowjetunion. Ein substanzieller Anteil dieser Systeme bleibt in operationeller Verwendung durch die russischen Streitkräfte, während ein anderer Teil gelagert wird“.[40]

Hinzu kommt ein weiterer entscheidender Faktor: Russland kann aufgrund seiner starken eigenen Rüstungsindustrie sowie weit entwickelter verwandter Industrien (Luft- und Raumfahrt, Nukleartechnologie usw.) und dank entsprechender Anstrengungen zu stärkerer Autarkie seine Rüstungsgüter zu einem hohen Grad selbst herstellen, ist also vergleichsweise unabhängig von Rüstungsimporten. Diese werden in Russland selbst hergestellt, zu deutlich niedrigeren Kosten, als dies in den USA oder Deutschland der Fall wäre. Diesen Effekt genau zu quantifizieren ist schwierig, da es keinen gesonderten Index für Kaufkraftparität bei Militärgütern gibt. Auch aus anderen Gründen sind die Kosten in Russland aber deutlich geringer, beispielsweise sind die Gehälter für Armeeangehörige geringer als in westlichen Ländern. Im Ergebnis dieser beiden Faktoren ist die russische Armee weitaus stärker, als es ihre Rüstungsausgaben im Vergleich zu den USA oder europäischen Ländern vermuten lassen würden (Ebd.).

Die „Stärke“ einer Armee lässt sich also nicht in einer simplen Zahl ausdrücken. Sie ist sowieso nicht absolut zu sehen, sondern hängt stark von den Bedingungen ab, unter denen sie zum Einsatz kommt. Eine Bodenoffensive in benachbartes Territorium (z.B. Russland in der Ukraine) stellt andere Herausforderungen an eine Armee als eine Offensive in Übersee (z.B. USA in Europa im Zweiten Weltkrieg). Ein vorwiegend aus der Luft geführter Krieg (z.B. NATO in Jugoslawien) ist anders als ein Krieg am Boden. Ein Seekrieg (z.B. potenziell USA gegen China im Südchinesischen Meer) erfordert wiederum ganz andere Fähigkeiten usw. Das bedeutet, dass die Tatsache, dass ein Land militärisch „stärker“ ist als ein anderes, keine einfachen Schlussfolgerungen erlaubt, dass das stärkere Land das schwächere in einem realen Krieg auch besiegen würde (siehe z.B. USA in Vietnam). Das Ergebnis eines Krieges hängt von einer Vielzahl jeweils entscheidender Faktoren ab, wobei Truppenstärke und militärische Ausrüstung nur ein (wichtiger) Faktor sind – andere sind z.B. Gelände, Witterung, die Kampfmoral auf beiden Seiten, die Güte der Versorgungslinien und die Haltung der örtlichen Bevölkerung.

Mit all diesen Einschränkungen im Kopf können wir einen Vergleich der militärischen Kapazitäten verschiedener Länder aber trotzdem versuchen, denn ohne die Einbeziehung dieses Faktors ist es auch nicht möglich, die Position eines Landes innerhalb der imperialistischen Pyramide korrekt zu bestimmen. Ein erster Blick auf die Militärausgaben zeigt, dass die USA mit Abstand die größten Summen der Welt für Rüstung ausgeben. Im Jahr 2020 haben die USA 767 Milliarden US-Dollar für ihr Militär ausgegeben, was etwas weniger ist als der Höchststand von 2010 (865 Mrd. US$) – sicherlich eine enorme Summe, aber auch weit entfernt von Ausgaben „im Trillionen-Bereich“, wie Klara meint.[41]

Grafik 3: Verteilung der Rüstungsausgaben auf die größten Länder, 2019

Zweitgrößter Aufrüster ist, seinerseits mit enormem Abstand zu Platz 3, die VR China. Die unübertroffenen Militärausgaben der USA werden oft herangezogen, um eine vermeintlich unangefochtene militärische Dominanz der USA zu belegen. Doch wie groß ist der Abstand zwischen den USA und China wirklich? Tatsächlich muss dieser Abstand relativiert werden. Ein gewaltiger Teil des US-amerikanischen Militärbudgets in den letzten Jahren wurde für die laufenden Kriegseinsätze des US-Militärs, insbesondere für die extrem teuren Besatzungen in Afghanistan und Irak, aufgebracht. Es ist leicht verständlich, dass dieses Geld somit nicht der Aufrechterhaltung militärischer Übermacht gegenüber den Rivalen (Russland und China) diente. Es floss nicht in die Entwicklung neuer Technologien, nicht in die Vergrößerung des Arsenals, die Ausbildung von Truppen usw. Ein direkter Vergleich der Ausgaben der USA und Chinas in Kaufkraftparität zeigt, dass China seine Militärausgaben kontinuierlich und rasant steigert. Wenn nur die direkten Kosten für die Kriege in Irak und Afghanistan abgezogen werden, hatte China bereits ab 2017 fast den Umfang der US-amerikanischen Ausgaben erreicht. James Stavridis, Vier-Sterne-Admiral aus den USA, schreibt dazu: „China gibt sein Geld sehr klug aus. Es konzentriert sich extrem – nicht nur auf offensive Cyberwaffen, sondern auch auf seine Operationen im Weltraum, seine Hyperschall-Marschflugkörper und seine Tarnkappentechnologien. China hat zugesehen, wie die Vereinigten Staaten Billionen von Dollar ausgaben, sich in zwei teure Kriege im Irak und in Afghanistan verstrickten, und sagte: “Wir brauchen das alles nicht. Wir werden uns nicht an solchen Kriegen beteiligen. Wir werden unsere Ausgaben sehr intelligent einsetzen.”.[42]

Grafik 4: Militärausgaben der USA (abzüglich der Kosten des Krieges in Irak und Afghanistan) und Chinas

Wie sieht es mit Russland aus? Im direkten Vergleich mit den USA erscheint Russland anhand seiner Militärausgaben auf den ersten Blick als zwar bedeutende, aber nicht ansatzweise konkurrenzfähige Macht: Mit 65 Mrd. US$ im Jahr 2019 lag es gerade mal auf dem vierten Platz weltweit, knapp hinter Indien, während die USA 11mal höhere und China 4mal höhere Ausgaben tätigte. Mit 3,9% des BIP ist die Last der Rüstungsausgaben für die russische Wirtschaft allerdings schon sehr hoch (Wezeman 2020).

Oben wurde bereits ausgeführt, dass die militärische Stärke Russlands überproportional größer ist als diese Daten vermuten lassen. Werden die Militärausgaben mit dem gewöhnlichen, bei der BIP-Umrechnung verwendeten Index für Kaufkraftparität umgerechnet, entsprechen die russischen Militärausgaben im Jahr 2019 166 Mrd. US$ und die chinesischen 500 Mrd. US$. Der Unterschied zu den USA mit 732 Mrd. US$ ist natürlich für Russland immer noch groß, aber erklärt besser, weshalb die russische Armee in vieler Hinsicht für die USA ein sehr ernstzunehmender Gegenspieler ist (Ebd.).

Russland hat etwa seit dem Georgienkrieg 2008 mit einer rapiden Modernisierung seiner Streitkräfte begonnen, wobei ein besonderer Fokus auf nukleare und Raketentechnologie lag. Russland gab einen vergleichsweise sehr hohen Teil seiner Militärausgaben für die Anschaffung neuen Geräts aus (mit 40% der Militärausgaben liegt dieser Anteil etwa doppelt so hoch wie in Deutschland, Frankreich und Großbritannien) (Ebd.).

Doch sehen wir uns einmal an, wie die Armeen der drei stärksten Militärmächte der Welt aufgestellt sind. Achtung: Diese Zahlen beziehen sich auf das gesamte Inventar, d.h. nicht nur auf Ausrüstung, die tatsächlich momentan im Dienst ist (z.B. sind von den 20 angeführten Flugzeugträgern der USA momentan „nur“ 11 aktiv). Trotzdem geben die Zahlen sicherlich einen Einblick in die ungefähre Ausstattung der drei Länder.

Tabelle 9: Kampfstärke der Armeen der USA, Chinas und Russlands (Zahlen teilweise gerundet)


USAChinaRussland
Landstreitkräfte


Personalstärke1,4 Mio.2,2 Mio.1,2 Mio.
Reservisten850.0008 Mio.2 Mio.
Kampfpanzer6.6005.80012.200
Gepanzerte Fahrzeuge41.20014.10026.800
Artillerie4.2007.10018.500
Luftwaffe


Luftüberlegenheits- und Abfangjäger4611.049792
Mehrzweckjäger2.4171.130832
Bomber und Luftnahunterstützung566120880
Helikopter4.7411.3551.724
Flotte


Flugzeugträger2041
Zerstörer943818
Fregatten05411
Korvetten227383
U-Boote697459
Nuklear


Atomsprengköpfe6.5002806.500

Quelle: armedforces.eu.

Am ehesten verfügen die USA noch bei den Luftstreitkräften über eine einigermaßen deutliche Überlegenheit, da sie über mehr Flugzeuge verfügen als die chinesische und russische Luftwaffe und diese zudem moderner sind. Russland und China verwenden vorwiegend weiterhin Kampfflugzeuge der vierten Generation wie die MiG-29, MiG-31, Su-27 bzw. Shenyang J-11 und J-16, Chengdu J-10, Xian JH-7 und nur wenige hochmoderne Tarnkappenjäger der 5. Generation (Su-57, Chengdu J-20). Im Gegensatz dazu haben die USA bereits einige Hundert solcher Flugzeuge (F-35, F-22) in Dienst gestellt.

