Die PKK und der proletarische Internationalismus

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Diskussionsbeitrag– keine Positionierung der Kommunistischen Organisation (siehe Beschreibung der Diskussion)


Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart der PKK

Von Klara Bina

Vorbemerkung zur Kurdenfrage

Der folgende Beitrag soll dazu dienen, einige Fragen in diesem Themenbereich aufzuwerfen und erste Ansätze für eine Positionierung zur PKK abzustecken. Einleitend soll folgendes klargestellt werden:

Die Kurdenfrage ist zu unterscheiden von der Frage der Haltung zur PKK und zu ihren Schwesterorganisationen, genauso wie zu anderen Organisationen in der Region, die für sich in Anspruch nehmen für das kurdischstämmige, kurdischsprachige Volk bzw. Völker in der gesamten Region zu sprechen oder diese gar zu vertreten.

Um die Kurdenfrage wird es in diesem euch vorliegenden Artikel nicht gehen können. Eine historisch-materialistische Untersuchung der Kurdenfrage muss noch geleistet werden. Zurzeit kann nur festgestellt werden, dass es in den vier Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien unterschiedliche Ausprägungen und Besonderheiten der Bevölkerungsteile gibt, die die kurdische Sprache bzw. kurdische Sprachen sprechen. Ihre Siedlungsgebiete sind weit über die Region zerstreut und teilweise nicht miteinander verbunden. Es sind drei unterschiedliche kurdische Sprachen mit etlichen Dialekten bekannt. Die kurdischen Völker sind weder sprachlich, noch religiös, noch kulturell einheitlich. Die Entwicklung dieser Völker in der Gesamtregion im Rahmen der hier genannten Nationalstaaten haben einen je spezifischen Verlauf genommen. Eine historisch-materialistische Untersuchung ist notwendig, damit geklärt werden kann, ob es sich bei der Kurdenfrage um eine nationale Frage handelt und wenn ja, wie diese aus kommunistischer Perspektive zu beantworten ist. Nationalistische Positionen sind dabei klar abzugrenzen. Versuche über Ländergrenzen und spezifischen Entwicklungen hinweg einen gemeinsamen Ursprung eines bestimmten Volkes auszumachen, wie es von der – anfangs noch von Erdoğan und Gülen gemeinsam angeführten – Osmanisierungs-Bewegung gemacht wurde, sind nicht mit unserem Nationenbegriff vereinbar. Hier wird eine Sprachfamilie (die Turksprachen) als Grundlage für eine nationalistische Bewegung angeführt, die vom Mittelmeer über den Kaukasus bis nach China reichen soll. Ähnlich ist der zionistische Ansatz das Judentum als Volk zu konstruieren, zu werten.

Im Zuge der Entwicklung des Wissenschaftlichen Sozialismus gab es viele politische und theoretische Auseinandersetzungen um die Frage der Nation und die nationalen Selbstbestimmung. Die wohl pointierteste Zusammenfassung der Einsichten aus diesen Debatten ist der folgende Satz von Stalin: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“ (Stalin 1913) Keine dieser Merkmale kann jedoch von den anderen abgetrennt werden und einzig als Maßstab für die Analyse genommen werden. Nur das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren schweißt sozusagen eine Nation zusammen. Des Weiteren ist der Nationenbegriff ein historischer Begriff, der eng mit der Entwicklung des Nationalstaates zusammenhängt. Für uns Kommunisten münden die Erkenntnisse zur Frage der Nation auch in einen Volksbegriff1, der nicht auf ethnische Identität oder ähnliches reduziert werden kann. Wenn wir Volk sagen, meinen wir damit Popolo, die Leute, die breite Masse. Und die Leute sind die hier auf diesem Land lebenden, arbeitenden und ausgebeuteten Menschen – mehrheitlich wohlgemerkt – ein Teil zeichnet sich durch ihre Klassenstellung dadurch aus, dass ihre Interessen denen der Nation entgegenstehen. Die Leute in einer Nation können sich zwar durch ganz spezielle, ihnen eigene Sprichwörter oder durch einen speziellen Humor mit ihren Unterdrückern im Land besser verständigen, aber was sie gesellschaftlich zusammenbringt, ist die Produktion und Reproduktion des Lebens. Kurzum, die Klassenfrage ist mit unserem Verständnis von Nation sofort gesetzt, es gibt keine davon losgelöste Betrachtung. Versuche die nationale Frage von der Klassenfrage zu lösen, werden häufig mittels Abtrennung bestimmter Merkmale einer Nation, wie z.B. Sprache, vollzogen.