Von besonderer Bedeutung ist der Bereich der Flottenrüstung, weil sich ein potenzieller Krieg zwischen den China und den USA höchstwahrscheinlich auf See abspielen würde. Im entscheidenden Bereich der Seestreitkräfte hat China mit seiner Flotte die der USA bezüglich der Anzahl der Schiffe bereits überflügelt: Mindestens 360 chinesische Kriegsschiffe stehen 297 US-amerikanischen gegenüber.[43] Andere Aufstellungen kommen zu anderen Zahlen, weil sie je nachdem andere Elemente mitzählen oder weglassen.

Die russischen und chinesischen Flugzeugträger sind anders als die der USA alle aktiv (weshalb die Diskrepanz in der Statistik größer erscheint als in Wirklichkeit), allerdings sind zwei der vier chinesischen lediglich vergleichsweise kleinere „Hubschrauberträger“, die aber auch als Trägerschiff für bis zu 30 Kampfflugzeuge fungieren können.[44] Flugzeugträger (inklusive „Hubschrauberträgern“) sind vor allem für die globale Projektion militärischer Macht wichtig. Mit anderen Worten: Man braucht sie nicht für die Landesverteidigung im Fall einer feindlichen Invasion, sondern um selbst Kriege weit weg vom eigenen Festland führen zu können.

Auch die russische Flotte ist eine der stärksten der Welt: Mit zwar nur einem Flugzeugträger und 18 Zerstörern, 11 Fregatten, 83 Korvetten und 59 U-Booten ist sie, außer bei Flugzeugträgern, nicht wesentlich kleiner als die der USA. Allerdings müssen im direkten Vergleich auch die Schiffsklassen berücksichtigt werden: Die US Navy setzt vor allem auf Zerstörer, also vergleichsweise größere Kriegsschiffe, während China und Russland eher kleinere Schiffe führen (Fregatten und Korvetten). Somit ist die Kampfkraft der Flotte der USA sicherlich höher, als es ein Vergleich lediglich der Schiffsanzahl suggerieren würde. Bei Atomwaffen liegen die USA und Russland etwa gleichauf, andere Quellen gehen von einer leichten zahlenmäßigen Überlegenheit Russlands aus. Russland ist ebenfalls führend in der Entwicklung von Hyperschallraketen. Dabei handelt es sich um Flugkörper, die mit Hyperschallgeschwindigkeit (über Mach 5) überwiegend innerhalb der Atmosphäre fliegen. Deshalb und aufgrund ihrer nicht-ballistischen Flugbahn sind sie für Raketenabwehrsysteme nur schwer zu entdecken und abzuschießen. Da sie auch nukleare Sprengköpfe ausliefern können, wären dadurch die USA im Falle eines Atomkrieges verwundbar. Auch die USA und China investieren stark in die Entwicklung von Hyperschallwaffen.[45]

Jedenfalls ist klar: Eine erdrückende militärische Überlegenheit der USA sähe wirklich anders aus. Würde es zu einem mit konventionellen Waffen geführten Seekrieg zwischen den USA und China kommen, der vermutlich in der Nähe des chinesischen Festlandes geführt werden würde, hätte China sicherlich gute Chancen, diesen Krieg zu gewinnen. Auch bei einem hypothetischen Krieg auf russischem Boden oder in direkter Nachbarschaft Russlands (z.B. im Baltikum) wären die Siegeschancen der NATO wohl zweifelhaft. Zwar hat die NATO eine weitaus größere Armee als Russland, doch stieße sie mit Russland auf einen erstklassigen Gegner, der den Vorteil von besseren und kürzeren Versorgungslinien (während die USA ihre Versorgung über den Atlantik sichern müssten und dort verwundbar für die modernen russischen Antischiffsraketen wären), einer gesicherten Treibstoffversorgung, Kenntnis des Geländes, einer unterstützenden Zivilbevölkerung usw. in die Waagschale werfen würde.

Russland und China haben in den letzten Jahren auch militärisch ihre Zusammenarbeit immer weiter vertieft und gemeinsame Militärübungen abgehalten. Mit der NATO auf der einen Seite und dem Bündnis von Peking und Moskau auf der anderen Seite existieren heute zwei große militärische Blöcke auf der Welt, die sich immer feindlicher gegenüberstehen. Die Überlegenheit der NATO steht dabei auf immer mehr Gebieten ernsthaft infrage oder besteht bereits nicht mehr.

5. Die Dependenztheorie und ihre Mängel

Wir haben uns nun die grobe Struktur und Hierarchie des Weltsystems anhand verschiedener Daten angesehen. Trotzdem gibt es Genossen, auch in der internationalen kommunistischen Bewegung, die glauben, den Imperialismus als ein System einseitiger Abhängigkeit analysieren zu können – mehr noch, diese Abhängigkeitsbeziehungen oder gar „Kolonialismus“ (so z.B. Paul Oswald) seien sogar der Kern des Imperialismus. Diese Auffassungen sind letztlich Varianten der Dependenztheorie, die daher hier kurz behandelt und auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden soll.

Die Dependenztheorie entstand mit durchaus starken theoretischen Argumenten als Antwort auf die falschen und in apologetischer Absicht geschriebenen Behauptungen der bürgerlichen Modernisierungstheorie: Diese ging bzw. geht davon aus, dass sich alle Länder auf demselben Weg linear hin zur „Moderne“ entwickelten. Die Rückständigkeit großer Teile der Welt, v.a. südlich Europas und Nordamerikas, habe demnach nichts mit der kapitalistischen Entwicklung im „Norden“ zu tun, sondern sei einfach auf veraltete Technologien und gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen. Die politisch-ideologische Absicht dieser Theorie ist offensichtlich: Kolonialismus, Abhängigkeitsbeziehungen, der Transfer von Ressourcen und Wert in die führenden imperialistischen Länder, die Ziele und Wirkung imperialistischer Raubkriege usw. usf. sollen verschleiert werden. Die Verdammten dieser Erde sollen einen Ausweg aus ihrer Misere nicht im Sozialismus suchen, sondern die kapitalistische Entwicklung des Nordens nachahmen, um irgendwann denselben Wohlstand genießen zu können (dass diese Position Ausbeutung und gesellschaftliche Ungleichheit in den reichsten imperialistischen Ländern erst gar nicht für allzu beachtenswert hält, sollte nicht überraschen).

Gegen diese reaktionäre Theorie erhoben nun Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler vor allem, aber keineswegs nur aus Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ Einspruch. Dabei lässt sich die Dependenztheorie (besser: die Dependenztheorien) in eine bürgerliche Strömung (z.B. Raúl Prebisch, Johan Galtung oder der spätere brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso) und eine Strömung unterteilen, die versuchte, die weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten mithilfe marxistischer Konzepte zu erfassen (z.B. Eduardo Galeano, Ernest Mandel, Theotônio dos Santos, Samir Amin usw.).

Eindrücklich sind die Formulierungen in Eduardo Galeanos berühmten Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“. Galeano betont: „Die Unterentwicklung ist keine Phase der Entwicklung, sondern ihre Folge“.[46] Über seinen Heimatkontinent Lateinamerika schreibt er: „Für die, die die Geschichte als ein Wettrennen betrachten, sind die Rückständigkeit und das Elend Lateinamerikas nichts weiter als das Ergebnis seines Mißerfolges. Aber die Geschichte der Unterentwicklung Lateinamerikas ist ein Kapitel der Entwicklung des Weltkapitalismus. Unsere Niederlage war seit jeher ein untrennbarer Bestandteil des fremden Sieges; unser Reichtum hat immer unsere Armut hervorgebracht und dazu gedient, den Wohlstand anderer zu näheren: den der Imperien und ihrer einheimischen Aufseher“.[47] Er stellt den engen Zusammenhang von Armut und Reichtum im kapitalistischen Weltsystem her: „Letzten Endes läßt sich auch in unserer Zeit das Bestehen reicher kapitalistischer Zentren nicht ohne das Bestehen armer und unterjochter Randgebiete erklären: Die einen und die anderen gehören zum selben System“.[48]

Entscheidendes Strukturmerkmal des kapitalistischen Systems auf globaler Ebene ist also, ähnlich wie bei Klara, Paul usw., die Abhängigkeit. Diese definiert dos Santos so: „Unter Abhängigkeit verstehen wir eine Situation, in der die Wirtschaft bestimmter Länder bedingt ist durch die Entwicklung und Expansion der Wirtschaft eines anderen Landes, der sie unterworfen ist“.[49] Die Mechanismen dieser Abhängigkeit wurden von verschiedenen Autoren der Theorie unterschiedlich analysiert. Für manche Autoren steht der „ungleiche Tausch“ im Vordergrund, wodurch ständig Wert aus der Peripherie in die Zentren transferiert werde, für andere die „strukturelle Heterogenität“ bzw. der „Dualismus“ der Produktionsstrukturen in der Peripherie, was eine gleichmäßige Entwicklung dieser Länder verhindere. Andere betonen v.a. die Rolle des ausländischen Kapitals aus den imperialistischen Zentren, dessen Agieren in der Peripherie ebenfalls dazu beitrage, Entwicklung zu blockieren.