Eine Voraussetzung dafür, dass wir spezifische Fragen wie die Kurdenfrage beantworten können, ist eine begriffliche, grundlegende Klärung in der Frage der Nation. Wie viele andere Fragen, gab und gibt es jedoch hier sehr unterschiedliche Auslegungen, Abweichungen und Neuinterpretationen. Wir sollten uns diesen Fragen im Rahmen des von uns begonnenen kommunistischen Klärungsprozesses (Siehe BolscheWiki) widmen. Sowohl die Frage danach, was eine Nation und demzufolge, was die nationale Frage ist, als auch die Frage, ob die Kurden eine Nation darstellen und demzufolge ihre Kämpfe einen nationalen Kampf um Befreiung sind, sind für uns wichtige Voraussetzungen im Rahmen unserer Verpflichtungen, die sich aus dem proletarischen Internationalismus ergeben.

Die PKK-Solidarität – Welche Relevanz hat das für die kommunistische Bewegung in der BRD?

Hier soll es um die PKK und ihre Schwesterorganisationen gehen und um das Verhältnis linker und kommunistischer Kräfte zu ihr/zu ihnen.

Dazu sei vorab gesagt: wenn hier im Folgenden von den Apoistischen Organisationen die Rede ist, dann sind gleichermaßen die Organisationen in den anderen Ländern gemeint, die unter der gleichen Fahne, mit der gleichen Ideologie, mit den gleichen Medien, mit den gleichen Farben auf ihren Fahnen und mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan, mit den gleichen politischen Parolen ihre Arbeit tun. Zu diesen Organisationen gehören: in der Türkei die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), in Syrien die PYD (Partei der Demokratischen Union), im Iran PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) und im Irak PCDK (Partei für eine politische Lösung in Kurdistan). Sie alle vertreten die gleiche strategische Orientierung, den so genannten „Demokratischen Konföderalismus“2. Diese sind nicht zu verwechseln mit den anderen Organisationen, wie z.B. der KDP im Irak unter der langjährigen Führung von Masoud Barzani oder der DPKI (Demokratischen Partei Kurdistan / Iran), der PUK (Patriotische Union Kurdistan / Irak) unter der Führung von Jalal Talabani oder der Komalah (Eine Partei, die sich der maoistischen Strömungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung zuordnen lässt). Weder in der Türkei, noch in Syrien gibt es jedoch neben den PKK-Organisationen eine weitere einflussreiche kurdische Organisation. Der Einfachheit halber wird im Folgenden von den Apoistischen Organisationen gesprochen, weil diese eindeutig und offen den von Abdullah Öcalan (kurz: Apo) propagierten politischen Vorstellungen und den daraus abgeleiteten Strategien folgen. Sie sind aber auch organisatorisch eng miteinander verknüpft.

Warum ist es überhaupt von Bedeutung das eigene Verhältnis zur PKK zu klären? Welche Relevanz hat die PKK für den kommunistischen Klärungs- und Sammlungsprozess in der BRD?

Es ist kaum übersehbar, dass die Solidarität mit der PKK innerhalb der linken und kommunistischen Bewegung in der BRD (und weltweit) zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Es gibt eine sehr kleine Minderheit, die sich entweder mit Vorsicht oder mit Ablehnung vom Mainstream der Pro-PKK-Positionen abhebt. Die Tatsache aber, dass sich ein großer Teil der Linken (aus sehr unterschiedlichen Beweggründen) mit der PKK solidarisch erklärt, hat in den letzten Jahren zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der antimilitaristischen, antiimperialistischen Bewegung geführt. Alte Bündnisse sind zerrüttet, neue Bündnisse sind entstanden. Die zentralen Fragen, die neue Spaltungen hervorgerufen haben und neue Bündnisse haben entstehen lassen, sind an erster Stelle die Zusammenarbeit der PKK mit den USA im Syrienkrieg, zweitens die Politik der PKK in der Türkei und in diesem Zusammenhang ihre antiislamische Propaganda, drittens ihre antikommunistisch-anarchistische Ideologie, die letztendlich dazu führt, einen gewissen Teil der Potentiale, besonders in der Jugend, durch ihre scheinradikale Politik in die Irre zu führen. Inwiefern die Solidarität mit der PKK innerhalb der linken und kommunistischen Bewegung die Funktion erfüllt, einerseits notwendige Differenzen innerhalb der Bewegung hintanzustellen,– weil z.B. der Kampf gegen den so genannten „IS-Faschismus“ bzw. „Erdoğan-Faschismus“ dringliche Aktion, statt Klärung erfordert –, andererseits aber auch falsche Vorstellungen von Befreiung, Revolution, Sozialismus und nicht zuletzt antimarxistische Erklärungsmuster in die Bewegung einzuführen, dafür soll im vorliegenden Artikel ein erster Aufschlag gemacht werden. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Funktionen deshalb wirkmächtig sein konnten und bis heute sind, weil in der Bewegung schon ein fruchtbarer Boden für alle diese Fehlentwicklungen vorhanden war und ist. Dieser Boden ist gesät mit romantisch-linksradikalen Vorstellungen eines bewaffneten Guerillakampfes bis hin zu kruden Faschismusvorstellungen, reformerischen Übergangsvorstellungen wie auch kleinbürgerlich-antikommunistischen Ressentiments. Wir haben es also nicht mit einer einseitigen Einflussnahme der PKK innerhalb der linken und demokratischen Kräfte in der BRD zu tun, sondern mit Bündnissen, die den Entwicklungen verschiedener Teile der Gesamtbewegung entsprechen, dem Opportunismus und Revisionismus im großen und ganzen. Welche Folgen diese Entwicklungen auf und für die Arbeiterbewegung haben, müssen aufgezeigt werden.