Wieder Galeano: „Diese multinationalen Konzerne gehören jedoch nicht den zahlreichen Nationen, in deren Gebiet sie tätig sind; sie sind ganz einfach in dem Maße multinational, in dem sie aus allen Himmelsrichtungen große Erdöl- und Dollar-Ströme in die Machtzentren des kapitalistischen Systems pumpen. (…) die Gewinne um die die armen Länder gebracht werden, gelangen nicht nur schnurstracks in die wenigen Städte, in denen ihre wichtigsten Kouponschneider wohnen, sondern werden auch teilweise wieder investiert, um das internationale Geschäftsnetz zu festigen und auszubreiten. Die Kartellstruktur bringt die Beherrschung zahlreicher Länder und die Infiltration zahlreicher Regierungen mit sich; das Erdöl durchtränkt Präsidenten und Diktatoren und verschärft die strukturellen Mißbildungen der Länder, die ihm unterliegen.“.[50] Dadurch sei eine eigenständige Entwicklung der Bourgeoisie in Lateinamerika verhindert worden: „sie (die Bourgeoisie, Th.S.) erreichte das Stadium der Altersschwäche, ohne sich je entwickelt zu haben. Unsere Bourgeois sind heute Vertreter oder Funktionäre der allmächtigen ausländischen Konzerne“.[51]

Zudem wird oft innerhalb der Länder ebenfalls eine Zentrum-Peripherie-Aufteilung konstatiert: So gebe es auch in den Ländern des Zentrums eine Peripherie, die nicht in den kapitalistischen Weltmarkt integriert sei, ebenso wie es in den Peripherieländern ein kapitalistisch integriertes Zentrum gebe. Kommunikation finde vor allem zwischen den integrierten Sektoren der Zentrums- und Peripherieländer statt, wobei diese in ersteren wesentlich größer seien als in letzteren.[52] Das Eindringen der Konzerne der imperialistischen Zentren, die Ausrichtung der Produktion auf den Export in die Zentren, die Durchsetzung der Werteordnung der Zentren führten zu einer Situation, die „nicht nur die Bildung einer nationalen Unternehmerschicht verhindert oder begrenzt, (…) sondern auch die einer Mittelklasse (Intellektuelle, Wissenschaftler, Techniker usw. einbegriffen) und sogar die einer Arbeiterklasse“.[53]

Wir sehen, dass die Dependenztheorien als Beitrag zur Imperialismusanalyse intendiert waren. Imperialismus wurde von ihnen dabei unterschiedlich verstanden. Der norwegische Friedensforscher und Dependenztheoretiker Johan Galtung bietet folgende Definition des Imperialismus an: „Imperialismus ist eine Beziehung zwischen einer Nation im Zentrum und einer Nation an der Peripherie, die so geartet ist, daß: 1) Interessenharmonie zwischen dem Zentrum in der Zentralnation und dem Zentrum in der Peripherienation besteht, 2) größere Interessendisharmonie innerhalb der Peripherienation als innerhalb der Zentralnation besteht, 3) zwischen der Peripherie in der Zentralnation und der Peripherie in der Peripherienation Interessendisharmonie besteht“.[54]

Dieses Zitat ist deshalb interessant, weil es verschiedene grundlegende Schwachstellen der dependenztheoretischen Betrachtung des Imperialismus verdeutlicht:

Erstens die Annahme einer „Interessenharmonie“ zwischen „dem Zentrum der Zentralnation“ (d.h. der Bourgeoisie der imperialistischen Länder) und „dem Zentrum in der Peripherienation“ (der Bourgeoisie in dem abhängigen Land). Diese Annahme sollte durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte endgültig widerlegt sein. Der Aufstieg und die Entwicklung einer monopolkapitalistischen Klasse in Ländern wie Indien, Brasilien, Südafrika, der Türkei usw. zeigt, dass vielmehr die Kapitalisten dieser Länder sich in ihren Interessen mit denen der alten „Triade“ in einem ständigen Wechselspiel aus Überschneidung und Gegensatz, aus Konflikt und Kooperation befinden.

Zweitens die Annahme eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen den Ausgebeuteten der herrschenden imperialistischen und der abhängigen Länder. Tatsächlich ist jedoch der Klassenkampf auf nationaler Ebene vom Kräfteverhältnis des Klassenkampfes auf internationaler Ebene abhängig, weshalb jeder Sieg der Arbeiterklasse in einem Land auch dem Kampf in anderen Ländern hilft.

Drittens krankt diese Analyse an einer Verabsolutierung von Abhängigkeit, die schematisch und starr verstanden wird und nicht als dynamische Beziehung innerhalb eines grundsätzlich hierarchischen Systems. Nach der undialektischen Zentrum-Peripherie-Vorstellung der Dependenztheorie existiert zwischen diesen beiden Sphären eine starre Trennung, ganz ähnlich der von Klara und Paul hervorgehobenen angeblichen Spaltung der Welt in „unterdrückte“ und „unterdrückende Nationen“. Sicherlich sind die Begriffe Zentrum und Peripherie als grobe Einteilungen, als zwei Pole (ähnlich wie Basis und Spitze in der Pyramide) nicht per se falsch. Absurd ist es jedoch, mit diesem Maßstab an alle Länder der Welt heranzugehen und sie dann eindeutig in die eine oder die andere Kategorie einordnen zu wollen. Die oben untersuchten Daten haben gezeigt, wie viel komplexer, widersprüchlicher und abgestufter das imperialistische Weltsystem in Wirklichkeit ist. Auch ist die in der Dependenztheorie explizit zugrunde gelegte Position offensichtlich falsch, wonach es den abhängigen Ländern unmöglich sei, in der imperialistischen Hierarchie aufzusteigen. In diesem Beitrag wurde eine Vielzahl an Daten präsentiert, die den Aufstieg einer Reihe von Ländern der ehemaligen „Dritten Welt“ in gehobene Zwischenpositionen des imperialistischen Weltsystems oder gar in das Spitzensegment des Systems (Südkorea, Taiwan, Singapur, China) belegen. Die Annahme, wonach Abhängigkeit und die Aktivitäten ausländischen Kapitals zwangsläufig die Entwicklung moderner, konkurrenzfähiger Produktionsstrukturen und einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft blockieren, hat sich nicht bestätigt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Wirkung solcher Abhängigkeiten differenzierter zu betrachten ist: Wie erfolgreich und in welcher Form die Kapitalakkumulation erfolgt, ob sie z.B. eine Akkumulation von Geldkapital in den Händen einer schmalen herrschenden Klasse ist, das zu spekulativen Zwecken verwendet wird, oder ob es tatsächlich zu einer Entwicklung des Produktionssystems und ausreichenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Hierbei können politische Stabilität und Eigenständigkeit des kapitalistischen Staates, seine außenpolitische (auch militärische Durchsetzungsfähigkeit), überkommene Gesellschaftsstrukturen, Werteorientierungen, Traditionen, die konkrete historische Form der Entstehung Bourgeoisie usw. usf. eine Rolle spielen. Aber die Tatsache anzuerkennen, dass es durchaus möglich ist, die Position eines Landes innerhalb der imperialistischen Hierarchie aufzuwerten, ist ebenso wichtig wie zu sehen, dass es diese Hierarchie gibt.

Zur Verteidigung der Dependenztheoretiker muss man hier sagen, dass die Theorie vor allem in den 1960ern und 1970ern unter dem Eindruck einer massiven Übermacht des US-Imperialismus und der Triade innerhalb der kapitalistischen Welt entwickelt wurde und heute, wo sich die Konstellation stark verändert hat, deshalb in ihrer Reinform auch kaum noch vertreten wird. Dies erkennt auch Klara an, die sagt, dass es „zwar möglich, aber nicht so einfach (sei), in den Club der Räuber zu kommen“. Umso schwerer verständlich ist jedoch, dass auf der anderen Seite für eine Aufrechterhaltung dieser schematischen Trennung argumentiert wird, wie es auch Klara mit ihrer Verabsolutierung der Unterscheidung in „unterdrückende“ und „unterdrückte Länder“ tut.

Viertens ist ein weiterer entscheidender Mangel der dependenztheoretischen Imperialismusanalyse, dass sie den Imperialismus allein als Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie versteht (ähnlich auch Paul Oswald in seinem Beitrag). In Wirklichkeit sind die Widersprüche zwischen den Imperialisten, die keineswegs nur aus Konflikten um die Aufteilung der „Kolonien“ hervorgehen, mindestens ebenso relevant für die Entwicklungsdynamik des imperialistischen Weltsystems. Diese Widersprüche entstehen aber gerade auch (und sogar in höherem Maße) aus der gegenseitigen Durchdringung der führenden imperialistischen Länder mittels ihres Kapitalexports, mit der sie sich auf dem Terrain des jeweils anderen Konkurrenz machen. So ist beispielsweise die grundlegende Wurzel des Konflikts zwischen Russland und der NATO darin zu finden, dass die russische Bourgeoisie nach stärkerer (ökonomischer, politischer, militärischer) Eigenständigkeit vom Westen strebt und die abhängige Position, in der sie sich in den 1990ern befand, teilweise aufgebrochen hat. Ein Hauptstreitpunkt zwischen China und den USA und die Ursache des Handelskrieges liegt darin, dass die leistungsfähige chinesische Industrie in den USA dem dortigen Kapital massive Konkurrenz macht. Weitere Beispiele ließen sich leicht finden.