Eine auf der Hand liegende, weitere Begründung für die Solidarität mit der PKK ist das weiterhin geltende Verbot der PKK hierzulande und teilweise international3. Eine, nach den massiven Repressionen des BRD-Staates gegen die PKK und ihre Vorfeldstrukturen seit den Neunzigern, politisch nachvollziehbare Begründung, die aber leider viel zu selten im aktuellen politischen Kontext analysiert wird. Fragen, die hier gestellt werden müssen, sind: welche Veränderungen haben seitens der politischen herrschenden Kräfte, sowohl im Gefüge der etablierten Parteien, aber auch in der veröffentlichten Meinung im Verhältnis zu den Apoistischen Organisationen in der BRD stattgefunden, welche anderen Interessen (z.B. das Verhältnis zur Türkei) sind ausschlaggebend für die Aufrechterhaltung des Verbots und last but not least, welche taktischen Überlegungen könnten eine Rolle spielen.

Jedenfalls ist das weiter fortwirkende Verbot der PKK der BRD kein Hindernis für eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. Es sei vorab klargestellt, dass die Autorin keine Grundlage mehr für eine Solidarität mit der PKK sieht. Der Hauptgrund dafür ist die Kollaboration der Apoistischen Organisationen mit den USA, die entgegen der Verlautbarungen aus den Organisationen selbst, keine taktische, sondern eine strategische Orientierung ist, die Abdullah Öcalan unmissverständlich in seinen Verteidigungsschriften begründet hat.

Die unzähligen weiteren Revisionen des Marxismus, die falsche Kritik am Realsozialismus und falsche Vorstellungen von Sozialismus und Revolution allein wären kein Grund für die Entsagung der Solidarität. Die PKK aber hat sich auf einen Weg begeben, der nicht nur Verrat an der internationalen Bewegung ist, sondern an der kurdischen Sache selbst, ganz egal, ob es um die Kurdenfrage in den jeweiligen Nationen oder um den allgemeinen Kampf der entrechteten Kurdinnen und Kurden in Westasien4 geht. Durch ihre Zusammenarbeit mit dem aggressivsten Imperialismus unserer Zeit, dem US-Imperialismus, bringen sich die Apoisten in eine feindliche Stellung zu den Interessen und Kämpfen des internationalen Proletariats. Trotz aller schöner Wortkreationen, wiegt es weitaus schwerer, was Organisationen tun. Und das, was die Apoistishen Organisationen in die Tat umsetzen, kann nur als Absage an den proletarischen Internationalismus verstanden werden: es ist eine militärische Kooperation, die es dem US-Imperialismus und ihren Verbündeten erlaubt in Nordsyrien ihre verbrecherische Politik durch Stützpunkte abzusichern. Inwiefern es aus Sicht der herrschenden Kreise der USA – besonders vor dem Hintergrund ihres Bündnisses mit dem NATO-Partner Türkei – das Risiko lohnt, wird sich in der nächsten Zeit zeigen.

Der vorliegende Text orientiert sich an der Entwicklung der PKK. Es kann hier zwar kein detaillierter Einblick in die Entwicklungsetappen der Organisation und den politischen Kontext der Entwicklungen in der Region gegeben werden, aber soll ein erster Aufschlag für eine Einordnung der PKK im regionalen und internationalen Kontext sein. Ohne Zweifel bleiben sehr viele Fragen noch offen. Die strategische Neuorientierung der PKK kann aber im Lichte der historischen Entwicklung besser erfasst werden.

Zum Schluss werden noch einige Überlegungen zur aktuellen Strategie der Apoisten und der Repression gegen die PKK angestellt.

Die Entstehung der PKK

Der Name der 1978 in der Türkei gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistan) ist heute nicht Ausdurck ihrer programmatischen Orientierung. Ob sie das damals bei der Gründung der PKK sein konnte, muss einer weiteren Untersuchung überlassen bleiben. Stammten damals doch viele Arbeiterinnen und Arbeiter in den Großstädten der Türkei aus den kurdischen Gebieten, waren sie sicherlich eine mögliche Basis für die Gründung einer kurdischen Arbeiterpartei. In diesem Zusammenhang bleibt die Frage, warum der Kampf der kurdischen Bevölkerung in der Türkei keinen Platz in der kommunistischen Bewegung hatte oder warum die Gründer der PKK diesen Kampf nicht als ausreichend betrachteten, eine noch zu beantwortende Frage. Ist es der antikurdische Chauvinismus innerhalb der kommunistischen Bewegung in der Türkei gewesen, den man durch die Gründung einer eigenständigen kurdischen Arbeiterpartei zu überwinden glaubte?5 Diese Fragen müssen im vorliegenden Artikel unbeantwortet bleiben. Sowohl in ihren programmatischen Grundsätzen, als auch aus den Aktionen und dem Aktionsgebiet der ersten Jahre ist klar ersichtlich, dass der Kampf der PKK sich vor allem auf die ländlichen, kurdisch besiedelten Gebiete in der Türkei bezog. Dieser Kampf richtete sich gegen die mit dem türkischen Staat kollaborierenden kurdischen Großgrundbesitzer. Es wurden aber auch Arbeiterkämpfe, z.B. in den Erdölraffinerien in der Stadt Batman, organisiert bzw. unterstützt. Das Erstarken der Repression und der als Reaktion darauf stattfindende Rückzug auf den bewaffneten Kampf in den Bergen, brachte die PKK immer mehr dazu, sich auf ländliche Gebiete zu konzentrieren. In ihrem ersten Programm war die Zielgruppe wie folgt formuliert:

„Die kurdische Revolution ist eine Volksrevolution, deren Basis die revolutionäre Jugend, die Arbeiter sowie die armen Bauern bilden.“6 Dort war auch die Rede von Kurdistan als eine kolonisierte Entität: „Die kurdische Frage ist nicht allein die Frage eines Teils Kurdistans, sondern hat die Freiheit und Einheit aller vier Teile Kurdistans zum Ziel.“ Des Weiteren sah die PKK ihren Kampf als einen national-demokratischen Kampf an, der sich in erster Linie gegen den türkischen Staat und die sie unterstützenden imperialistischen Länder richtete und in zweiter Linie gegen die feudalistische Ordnung und Tradition. Was den letzteren Kampf angeht, ist nicht klar, ob damit der Klassenwiderspruch innerhalb der Türkei oder die feudale Struktur in den kurdischen Gebieten gemeint war oder gar beides. Auch ist nicht klar, ob sich die PKK allgemein als antiimperialistisch verstand oder ob sie nur den Kampf gegen die Imperialisten, die den türkischen Staat unterstützten, führen wollte7. Als Bündnispartner betrachtete sie aber alle Befreiungsbewegungen und die sozialistischen Länder. Ob es hier Eingrenzungen gab, muss Gegenstand anderer Untersuchungen sein.

Der Rückzug nach dem Militärputsch in der Türkei 1980

Der von den NATO-Staaten unterstützte Militärputsch in der Türkei im September 1980 zog für die PKK, sowie für alle linken, gewerkschaftlichen und revolutionären Kräfte im Land eine Repressions-, Verhaftungs- und Auswanderungswelle nach sich, von der sich die gesamte Bewegung bis heute nicht hat erholen können.8 Die PKK zog sich nach dem Putsch vor allem auf das syrische Territorium zurück und konnte dort ihr Hauptquartier errichten bis sie 1982, wie auf ihrem zweiten Kongress beschlossen, wieder mit politischen Aktivitäten und bewaffneten Aktionen nach Außen treten konnte.

Die politische Zentrale, das Kommando der PKK und mit ihr Abdullah Öcalan, fand knapp zwanzig Jahre lang (bis 1998) in Syrien den Schutz des syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten Bashar al-Assad. Diese Kooperation basierte auf das objektiv angespannte, widerspruchsvolle Verhältnis zwischen den herrschenden Klassen in der Türkei und in Syrien. Die Partei konnte dort ihre Kader ausbilden, Treffen mit internationalen Kontakten organisieren und sich vernetzen.