Ein fünfter Aspekt, der in dem Zitat von Galtung nicht zum Ausdruck kommt, aber ebenfalls typisch für Positionen ist, die aus der Dependenztheorie abgeleitet werden, kann folgendermaßen formuliert werden: Die Sichtweise der Dependenztheorie ist problematisch, „Weil sie die Bourgeoisien der „abhängigen“ Länder als eigene Klassenkräfte mit eigenen kapitalistischen/imperialistischen Ambitionen unterschätzt und damit politisch aus der Schusslinie nimmt. Die Dependenztheorien haben damit eine klassenneutrale Tendenz, weil sie letzten Endes die beherrschten Klassen der „abhängigen“ Länder gemeinsam mit der Bourgeoisie dieser Länder unter den Begriff „Abhängigkeit“ fassen. In Lateinamerika äußert sich das beispielsweise bis heute oft darin, dass sozialistische Kräfte faktisch „den Imperialismus“ mit den USA gleichsetzten und die einheimische Bourgeoisie nicht als Gegner erkennen oder sogar, vor allem wenn sie eine größere Unabhängigkeit von den USA anstrebt, als Verbündeten begreifen. In relativ entwickelten kapitalistischen Ländern wie Brasilien, Argentinien, Mexiko oder Chile wurden und werden „linke“ bürgerliche Regierungen (Kirchner in Argentinien, Lula/Rousseff in Brasilien, Bachelet in Chile, López Obrador in Mexiko) als Teil einer „fortschrittlichen“ oder gar antiimperialistischen Tendenz verstanden“.[55]

Auch die TKP entwickelt eine korrekte Kritik an den Einseitigkeiten der Dependenztheorie, die sich ebenfalls auf die von Alexander, Klara und Paul vertretene Position übertragen ließe: „Der Imperialismus kann nicht als Vorherrschaft der entwickelten kapitalistischen Länder über die unterentwickelten Länder aufgefasst werden. Außerdem kann der Imperialismus keineswegs als alleinige Beziehung oder Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie oder zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern betrachtet werden“ (These 10). Gleichzeitig warnt sie zurecht davor, die hierarchische Struktur dieser Beziehungen zu unterschätzen: „Man ist gut beraten, Analysen zu vermeiden, die zwar die Charakteristika des Imperialismus als ein die ganze Welt durchdringendes System und die von jedem Land in einer bestimmten Phase des Kapitalismus übernommenen imperialistischen Rollen betonen, aber die imperialistische Hierarchie selbst trivialisieren“ (These 18)

Die Dependenztheorie ist letztendlich ungeeignet, das Wesen des Imperialismus richtig zu erfassen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch viele wertvolle Beiträge geleistet hätte – ihre Kritik an der verfälschenden Darstellung von „Entwicklung“ in den Modernisierungstheorien war sicherlich berechtigt, auch wenn sie in das andere Extrem überschießt und nachholende Entwicklung bzw. den Aufstieg im imperialistischen Weltsystem ganz ausschließt. Die Dependenztheorien haben auch dazu beigetragen, die Mechanismen von Abhängigkeit und anhaltender Unterentwicklung durch strukturelle Heterogenität, ungleichen Tausch, die Herausbildung inkohärenter und monokultureller Produktionsstrukturen usw. besser zu verstehen. Von diesen Erkenntnissen sollten wir profitieren, ohne deshalb die vielen falschen Annahmen dieser Theorie zu übernehmen.

6. Das Imperialismusverständnis Lenins und die „imperialistische Pyramide“

An diesem Punkt haben wir uns genug Daten angesehen, um allgemeine Schlussfolgerungen für die Analyse des Imperialismus zu ziehen. Ist Lenins Theorie heute noch das geeignete Mittel, um den Imperialismus zu analysieren?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir diese Theorie zunächst richtig verstehen.

Klara will Lenin so verstanden wissen, „dass es erstens Großmächte gibt, die sich qualitativ vom Rest der Welt unterscheiden, zweitens, dass diese Großmächte die Welt beherrschen, drittens dass der Widerspruch zwischen ihnen darin besteht, wie sie die Beute unter sich aufteilen“; „Imperialismus ist nach Lenin die Beherrschung der Welt durch wenige Monopole und ihre Staaten.“; „Dieses Bild beinhaltet konstitutiv, dass es eine Welt ist, wo auf der einen Seite die „Handvoll Räuber“ und auf der anderen Seite „die Beraubten“, auf der einen Seite „die unterdrückenden“, auf der anderen Seite „die Unterdrückten“ stehen. Wenn dieses Bild nicht mehr stimmen soll, dann handelt es sich genau genommen nicht mehr um Imperialismus.“

Klara argumentiert, dass Lenins Aufteilung der Welt in eine „Handvoll Räuber“ auf der einen Seite und „die Unterdrückten“ auf der anderen Seite zur Definition des Imperialismus gehört. Hierzu ist als erstes zu sagen, dass Lenin selbst vor einer schematischen Anwendung solcher Definitionen des Imperialismus warnte: Man dürfe nicht „vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann“.[56]

Um nicht in diese Falle zu gehen, ist man gut beraten, erst einmal zu verstehen, was das Wesentliche an Lenins Begriff des Imperialismus ist. Lenin selbst schreibt dazu: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“.[57] In seiner berühmten längeren Definition zählt er dann die fünf Merkmale des Imperialismus auf: Monopolisierung, Finanzkapital, Kapitalexport, internationale monopolistische Kapitalistenverbände und die Aufteilung der Welt unter die Großmächte.[58] Die Aufteilung der Welt unter die Großmächte ist also für ihn ein Merkmal des Imperialismus, aber deutlich wird auch: Die grundlegende Entwicklung liegt für ihn als Marxist die Durchsetzung einer neuen Qualität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Monopolkapitals. Mit dem Monopolkapital gehen nicht nur eine enorme Machtkonzentration in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht und eine Veränderung der internationalen Verflechtungen einher, sondern auch eine Modifikation der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise: Die Preisbildung verändert sich, es kommt zu systematischen Abweichungen der realisierten Marktpreise von den Produktionspreisen (die Marx im 3. Band des Kapitals darstellt), der Kapitalismus tendiert systematisch zur Überakkumulation und drängt daher zur globalen Expansion des Kapitals. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieser Umstand allein für Lenin das Wesentliche am Imperialismus war.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, also in der Epoche Lenins, wurde die Welt vor allem in Form der Kolonialpolitik unter einer Handvoll Großmächte aufgeteilt. Dass Lenin deshalb von einer „Handvoll“ schreibt, darf also nicht verwundern – es ist schlicht die Beschreibung einer offensichtlichen Realität zu seiner Zeit. Lenin analysierte das, was er vorfand und polemisierte heftig gegen Leute wie Kautsky, die sich durch abstrakte Überlegungen eine hypothetische Phantasiewelt wie den friedlichen „Ultra-Imperialismus“ flüchteten. Das bedeutet aber auch, dass wir seine Analyse nicht als fertige Beschreibung der heutigen Welt verstehen dürfen, sondern lediglich als Instrumentarium, um das, was wir heute an empirischem Material vorfinden, einzuordnen und zu analysieren. Zu Lenins Zeiten bestand der Großteil der Welt aus Kolonien oder Halbkolonien mit sehr eingeschränkter Souveränität. Der Übergang zum Monopolkapitalismus schuf die ökonomischen Grundlagen für eine recht einseitige Beherrschung der kolonialen und halbkolonialen Länder durch relativ wenige Staaten: Allen voran die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, wobei auch kleinere oder weniger entwickelte Staaten (Portugal, Spanien, Belgien, Niederlande, Japan) Kolonien erwerben konnten.

Nichts deutet aber darauf hin, dass Lenin eine spezifische Anzahl imperialistischer Länder für ein Wesensmerkmal der imperialistischen Epoche hielt. Im Gegenteil ist auffällig, dass er in seinem Werk keine definitive Liste der imperialistischen Staaten aufstellt – was ja leicht möglich sein sollte, wenn er von einer starren und absoluten Trennung zwischen imperialistischen und unterdrückten Ländern ausgegangen wäre.

Beispielsweise führt er auf einer Liste der Wertpapieremissionen auch Österreich-Ungarn, Russland, Italien, Japan, Holland, Belgien, Spanien, die Schweiz usw. an, um aber darauf hinzuweisen, dass die vier größten (England, USA, Frankreich, Deutschland) zusammen fast 80% des Wertpapierhandels kontrollieren und der Rest „so oder anders die Rolle des Schuldners“ spielen müsse.[59] An einigen anderen Stellen vergleicht er lediglich Frankreich, England und Deutschland miteinander. War Lenin also der Ansicht, dass Russland, Italien, Japan, die Niederlande usw. keine imperialistischen Länder seien? Ganz im Gegenteil! Lenin wird dazu sehr deutlich: „Die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital, im Zusammenhang mit der Bildung kapitalistischer Monopole, hat also auch in Rußland enorme Fortschritte gemacht.“.[60] Und allgemein schreibt er über die imperialistischen Großmächte: „ein beträchtlicher Unterschied bleibt dennoch bestehen, und unter den genannten sechs Ländern finden wir einerseits junge kapitalistische Länder, die ungewöhnlich rasch vorangeschritten sind (Amerika, Deutschland, Japan); anderseits Länder alter kapitalistischer Entwicklung, die sich in der letzten Zeit viel langsamer entwickelt haben als die ersteren (Frankreich und England); und schließlich ein Land, das in ökonomischer Hinsicht am meisten zurückgeblieben ist (Rußland), in dem der moderne kapitalistische Imperialismus sozusagen mit einem besonders dichten Netz vorkapitalistischer Verhältnisse überzogen ist.“.[61] Das imperialistische Weltsystem war auch zu Lenins Zeiten kein statisches Gebilde, in dem die paar Großmächte absolut unangefochten den Rest der Welt beherrschen, sondern von ungleichmäßiger Entwicklung geprägt: „Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern (!!) entstehen neue imperialistische Mächte (Japan).“.[62]