Die PKK und der imperialistische Krieg gegen den Irak

Als die PKK ihren vierten Kongress im Nordirak Ende 1990 / Anfang 1991 abhielt, waren die Vorbereitungen der USA und ihren Alliierten gegen den Irak auf vollen Touren. Inwiefern der Zweite Golfkrieg (1990/1991) eine bessere Situation für die PKK in der Region herstellte und wie die damaligen Protagonisten diese Situation selbst einschätzten, muss noch untersucht werden. Seit 1991 herrschte in der kurdisch besiedelten Region im Norden Iraks eine De-facto-Autonomie, bei der die beiden Parteien KDP und PUK sich die Macht teilten oder besser gesagt sich im ständigen Gezerre um die Macht befanden. Die Offensive der türkischen Regierung und des Militärs ging unvermindert weiter. Ein Waffenstillstands-Angebot der PKK wurde 1991 nicht angenommen. 1993 kommt es zu einer Situation, in der ein Waffenstillstand kurz vor dem Abschluss zu stehen scheint. Turgut Özal, zu dieser Zeit Staatspräsident der Türkei, verfolgte eine für die türkische herrschende Klasse neue Politik der Anerkennung der Kurdenfrage und ließ sich auf Gespräche über eine Lösung der Kurdenfrage ein. Hierbei wurde Jalal Talabani als Vermittler beteiligt. Kurz vor einem Zustandekommen eines Abkommens macht die Nachricht über den plötzlichen Tod Özals durch Herzversagen den ganzen Prozess zunichte. Bis heute kursieren Vermutungen über eine Tötung von Özal durch die Teile der herrschenden Klasse, die die Kurdenfrage in der Türkei nur durch Assimilierung, Repression und Gewalt ‚gelöst‘ haben wollten.

In der Frage, wie der türkische Staat mit der Kurdenfrage umgehen solle, waren die verschiedenen Fraktionen in den politischen und militärischen Machtzentren des Landes also uneinig. Zwischen Zugeständnissen und Versprechen und Todesschwadronen und militärischen Schlägen gab es ein ständiges Hin und Her. Nach dem Tod Özals begann das Militär jedoch mit heftigen Schlägen im Südosten der Türkei. Die PKK konnte aufgrund der heftigen Repression und Massenvertreibungen und Morde ihre Unterstützung innerhalb der kurdischen Bevölkerung ausbauen. Der Guerillakampf wurde kontinuierlich fortgeführt. Teilweise wurden auch Selbstmordattentate und politische Morde umgesetzt.

Der nächste ähnliche Schritt, wie ihn Özal unternahm, einer wirklichen Lösung der Kurdenfrage näherzukommen, kommt erst mit dem Wahlgewinn der AKP 2002 und dem Ausspruch Erdoğans, dass alle Völker in der Türkei geschwisterlich unter dem Dach des Islam zusammen leben könnten. Es gibt die These, dass die Haltung beider Politiker zur Kurdenfrage auf ihren islamischen Glauben bzw. ihrer Organisierung in der politischen Strömung, die sich auf den Islam bezieht, zurückzuführen sei.9

Das Verbot der PKK in der BRD

Im Ausland, besonders stark in der BRD, fanden große Proteste der PKK-Anhänger gegen die repressive Politik der Türkei gegen die Kurden im Land statt. Die damalige Kohl-Regierung nutzte die Gelegenheit und nahm die starken Proteste in Deutschland zum Anlass, um ihrem langjährigen Bündnispartner Türkei einen Gefallen zu tun: 1993 wurde die PKK verboten! Dass die kurdische Bevölkerung in der BRD, die aus der Türkei stammte und mit der PKK sympathisierte, so ruhig gestellt werden könnte, war ein großer Trugschluss.

„Was hat das PKK-Verbot bewirkt? Das PKK-Verbot führte nicht zu einem Rückgang der Unterstützung der kurdischen Massen für die PKK, sondern ganz im Gegenteil zur Steigerung der Unterstützung. Diesen Schluss zog auch der deutsche Verfassungsschutz in seinen Berichten. Alle Vereine wurden neu gegründet, wenn auch unter anderen Namen. Im Juli 1994 hob das Bundesverfassungsgericht das Verbot der Vereine auf. Trotzdem gab es sehr ernste Beschränkungen für die PKK. Die deutsche Regierung bekam die Möglichkeit in die Hand, die PKK in einem gewissen Maß zu kontrollieren und zu instrumentalisieren. Für den türkischen Staat lieferte das Verbot Material zur psychologischen Propaganda.“10

Auch wenn das Protestpotential durch das Verbot nicht gemindert werden konnte, darf dieser hier von Çelik angesprochene Aspekt der Möglichkeit der Kontrolle der Organisation nicht unterschätzt werden. Bis heute hält der deutsche Staat ein Mittel in der Hand, um in Verhandlungen Druck auszuüben.

Die Abwendung vom Realsozialismus – Orientierung auf Nordirak

Im Jahre 1995 verabschiedete die PKK auf ihrem fünften Kongress ein neues Parteiprogramm. Darin wurde weiterhin das explizite Ziel der Gründung eines Staatsgebildes formuliert. Im Widerspruch dazu hatte Öcalan 1994 ein Lösungspaket vorgelegt, das explizit die Lostrennung nicht mehr als Ziel vorsah und ein Ende der Gewalt forderte. Im gleichen Jahr waren dennoch verstärkte Guerillaaktionen zu verzeichnen. Auf diesem Kongress wurde auch beschlossen, dass die Zeichen Hammer und Sichel von der Fahne entfernt werden. Der Grund dafür war nach Çelik nicht, weil die PKK allgemein Abstand vom Sozialismus nehmen wollte, sondern lediglich vom als „degeneriert“ interpretierten „Realsozialismus“11. Damit war der Sozialismus in der UdSSR gemeint. Die Einschätzung Çeliks sollte sich als falsch erweisen: mit dem neuen Paradigma findet eine grundlegende Absage am Marxismus statt. Auch wenn dann noch das Wort Sozialismus benutzt wird, ist das nicht zu verwechseln mit dem Sozialismus, worunter eine grundlegend andere Wirtschaftsweise gemeint ist.

Ein weiterer wichtiger Beschluss bezog sich auf die de-facto-autonome Region in Nordirak, die die PKK bis heute als „Südkurdistan“ bezeichnet. Diese Bezeichnung deutet auf die strategische Orientierung auf ein zusammenhängendes Gesamtkurdistan hin, die seit Gründung der PKK explizit als Ziel ausgegeben wurde. Auf diese Orientierung wollen wir später noch einmal genauer eingehen. Der Beschluss bezüglich der kurdisch besiedelten Gebiete im Norden Iraks sah eine „demokratische Föderation“ für diese Region vor. Das Ziel der PKK war es ein Bündnis mit der KDP und der PUK zu erreichen und von „Südkurdistan“ aus eine bessere Position für den Kampf in der Türkei und in der langen Frist auch in den anderen Ländern aufzubauen. Die türkische Regierung nahm diesen Beschluss als Anlass, um militärisch im Norden Iraks zu intervenieren.

Auch wenn die Türkei damit keine größeren Schläge gegen die PKK-Stellungen in der Grenzregion zwischen der Türkei und Irak versetzen konnte, brachte sie sich als Verhandlungspartner in der „Nordirak-Frage“ an den Tisch. Beim Abkommen von Dublin im August 1995 konnte die Türkei ihr Ziel der Spaltung zwischen der KDP und PUK auf der einen Seite und der PKK auf der anderen Seite durchsetzen. Das Treffen in Dublin wurde von den USA organisiert. Die PKK war nicht dabei. Das positive Ergebnis aus der Sicht der türkischen Regierung war, dass die KDP eine Absicherung der Grenzregion durch 2000 so genannte Dorfschützer zusicherte. Daraufhin kam es in der nächsten Zeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der KDP und der PKK.

Einschätzung der Entwicklung in der ersten Hälfte der Neunziger

Betrachten wir die Gemengelage in dieser Region zwischen 1990 – also nach dem Ende der Sowjetunion – und 1995, dann kommt es in der Kurdenfrage zu folgenden Widersprüchen:

Die USA und die anti-irakische Koalition haben nach der Schwächung der irakischen Zentralregierung es als opportun angesehen, die Kurden im Nordirak, also die KDP zu unterstützen und ihnen eine Quasi-Autonomie zu gewähren. Ebenso gibt es Vorstöße seitens Frankreich, die PKK und die KDP zusammenzuführen (Treffen in Paris 16.-22.Juni 199412). Die türkische Regierung steht im Widerspruch zu den Nordirak-Plänen der USA und anderer Mächte, ist aber ein wichtiger NATO-Partner der USA und auch der Besatzungsmacht Israel, die ihrerseits wiederum Beziehungen zur KDP pflegt und das langfristige Ziel der Etablierung eines Staates der Kurden anstrebt, um in der Region einen möglichen staatlichen Akteur als ihren unterwürfigen Partner aufzubauen. Es scheint jedoch der Türkei zu gelingen, die USA davon zu überzeugen ihre Nordirak-Pläne ohne die PKK durchzuführen (siehe das Treffen von Dublin) und die KDP als Partner zu festigen. Als der 5.Kongress der PKK im Nordirak Anfang 1995 tagte, war also die PKK in einer relativ isolierten Situation. Hier wurde ein Vorstoß gewagt: die PKK strebte eine „demokratische Föderation“ in „Südkurdistan“ an und gründete ein so genanntes kurdisches Exilparlament (PKDW) in Den Haag am 12. April 1995. Dieses Parlament setzte sich aus sehr unterschiedlichen Exilorganisationen der Kurden zusammen: unter anderem waren Organisationen der Yeziden, der Alewiten, aber auch eine islamische Organisation dabei. Ein ehemaliger PKK-Kader schätzt die Gründung des Exilparlaments als positiv ein: „Es brachte Dynamik in die kurdische Diplomatie, leistete eine wirksame politische Arbeit auf internationaler Ebene und knüpfte erfolgreiche Beziehungen zu westlichen Regierungen und internationalen Institutionen.“13 Dass diese Regierungen und Institutionen ihre jeweils eigenen Interessen bzw. bestimmter imperialistischer Staaten vertraten und somit auch hier Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Staaten vorprogrammiert waren, ist selbsterklärend. Besonders hervor traten damals in der Zusammenarbeit mit dem PKDW Italien, Russland und Österreich.