Über den Imperialismus Italiens, das in seiner Imperialismusschrift kaum vorkommt, schreibt Lenin während des Ersten Weltkrieges in seinen Notizen: „Das revolutionär-demokratische, d.h. das revolutionär-bürgerliche Italien, (…) das Italien der Zeiten Garibaldis, verwandelt sich vor unseren Augen endgültig in das Italien, das andere Völker unterdrückt, das die Türkei und Österreich ausplündern will, in das Italien einer groben, widerwärtig-reaktionären, schmutzigen Bourgeoisie, der das Wasser im Munde zusammenläuft vor Vergnügen darüber, daß man auch sie zur Teilung der Beute zugelassen hat.“.[63]

Lenin hatte also sehr wohl verstanden, dass auch in den oberen Segmenten des imperialistischen Weltsystems große Unterschiede vorherrschen, dass man die USA, England und Deutschland nicht mit Russland, Italien oder Japan gleichsetzen konnte und letztere sogar der finanziellen Übermacht der imperialistischen Hauptmächte klar untergeordnet waren. Dennoch sah er Russland, Japan und Italien ganz unmissverständlich als imperialistische Mächte an. Er erkannte am Beispiel Japans auch die Möglichkeit an, dass aus ehemals untergeordneten und unterdrückten Ländern neue imperialistische Staaten entstehen können. Imperialistisch sind sie für Lenin trotzdem deshalb, weil in ihnen die ökonomische Grundlage des Imperialismus, das Monopolkapital, vorherrscht und weil sie am Kampf um die Neuaufteilung der Welt beteiligt sind. Lenin macht klar, worum es ihm dabei geht: „Die kapitalexportierenden Länder haben, im übertragenen Sinne, die Welt unter sich verteilt.“.[64] An der Aufteilung der Welt beteiligen sich alle Länder, deren Kapital international expandiert. Es ist offensichtlich, dass mit diesem Verständnis weit mehr als nur die fünf, sechs oder sieben größten kapitalistischen Ökonomien gemeint sind.

Wir sehen also, die Behauptung Klaras, wonach die Auffassung der KKE der Lenins widerspreche, lässt sich allerspätestens auf den zweiten Blick nicht bestätigen. Doch selbst wenn dem so wäre – forderte Lenin nicht immer, die Wahrheit in den konkreten Tatsachen zu suchen? Was hätte er wohl von einer Lesart seiner Theorie gehalten, die sich, mehr als 100 Jahre später, in einer drastisch veränderten Welt, lieber an jeder einzelnen Formulierung seiner Schrift festbeißt, anstatt sich mit den Fakten auseinanderzusetzen?

Lenin wusste: Die kapitalistische Entwicklung folgt den kapitalistischen Entwicklungsgesetzen. Zu den wichtigsten dieser Gesetze gehören die miteinander zusammenhängenden Tendenzen zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Sie führen dazu, dass das Monopolkapital sich nicht nur in den führenden Ländern des Weltkapitalismus herausbildet und „mit absoluter Unvermeidlichkeit alle Gebiete des öffentlichen Lebens“[65] durchdringt, sondern in gradueller Abstufung in immer mehr anderen Ländern, einschließlich der ehemaligen Kolonien. Es ist ein dogmatisches Missverständnis von Lenins Theorie, wenn man glaubt, eine heutige Imperialismusanalyse könne darauf verzichten, diesen Tatsachen Rechnung zu tragen.

Aufgrund der Schwäche der kommunistischen Weltbewegung fiel es der KKE zu, als erste auf die Veränderungen in der Konstellation des Imperialismus aufmerksam zu machen. Sie hat dafür das Bild der „imperialistischen Pyramide“ geprägt. Dieses Bild soll dem erleichterten Verständnis dessen dienen, worum es dabei geht: Nämlich darum, dass es im imperialistischen System nicht nur „oben“ und „unten“ gibt, sondern vielmehr verschiedene Positionen auf einer Stufenleiter, in einer Rangordnung, wobei es falsch ist, den Imperialismus nur in der obersten Stufe der Leiter zu suchen. Dass es die Leiter gibt, dass es sogar zum Wesen des Imperialismus gehört, dass er sich als strenge Hierarchie darstellt, wird durch das Bild der Pyramide keineswegs bestritten, sondern sogar unterstrichen.

Nun sollte dieses Bild, weil es eben ein Bild, eine Metapher ist, und keine detailgenaue Abbildung der Realität, aber auch nicht überstrapaziert werden. Anders als die Steine der Pyramiden von Gizeh befinden die Elemente der imperialistischen Pyramide im ständigen Fluss – die gesetzmäßig ungleichmäßige Entwicklung und die ständigen Kämpfe um Neuaufteilung drücken sich in relativen Auf- und Abstiegsprozessen aus. Anders als bei den Stufenpyramiden in Mexiko ist es auch nicht immer eindeutig bestimmbar, auf welcher Stufe man gerade genau steht, weil die Bestimmung der Position im imperialistischen Weltsystem von vielen Faktoren abhängt und sich nicht aus einer einzelnen Liste ökonomischer Kennzahlen ablesen lässt – aus aktuellem Anlass sei hier noch einmal auf Russland verwiesen, dessen imperialistische Position zu niedrig bewertet wird, wenn man allein die Rolle seiner Monopole in der internationalen Hierarchie beachtet, aber seine politische und militärische Potenz außen vor lässt.

Entscheidender Unterschied zu der „Triaden“-Theorie des Imperialismus, die natürlich bereits an der Einordnung Chinas völlig scheitern muss, ist das Verständnis von „Zwischenpositionen“ in der Pyramide. Doch auch die Charakterisierung als „Zwischenposition“ ist nur eine sehr allgemeine Einordnung und kann im Einzelfall sehr verschiedenes bedeuten. Das sieht man z.B. daran, dass sowohl die KP Mexikos als auch die KP Griechenlands ihre Länder als in einer Zwischenposition sehen, obwohl Mexiko eher auf einer höheren Stufe steht. Diese Begriffe sind also nur sehr grobe Instrumente und müssen durch eine genauere Analyse inhaltlich gefüllt werden.

Wenn wir versuchen, die Rangordnung zwischen den imperialistischen Ländern genau zu bestimmen, stoßen wir auf ein Problem: Die Position eines Landes in der Pyramide drückt aus, in welchem Verhältnis dieses Land bzw. sein Kapital zu den anderen Ländern und zum Weltsystem als Ganzes steht. Ist es in der Lage, die Struktur des Weltsystems zu prägen oder nicht?[66]

Es geht dabei also nicht allein darum, wie weit die ökonomische Grundlage eines Landes bereits in der Herausbildung monopolkapitalistischer, imperialistischer Strukturen fortgeschritten ist. So ist z.B. offensichtlich, dass für Indien und China auch (allerdings bei weitem nicht nur) die schiere Größe ihrer Ökonomie eine Rolle spielt, wenn die Rolle dieser Länder in der internationalen imperialistischen Hierarchie bestimmt werden soll. In beiden Ländern, besonders in China, hat sich ein mächtiges Monopol- und Finanzkapital herausgebildet, aber es gibt auch weite Teile des Landes, die weiterhin stark unterentwickelt bleiben. Die Niederlande oder die Schweiz hingegen sind zweifellos in ihrer imperialistischen Entwicklung wesentlich weiter fortgeschritten, es handelt sich um (über-)reife imperialistische Gesellschaften. Doch ebenso zweifellos stehen sie in der Rangordnung der Pyramide unter China und je nach Indikator auch unter Indien.

Für das Imperialismusverständnis der „imperialistischen Pyramide“ entsteht daraus kein grundsätzliches Problem: Beide, bzw. in diesem Beispiel alle vier Länder sind natürlich imperialistisch und beteiligen sich am Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Die Position eines Landes in der Pyramide ist keine direkte Ableitung seiner gesellschaftlichen Strukturen, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer (politischer, ökonomischer, militärischer, teilweise auch kultureller) Faktoren. Doch auch imperialistische Länder, die aufgrund ihrer beschränkten Größe nicht in der Lage zu einer imperialistischen Machtpolitik im Alleingang sind, werden durch die Entwicklungsgesetze ihrer ökonomischen Basis zu einem Verhalten als imperialistische Mächte gedrängt – sie sind dann darauf angewiesen, ihre Interessen im Bündnis mit anderen Imperialisten zu verfolgen.

Ein grundsätzliches Problem besteht hier aber bei dem „Triaden“-Modell von Klara. Denn bei ihr hängt die Frage, ob ein Land imperialistisch ist, tatsächlich im Wesentlichen vom Verhältnis ab, das dieses Land zu anderen Ländern eingeht. Also die Frage: Gibt es andere Länder die stärker sind?

Auf dieser Grundlage kommt sie zu dem Schluss: „Wenn man aber davon ausgeht, dass mit dem Adjektiv ‚imperialistisch‘ bezüglich eines Landes / eines Staates die reale polit-ökonomische (das schließt militärisch ein) Potenz zur Beherrschung der Welt gemeint ist, dann ist Russland nicht im Club der Imperialisten dabei. Diese Potenz hängt nämlich nicht einfach nur von ‚Monopolisierung‘ in einem Land ab, sondern vom Grad der Monopolisierung, was sich vor allem in der Stärke des Finanzkapitals und im Kapitalexport ausdrückt und im Verhältnis zu anderen weltbeherrschenden Staaten

Damit ist Imperialismus dann aber kein Charakteristikum der Gesellschaft eines bestimmten Landes mehr, sondern nur noch eine Beschreibung des Kräfteverhältnisses zwischen verschiedenen Staaten. Somit ist es gerade Klara, die letzten Endes den Boden der von Lenin entwickelten marxistischen Methodologie der Imperialismusanalyse verlässt, denn für Lenin war das Entscheidende der Übergang der Produktions- und Verteilungsverhältnisse in ein neues Stadium des Kapitalismus. Wer nur noch die allerstärksten Imperialisten überhaupt als Imperialisten erkennen will, verliert zwangsläufig den Blick dafür, dass der Imperialismus als Gesellschaftsordnung den ganzen Globus umspannt und auch die stärksten „Räuber“ ihre Position an der Spitze der Pyramide ständig gegen ihre (noch) schwächeren Konkurrenten verteidigen müssen.