Die Entwicklung in der Türkei Anfang der Neunziger

In der Türkei waren die Neunziger Jahre eine Zeit des Tauziehens zwischen den Kräften, die in der Kurdenfrage etwas gemäßigter auftraten und den Teilen der herrschenden Klasse, die eine harte Linie gegen die PKK, aber auch allgemein gegen die Arbeiterbewegung umsetzen wollten. Anfang der Neunziger wurde der Ausnahmezustand über die kurdischen Provinzen verhängt und es wurden zirka 2000 kurdische Dörfer von den Militärs gewaltsam geräumt, um eine Unterstützung der PKK durch die Bevölkerung unmöglich zu machen. Das Gegenteil trat jedoch ein: hatte die PKK noch 1990 nur ein paar Hundert Kämpfer, wuchs diese Zahl bis 1993 auf mehrere 1000, manche sprechen von zirka 14 000 Kämpfern. Dieser Konflikt, der Mitte der Achtziger begonnen hatte, forderte Zehntausende Opfer und spaltete die Bevölkerung in der Türkei. Die Taktik der Militärs einen Teil der kurdischen Gesellschaft in ihren Kampf gegen die PKK einzubinden, spaltete auch bis zu einem gewissen Maße die kurdische Bevölkerung, die noch sehr stark durch alte feudale Traditionen und Klassenbeziehungen geprägt war und teilweise bis heute noch ist.

Viele Vertreter linker Organisationen halten die Militärs für diejenigen, die die politischen Fäden in der Türkei lange in der Hand hielten und durch ihre Spezialkriegstaktiken nicht nur in den Regionen, die mehrheitlich von Kurden besiedelt waren, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen die Geschicke des Landes bestimmten. In diesem Zusammenhang ist die so genannte Susurluk-Affäre 1996 zu erwähnen. Durch einen Autounfall kamen Informationen über die Zusammenarbeit von international führenden Verbrechern aus der Drogenkriminalität und rechten Terroristen und Staatsvertretern zu Tage, die die Gesellschaft erschütterten. Eine Regierungskrise folgte der nächsten.

Im gleichen Zeitraum liefen die Bestrebungen der Türkei (mit Unterstützung der USA) Beitrittsgespräche mit der EU zu beginnen. Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller, sah es in diesem Zusammenhang als opportun an, die harte staatliche Repression, an der sie selbst großen Anteil hatte, etwas zu lockern. Sie schlug vor, den berühmten Paragraphen 8 der Anti-Terror-Gesetze zu verändern. Den Verfolgten sollte wenigstens etwas nachgewiesen werden müssen, was vorher explizit nicht nötig war! Es saßen Hunderte wegen angeblicher Gespräche und Ähnlichem in Gefängnissen. Diese Änderung war der Anlass für die Freilassung von etwa 80 politischen Gefangenen, was wie ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Çiller erhoffte sich dabei den Anschein zu erwecken, sie würde sich um eine Besserung in der Kurdenfrage bemühen. Am 1.Juni 1996 trat die Zollunion mit der EU in Kraft und es folgte eine prinzipielle Befürwortung der Beitrittsgespräche durch das EU-Parlament.

Die Losung der PKK: „Nationale Einheit“!