Wir haben uns in diesem Artikel vor allem die oberen Segmente der Pyramide angesehen und zwei Beispiele von Ländern in einer „Zwischenposition“, wobei Russland insgesamt höher in der Hierarchie steht als Mexiko. Das bedeutet aber nicht, dass es unterhalb dieser Länder keinen Imperialismus gebe. Auch Länder, die keine Konzerne in den Top 500 haben, sind deshalb nicht automatisch „nicht imperialistisch“. Auch sie können eine Zwischenposition einnehmen und regional eine imperialistische Rolle spielen durch Kapitalexporte in ihre Nachbarländer, v.a. wenn diese weniger entwickelt sind. Als letztes Beispiel dazu soll hier Griechenlands Rolle auf dem Balkan angeführt werden. Vor dem Ausbruch der tiefen Krise konnte man in der Zeitung „Kathimerini“ lesen: „Griechische Banken verwandeln die Region Südosteuropa in ihren eigenen Hinterhof. Trotz ihrer kleinen Größe verglichen mit den europäischen Finanzgiganten und innerhalb weniger Jahre haben sie es geschafft, ein Netzwerk aus 3000 Filialen aufzubauen, während ihr Marktanteil auf dem Balkan fast 20% beträgt. Tatsächlich erreicht der Anteil griechischer Banken in bestimmten Märkten wie der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien bis zu 35%. (…) Es gab 15 Übernahmen serbischer Banken in den Jahren 2004-2007, von denen fünf von griechischen Banken getätigt wurden.“.[67] Die Krise führte dazu, die Rolle des griechischen Kapitals stark zu degradieren. Doch für die griechischen Imperialisten besteht aus Sicht eines Zeitungskommentars von 2021 noch Hoffnung: „Viel muss getan werden – die griechische Wirtschaft muss wachsen und die Fonds der Europäischen Union müssen gut eingesetzt werden – bevor Griechenland auf den Balkan als der führende Player zurückkehren kann, der er zu Beginn des 21. Jahrhunderts war, als seine Banken einige Präsenz in Bulgarien, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien, Albanien, Zypern und sogar der Türkei hatten. Damit Griechenland eine führende geopolitische Rolle in Südosteuropa einnehmen kann, muss es auch eine starke ökonomische Präsenz und Einfluss in der Region haben“.[68]

Nun fehlen uns noch die Länder ganz unten in der Hierarchie. Die meisten von ihnen sind formal-politisch unabhängig, also keine Kolonien mehr. In der Debatte wurde oft die Frage aufgeworfen (und dann verneint), ob es sinnvoll sei, alle Länder der Welt als imperialistisch zu bezeichnen. Ist es nun sinnvoll oder nicht?

Zunächst kann man in einem gewissen Sinne durchaus feststellen, dass fast alle Länder der Welt sich im imperialistischen Stadium des Kapitalismus befinden. Alle Länder sind Teil des imperialistischen Weltsystems, d.h. sie sind den Entwicklungsgesetzen dieses gesellschaftlichen Entwicklungsstadiums und der Expansion und Politik der Monopole unterworfen.

Dennoch ist es unsinnig, Länder wie die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, Haiti, Afghanistan, Niger oder den Jemen als imperialistische Staaten zu bezeichnen. Diese Länder, die die untersten Schichten der Pyramide bilden, besitzen keine eigenen international operierenden Monopole, sie besitzen keinen relevanten Kapitalexport, die Bourgeoisie in diesen Ländern besteht entweder aus ausländischen Monopolen oder kleinen und mittleren Kapitalisten in den Städten.

Man könnte nun fragen: Wo ist also die Grenze, ab der ein Land imperialistisch bzw. unterhalb derer es nicht mehr imperialistisch ist? Aber diese Frage ergibt keinen Sinn und lässt sich nicht beantworten. Denn wenn wir den Imperialismus als ein Entwicklungsstadium des Kapitalismus mit bestimmten Charakteristika begreifen, dann können wir lediglich untersuchen, wie weitgehend (oder eben nicht) diese Charakteristika in einem Land entwickelt sind.

Ein wichtiger Begriff in nahezu allen Imperialismusdiskussionen seit Lenin ist der Begriff „Abhängigkeit“. Klara Bina stört sich daran, dass die KKE statt von einseitigen von „gegenseitigen Abhängigkeiten“ spricht. Wie können wir den Begriff Abhängigkeit verstehen?

Eine sinnvolle Definition wäre: Die Abhängigkeit eines Landes von einem anderen besteht darin, dass die Entwicklung der Produktionsverhältnisse, der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Strukturen und des politischen Überbaus in einem Land von ökonomischen und politischen Faktoren eines anderen Landes bestimmt und beschränkt wird.

Können wir unter dieser Voraussetzung von „gegenseitiger Abhängigkeit“ sprechen, wie es die KKE tut? Sind beispielsweise die USA und Mexiko gegenseitig voneinander abhängig? Die Antwort ist zweifellos ja: Während die Abhängigkeit Mexikos von den USA keiner weiteren Erläuterung bedarf, expandieren auch die mexikanischen Monopole über die Nordgrenze. Dass diese Abhängigkeitsbeziehung stark asymmetrisch zugunsten der USA ist, ändert nichts daran, dass sie eine gegenseitige Beziehung ist. Die Erkenntnis, das die Abhängigkeitsbeziehungen keine Einbahnstraße sind, ist ein wichtiger Fortschritt in der Analyse des Imperialismus. Sie verhindert nämlich, dass wir schwächere imperialistische Länder als passive Empfänger von Kapitalexporten oder politischen Anweisungen aus den führenden imperialistischen Zentren missverstehen.

Dies bedeutet natürlich auch: Je weiter wir in der Pyramide nach unten gehen, desto einseitiger wird die Abhängigkeitsbeziehung, in der sie zu den Ländern an der Spitze der Pyramide stehen, bis hin zur völlig einseitigen Abhängigkeit.

Wie sieht es nun aus mit Lenins Einteilung der Welt in die „Räuber“ einerseits und die „unterdrückten Nationen“ andrerseits?

Wie nun deutlich geworden sein sollte, ist das Entscheidende an Lenins Aussage nicht, dass es eine scharfe Zweiteilung gäbe, wo alle Länder sich in die eine oder andere Kategorie eindeutig einordnen ließen. Für Lenin entscheidend ist die Hierarchie, d.h. dass es ein Unterdrückungsverhältnis auf internationaler Ebene gibt (also nicht nur innerhalb eines Landes den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit) und dass dieses Unterdrückungsverhältnis mit der Vorherrschaft bestimmter Staaten und ihres Monopolkapitals verbunden ist. Auch Lenin war bereits bewusst, dass es in dieser Hierarchie sowohl in den oberen Segmenten Abstufungen gibt (z.B. Russland und Japan unter den USA, England, Deutschland), als auch in den mittleren und unteren Segmenten, wo er bereits selbst auf „eine ganze Reihe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit“[69] hinweist.

Die These der „imperialistischen Pyramide“ ist damit keine Abweichung von Lenins Imperialismustheorie, sondern lediglich ihre Anwendung auf die heutigen Bedingungen und insofern eine Weiterentwicklung der Theorie, als der Aspekt der Zwischenstufen und gegenseitigen Abhängigkeiten auf Grundlage der kapitalistischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte besser ausgearbeitet wurde.

Eine Abweichung – sowohl von Lenins Methode als auch von der Realität – besteht eher bei denjenigen, die wie Klara oder Alexander den Imperialismus nur bei den führenden Ländern der Pyramide oder gar nur der Nummer 1 der Hierarchie sehen wollen.

Anlass und Ausgangspunkt der Diskussion ist der vom russischen Imperialismus in der Ukraine geführte Krieg. Wenn das Wesen des Krieges eine Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Blöcken ist, dann ist aus leninistischer Perspektive klar, dass die Arbeiterklasse sich auf keine der beiden Seiten stellen darf, unabhängig davon, wer der Aggressor ist. Zur heutigen Rolle Russlands im imperialistischen Weltsystem wurde hier schon genug geschrieben. An seinem imperialistischen Charakter kann kein Zweifel bestehen. Bezeichnend ist, dass Lenin, einem offensichtlich doch anderen Verständnis von Imperialismus folgend als Klara und Alexander, Russland bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als imperialistisch einschätzte, und zwar aufgrund der Herausbildung des Monopol- und Finanzkapitals in diesem Land (s.o.). Ist die Bildung kapitalistischer Monopole, die Unterwerfung der ganzen Gesellschaft Russlands unter die Herrschaft dieser Monopole wohl heute weiter oder weniger weit fortgeschritten als zu Zeiten Lenins, als die große Mehrheit der Bevölkerung noch in vorkapitalistischen Verhältnissen auf dem Land lebte? Oder auch als in Japan und Italien zu jener Zeit?

Und wenn sie weiter fortgeschritten ist, ist es dann nicht ein völliger Widersinn zu behaupten, dass Russland vor über 100 Jahren bereits imperialistisch gewesen ist und es heute nicht mehr sein soll?

Klara wirft ein, Russland wäre nicht Teil des „Clubs der Räuber“, die die Welt unter sich aufteilen. Trifft das zu? Auf den ersten Blick erscheint es so: Russland ist nicht Teil der G7, nicht Teil der NATO, es spielt ökonomisch gesehen eher in der zweiten oder dritten Reihe mit. Allerdings war der Rauswurf aus der G8 eine politische Entscheidung infolge der wachsenden Konfrontation. Bedeutet die Tatsache, dass Russland von den westlichen imperialistischen Bündnissen (EU, NATO usw.) als Gegner gesehen wird, dass Russland dem „Club der Räuber“ im Leninschen Sinne nicht angehört? Anders gefragt: Bedeutete die Tatsache, dass das Deutsche Kaiserreich und Österreich-Ungarn in ihrem Großmachtstreben von Großbritannien als der noch beherrschenden imperialistischen Macht ihre Grenzen aufgezeigt bekamen, dass Deutschland und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg keine imperialistische Rolle spielten?

Ist der Vergleich der heutigen Situation mit der Lage vor dem Ersten Weltkrieg denn so absurd, wie einige Genossen sagen? Die Unterschiede, die es logischerweise immer gibt, wenn man zwei verschiedene historische Zeitpunkte miteinander vergleicht, sollten nicht über das fundamental Gemeinsame hinwegtäuschen: Wir beobachten die Bildung zweier rivalisierender imperialistischer Blöcke, mit den USA und der NATO auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen Seite, die in einem immer gefährlicher werdenden Spannungsverhältnis miteinander um die Aufteilung der Welt kämpfen. Dass Russland dabei (genauso wie manche Länder des westlichen Blocks) geringere Möglichkeiten hat, von der ökonomischen Neuaufteilung zu profitieren, ändert nichts daran, dass es nach einer Aufwertung seiner Position im imperialistischen Weltsystem kämpft und sich zu diesem Zweck mit derjenigen imperialistischen Macht verbündet hat, die momentan dabei ist, sich den ersten Platz in der Rangordnung zu erkämpfen.

7. Der falsche Kompass: Wohin eine verfehlte Imperialismusanalyse führt

Am Anfang des Artikels stand die Behauptung, dass es keine politisch wichtigere Frage gibt als die Analyse des Imperialismus. Was es aber gibt, sind Fragen von gleicher Wichtigkeit. Eine dieser Fragen ist die der revolutionären Strategie und Praxis.

Es ist leicht erkennbar, dass die Beantwortung der Imperialismusfrage Konsequenzen für die Praxis und auch für die Strategie hat.

Klara selbst macht die fatalen politischen Konsequenzen ihrer falschen Analyse mehr als deutlich. Sie fordert von den Kommunisten eine „Unterstützung des Militäreinsatzes gegen die Faschisten in der Ukraine“, aber auchin Westasien und Afrika – mit anderen Worten eine generelle Parteinahme für sämtliche Kriege und militärischen Operationen der Russischen Föderation. Eine vollumfängliche Unterstützung Russlands sei das aber insofern nicht, weil es eine „Kritik an der Halbherzigkeit und am Zuspätkommen des Einsatzes“ beinhalte. Kritisieren will Klara also nicht das Morden, das momentan (auch) durch russische Soldaten auf Befehl des Kreml stattfindet, sondern eher, dass dieses nicht mit der notwendigen Entschlossenheit stattfindet. Deutlicher ließe sich kaum aufzeigen, wie die Parteinahme für den russischen Imperialismus zur Aufgabe internationalistischer Standpunkte führt.

Die Parteinahme für eine Seite einer zwischenimperialistischen Auseinandersetzung ist ein Fehler auf der Ebene der Strategie – es handelt sich nicht nur um eine irregeleitete Parole, eine falsch ausgearbeitete Forderung, sondern um eine massive Abweichung von der revolutionären Strategie der Kommunisten. Der strategische Charakter dieser Fehlorientierung ergibt sich auch daraus, dass die relative Schwäche Russlands ebenso wie seine oppositionelle Position gegenüber dem Westen keine kurzfristig vorübergehenden, sondern strukturelle Merkmale des imperialistischen Weltsystems sind. Die Unterstützung des russischen Imperialismus, die aus der Bedrohungslage Russlands abgeleitet wird, ist daher ebenfalls langfristig angelegt und strategisch.

Die empirisch falsche These der „unipolaren Weltordnung“ wird herangezogen, um in Ländern, die mit den USA verfeindet sind, den Kommunisten von einer revolutionären Politik abzuraten. Als „Hauptfeind“ gelten nun nicht mehr die Kapitalisten im eigenen Land, sondern die vermeintlich einzige Supermacht, die USA. Alles was den Kampf gegen diesen neu definierten „Hauptfeind“ schwächen könnte, wird abgelehnt. Deutlich wird dies bei Alexander formuliert: „Die russische Arbeiterklasse in dieser konkreten Situation der existenziellen Gefährdung Russlands auf den revolutionären Umsturz der Regierung zu orientieren, ist ebenfalls ein gefährliches Unterfangen“. Während Russland 1916/17 nicht nur potentiell einer „existenziellen Gefährdung“ ausgesetzt war, sondern die russische Armee stand im bis dahin größten Krieg der Geschichte vor dem militärischen Kollaps – Wie wir wissen, propagierten die Bolschewiki in dieser Situation nicht den Burgfrieden mit dem Zaren bzw. der Provisorischen Regierung, sondern verstärkten den Kampf für ihren revolutionären Sturz. Hätten sie die Oktoberrevolution, dieses „gefährliche Unterfangen“, nicht in Angriff genommen, könnten wir nicht auf die Erfahrungen des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft über sieben Jahrzehnte zurückgreifen. Dass damals die Voraussetzungen bestanden, den imperialistischen Krieg für die Machtübernahme zu nutzen und heute in den meisten Ländern aufgrund der Schwäche der Kommunisten eher nicht, ist für das Argument unerheblich. Denn die größte „Gefahr“ einer imperialistischen Intervention von außen bzw. der Ausnutzung des inneren Klassenkampfes durch imperialistische Kräfte besteht ja gerade in dem Moment, wo das bürgerliche Regime durch einen revolutionären Umsturzversuch destabilisiert wird. Das Burgfrieden-Argument von Alexander würde also in einer Situation wie dem November 1917 erst recht gelten. Natürlich ist es auf der anderen Seite auch sehr richtig, dass Kommunisten sich immer die Frage stellen müssen, wie sie verhindern können, dass ihr Kampf gegen den Staat oder generell berechtigte Proteste aus dem Volk von bürgerlichen Kräften (ob inneren oder ausländischen) für ihre Zwecke eingespannt und abgelenkt werden. Das kann aber nicht dazu führen, dass die Zielsetzung des revolutionären Sturzes aufgegeben wird.

Die Orientierung auf den Burgfrieden mit der herrschenden Klasse (ob der eigenen oder einer fremden) bedeutet das Ende der Arbeiterbewegung als eigenständigem politischem Faktor, der für die eigenen Interessen der Klasse eintritt und allen imperialistischen Bestrebungen entgegentritt. Sie macht die Arbeiterbewegung entweder zum Komplizen der imperialistischen Mörder in ihrer eigenen Regierung, so wie es die SPD 1914 tat; oder sie stellt sie objektiv in den Dienst einer ausländischen Macht, macht sie damit unnötig noch mehr zum Ziel der Repressionen und diskreditiert sie im Volk. In beiden Fällen wird die Arbeiterbewegung unfähig, den Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse, nämlich gegen den imperialistischen Krieg, für die Völkerfreundschaft zu führen. Und selbst in „friedlichen“ Zeiten, also in den Atempausen zwischen den kriegerischen Auseinandersetzungen, ist diese Orientierung katastrophal: Sie orientiert in der Konsequenz die Arbeiterklasse in Russland und anderen Ländern auf eine Etappenstrategie, in der zuerst die „Vaterlandsverteidigung“ und Abwehr der äußeren Bedrohung kommen müsse, bevor der Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt werden könne. Da die Bedrohung aber aufgrund der zwischenimperialistischen Gegensätze permanent ist, wird damit der Sozialismus auf den Tag des jüngsten Gerichts verschoben.

Die Ablehnung des „Weltsystem-Ansatzes“ (was eine irreführende Bezeichnung ist, da die Position der KKE mit der bekannten Weltsystemtheorie nichts zu tun hat) ist somit ein direkter Angriff auf unsere Programmatischen Thesen. Wenn diese Kritik richtig wäre, würde das bedeuten, dass wir bei der Verabschiedung der Programmatischen Thesen inhaltlich die völlig falsche Richtung eingeschlagen hätten. In der Tat würde sich dann die Frage stellen, ob es überhaupt richtig war, sich von der DKP zu trennen, wenn die DKP ja in entscheidenden Punkten anscheinend doch Recht hatte und wir Unrecht. Wie gezeigt wurde, ist es allerdings umgekehrt: Wir hatten mit unserer Imperialismuskonzeption Recht und die DKP hatte bzw. hat Unrecht.

Stürmische Zeiten stehen der Welt bevor. Die zwischenimperialistischen Rivalitäten werden sich nicht dauerhaft abkühlen, sondern immer wieder eskalieren, mit der ständigen Gefahr auch großer kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Frage der richtigen Positionierung zu diesen Auseinandersetzungen ist eine der wichtigsten Grundsatzfragen. Können Kommunisten sie nicht oder nur grob falsch beantworten, stellt sich die Frage, wofür die Arbeiterklasse sie braucht.

Lenin hat diese Frage in Bezug auf den Ersten Weltkrieg richtig beantwortet: Keine Parteinahme für eine Seite des imperialistischen Gemetzels. Parteinahme für die Arbeiterklasse aller Länder und Kampf gegen die eigene herrschende Klasse bis zu deren Sturz und der Errichtung des Sozialismus.

Wir haben diese Frage in den Programmatischen Thesen genauso beantwortet. Die Programmatischen Thesen sind auch vier Jahre nach ihrer Verabschiedung eine sehr gute inhaltliche Grundlage. Die Antworten, die sie uns auf die anstehenden Herausforderungen geben, sind klar und sie sind richtig. Eine Veränderung der Imperialismusanalyse in den Programmatischen Thesen ist daher nicht notwendig und wenn, sollte es sich um eine Weiterentwicklung und Vertiefung unseres richtigen Ansatzes handeln und nicht darum, hinter bereits errungene Erkenntnisse zurückzufallen.

Mit den Antworten der Programmatischen Thesen gerüstet sollte die KO sich in die kommenden Kämpfe begeben, im Geiste des Internationalismus und eines wahren Antiimperialismus, der nicht den Imperialismus mit den USA und dem „Westen“ gleichsetzt – an der Seite des revolutionären Flügels der kommunistischen Weltbewegung und nicht gegen ihn – für die Schaffung einer kommunistischen Partei in Deutschland, die diesen Namen verdient!

1 Klara Bina: Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung, 31.3.2022, online:
https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/
2 Paul Oswald: Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen!, 11.4.2022, online:
https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/
3 Alexander Kiknadze: Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO, 10.4.2022, online:
https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zum-defensivschlag-russlands-gegen-die-nato/
4 Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, S. 244.
5 Ein negativer Wert bedeutet hier, dass im Ausland mehr Desinvestitionen als Investitionen stattgefunden
haben, also ein Nettoabzug von Investitionen.
6 Alexander Bulatov 2017: Offshore orientation of Russian Federation FDI, Transnational Corporations, Vol 24,
No. 2, S. 80.
7 Paul Scheuschner: Weltwährung und Leitwährung – Vor- und Nachteile, ohne Datum, online:
https://www.aktien.net/weltwaehrung-leitwaehrung/?msclkid=5f48466abb0311ec9df1a6fe7496ca17, abgerufen
13.4.2022.
8 Das chinesische Monopolkapital unterteilt sich in staatliche, teilstaatliche und private Konzerne. Wie in Kapitel
3.1 bezüglich Russland aufgezeigt wird, handelt es sich jedoch in all diesen Fällen um Monopolkapital im
Leninschen Sinne.
9 Serkan Arslanalp et al. 2022: The Stealth Erosion of Dollar Dominance. Active Diversifiers and the Rise of
Nontraditional Reserve Currencies, IMF Working Paper/22/58.
10 Alexander Batov et al. 2007: Der heutige Russische Imperialismus (russisch.), online:
https://rksmb.org/articles/ideology/sovremennyiy-rossiyskiyimperializm/?fbclid=IwAR1ZQZ3NWtjjweJF5MeyEwG35L1KXs–8ysjGTG0-k1k_1Xsxa603BjjyUM, zuletzt
abgerufen 12.4.2022.
11 TKP: Thesen zum Imperialismus, These 35.
12 Michael Shellenberger: Russia and China consolidate new nuclear around standardized, water-cooled designs,
Forbes, 3.7.2018.
13 Loren Thompson: US Growing Dependent on Russia for Satellite Propulsion Systems, Forbes, 14.9.2018.
14 Jörg Kronauer: Weltpolitik wider den Westen, junge Welt, 7.4.2022.
15 Ruslan Dzarasov 2014: The Conundrum of Russian Capitalism, Pluto Press: London, S. 10f.
16 Lenin, LW 22, S. 255.
17 Bulatov 2017, S. 84.
18 Nach Bulatov 2017, S. 76.
19 Ebd., S. 77ff.
20 Ebd., S. 78
21 Ebd., S. 84f
22 Karl Liuhto & Peeter Vahtra 2007: Foreign operations of Russia’s largest industrial corporations,
Transnational Corporations, Vol. 16, No. 1, S. 118.
23 Frol Leandoer: Kazakh-Russian trade turnover to grow up to 40 percent this year, says Russian trade
representative, Astana Times, 11.9.2017.
24 Mining See: Russian company has bought a majority stake in Armenia’s largest mining enterprise, 23.10.2021.
25 Naomi Davies: In which former Soviet states does Russian investment hold the most economic sway?, online:
https://www.investmentmonitor.ai/special-focus/ukraine-crisis/soviet-states-russian-investment-ukrainefd?msclkid=6c162d5aba5611ecb016685cf12a0019 , zuletzt abgerufen 12.4.2022.
26 Moscow Times: 5 Russian-Syrian projects announced this week, 18.12.2019.
27 The Economic Times: Russia plans to invest $14 billion in Pakistan’s energy sector, 7.2.2019, online:
https://energy.economictimes.indiatimes.com/news/oil-and-gas/russia-plans-to-invest-14-billion-in-pakistansenergy-sector/67883013 , zuletzt abgerufen 12.4.2022.
28 Thanasis Spanidis 2022: Das zwischenimperialistische Kräftemessen, These 14.
29 Harald Projanski: Auf Stalins und Maos Spuren, junge Welt, 8.4.2022.
30 TKP 2017: Thesen zum Imperialismus, Thesen 31, 33 und 36.
31 PCM 2018: Tesis del IV Congreso del Partido Comunista de México, These 6.11
32 Michelle del Campo 2021: Fusiones y adquisiciones en México: qué observar en 2022, Bloomberg Línea,
30.12.2021.
33 El Economista (México): México se consolida como hub industrial en Amßerica Latina y seguirá atrayendo
inversion, 4.4.2022.
34 OECD: FDI in figures – Latin America, May 2019, online: https://www.oecd.org/investment/FDI-in-FiguresApril-2019-Latin-America-English.pdf?msclkid=f45cef64ba6f11ec97348431f38824ba , abgerufen 12.4.2022.
35 Johannes Jäger & Bianca Bauer 2016: Lateinamerikanische Multinationals und ihre
Transnationalisierungsstrategien, Working Paper Series by the University of Applied Sciences BFI Vienna,
Number 90/2016, S. 9.
36 Bimbo: la panificadora Mexicana de los cuatro continentes, online: https://www.liderempresarial.com/bimbola-panificadora-mexicana-de-los-cuatro-continentes/ , abgerufen 12.4.2022.
37 The 20 Most important transnational Corporations in Mexico, online: https://www.lifepersona.com/the-20-
most-important-transnational-corporations-in-mexico
, abgerufen 12.4.2022.
38 El Economista (México): En América Latina, las empresas mexicanas dominan en adquisiciones de firmas
translatinas, 28.5.2015.
39 Jäger & Bauer 2016, S. 9f.
40 Siemon T. Wezeman: Russia’s Military Spending: Frequently Asked Questions, SIPRI Commentary,
27.4.2020
41 Sie meint wohl „im Billionen-Bereich“, eine Trillion sind eine Million Billionen.
42 „We need to avoid stumbling into a major war”, Interview von Bernhard Zand mit James Stavridis, Spiegel
6.5.2021.
43 Kris Osborn: China’s Navy Is Bigger than the US Navy, But Can It Fight?, National Interest, 24.3.2021.
44 Minnie Chan 2021: Why China’s Type 075 warship is more than it seems – the secret is in its hull number,
South China Morning Post, 9.5.2021.
45 David Wright & Cameron Tracy: Der Hype um den Hyperschall, Spektrum, 21.3.2022
46 Eduardo Galeano 1973: Die offenen Adern Lateinamerikas, Peter Hammer Verlag: Wuppertal, XXV.
47 Ebd., S. 11.
48 Ebd. S. 41.
49 Theotônio dos Santos 1972: Über die Struktur der Abhängigkeit, in: Senghaas, Dieter (Hrsg.): Imperialismus
und strukturelle Gewalt, Suhrkamp: Frankfurt a.M., S. 243.
50 Galeano 1973, S. 182.
51 Ebd., S. 237.
52 Osvaldo Sunkel 1972: Transnationale kapitalistische Integration und nationale Desintegration: Der Fall
Lateinamerika, in: Senghaas: Imperialismus und strukturelle Gewalt, S. 280-282.
53 Ebd., S. 312.
54 Johan Galtung 1972: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, in: Senghaas: Imperialismus und
strukturelle Gewalt, S. 35f.
55 Thanasis Spanidis 2021: Imperialismus, „multipolare Weltordnung“ und nationale Befreiung, online:
https://kommunistische.org/diskussion/imperialismus-multipolare-weltordnung-und-nationalebefreiung/?msclkid=c79b06a2b8cf11ec90b953ee44fb3fe9
56 Lenin, LW 22, S. 270.
57 Ebd.
58 Ebd., S. 270f.
59 Ebd., S. 244.
60 Ebd., S. 236.
61 Ebd., S. 263.
62 Ebd., S. 279, Hervorhebung von Lenin.
63 Wladimir I. Lenin: Imperialismus und Sozialismus in Italien, LW 21, S. 362.
64 Lenin, LW 22, S. 249.
65 Ebd., S. 241, Hervorhebung von Lenin.
66 Für die TKP liegt hierin das entscheidende Kriterium zur Charakterisierung eines Landes als imperialistisch,
vgl. TKP: Thesen zum Imperialismus, These 7.
67 Yiannis Papadoyiannis: Greek banks hit gold in the Balkans, Kathimerini (englische Version), 2.2.2008.
68 Tom Ellis: Greek banks in the Balkans, Kathimerini (englische Version), 6.7.2021.
69 Lenin, LW 22, S. 267, Hervorhebung von Lenin

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