Für die PKK war klar, dass der türkische Staat weder im Inneren, noch außerhalb seiner Grenzen bereit war, Bestrebungen nach einer Einheit der verschiedenen Organisationen der Kurden in der Region zuzulassen, also der Apoistischen mit der KDP und der PUK. Die PKK hatte sich in den unterschiedlichsten Ländern der Region Rückzugs- und Ausbildungsgebiete und Kooperationspartner gesucht und gefunden. Sie war im Libanon, in Palästina, in Syrien und auch im Nordirak, seit die USA dort ein quasi-autonomes kurdisches Gebiet nach Kolonialherren-Mentalität zugelassen hatten. Diese Aktivitäten im nordirakischen Gebiet versetzten die Türkei in Unruhe. So begann die türkische Armee ihre Aktivitäten auf den Nordirak auszuweiten. Diese sollten sich zwar offiziell gegen die PKK richten, aber tatsächlich wurden viele Zivilisten durch die Angriffe getötet und um ihre Lebensgrundlage beraubt. Für die PKK ging es aber im Nordirak nicht nur um einen Rückzugsgebiet, um sich auf die Kämpfe in der Türkei zu rüsten und vorzubereiten. Schon auf ihrem zweiten Parteikongress 1986 hatte die PKK ihr Ziel für ganz Kurdistan ausgegeben: die nationale Einheit! Die kurdisch besiedelten Gebiete im Norden Iraks boten sich der PKK für die Umsetzung der ersten Schritte Richtung nationaler Einheit deshalb besser an, als die Gebiete in der Türkei, weil diese Grenzen in dieser Zeit durch die Interessen der USA sowieso neu verhandelt wurden. Die PKK wollte sich hier als Organisation stärken und sich eine gewisse Basis in der Bevölkerung für ihre gesetzten Ziele aufbauen. Für die Türkei war das ein Grund – es gab auch durchaus andere Interessen, wie z.B. die Sicherung der Öl-Einfuhr –, um den Krieg in den Nordirak zu exportieren und dort militärische Aktionen auszuführen und ein Bündnis mit der KDP anzustreben. Auch die turkmenische Bevölkerung im Nordirak wurde als Verbündeter der Türkei aufgebaut. Sowohl die KDP, als auch die PUK sahen in der PKK einen potentiellen Konkurrenten und ließen sich unter anderem durch die Türkei gegen die PKK in Stellung bringen. Aber auch zwischen den beiden Parteien gab es Machtkämpfe, die sich oft um Zolleinnahmen und Gebiete drehten. Als sich 1994 Vertreter der KDP und der PUK zwecks Gesprächen über die Gründung eines kurdischen Staates trafen, verhinderte die türkische Regierung durch Druck auf ihre Bündnispartner diesen Schritt. Tansu Çiller konnte das später als einen ihrer größten Erfolge preisen.

Durch die Gründung des Exilparlaments PKDW 1995 machte sich die PKK aber selbst zu einem Akteur im Nordirak – gewissermaßen gegen alle großen und kleinen Player in der Region. In dieser Zeit lieferten sich die zwei großen kurdischen Organisationen im Nordirak weiterhin erbitterte Kämpfe bis die USA durch den Abschluss zweier Abkommen die Lage in den Griff bekam: das Abkommen von Dublin 1995 und das Washingtoner Abkommens 1996. Es wurde eine Machtaufteilung in diesem Gebiet festgelegt. Bei beiden Abkommen wurden die Interessen der Türkei berücksichtigt und eine Isolation und Schwächung der PKK explizit festgeschrieben. Die PKK begann schon nach dem Abschluss des Abkommens von Dublin mit bewaffneten Aktionen gegen die KDP. Die Zielsetzung einer nationalen Einheit mit der PKK als Hauptprotagonisten entfernte sich somit in weite Ferne.

Die Kurdenfrage und das Machtgezerre in Westasien

Fragen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen werden müssen sind, ob die PKK so in Widerspruch zu den westlichen Staaten geriet oder ob sie sich als möglicher Akteur und Verhandlungspartner in Position brachte? Festzuhalten ist in jedem Fall, dass bisher deutlich wurde, dass die Frage nach der Entstehung eines kurdischen Staates in der Region, eine erklärte Strategie der USA (unter anderem durch das Greater Middle East Project)14, zumindest auf dem ersten Blick, durch das Verhältnis der Türkei zu den USA verhindert werden konnte. Inwiefern das bis heute noch der Fall ist, muss noch untersucht werden. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass die imperialistischen Grenzziehungen in der gesamten Region während des Ersten Weltkrieges verhandelt wurden.15 Die festgelegten Einflussgebiete wurden zwar teilweise nach dem Zweiten Weltkrieg, z.B. in Palästina, leicht verändert, jedoch verfolgen die alten Mächte (Großbritannien, Frankreich und Russland) bis heute noch eigene Interessen bezüglich der Aufteilung der Region. Sie sind nicht bereit eine Neuaufteilung durch die USA einfach zuzulassen. Und den USA ist es nicht gelungen die Karte zu verändern, auch wenn sie strategische Überlegungen in diese Richtung machen16. Andere gewichtige regionale Akteure sind die zionistische Besatzungsmacht Israel, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabische Emirate, die wiederum ihre eigenen Interessen bezüglich der Kurdenfrage verfolgen. Und gerade für Israel ist es ein schwieriges Unterfangen, sich der kurdischen Organisationen zu bedienen, da dieses Ansinnen in der Praxis mit vielen Widersprüchen konfrontiert ist, die sich nicht einfach durch offene oder verdeckte Beziehungen, finanzielle und militärische Hilfen und Bekundungen aushebeln lassen.17 Dass Israel die Autonome Region Kurdistan (kurz: KRGI) unterstützt, daran scheint es keinen Zweifel zu geben.18 Die genannten Widersprüche sind einerseits die eigenen Beziehungen zur Türkei, aber auch die notwendige ökonomische Zusammenarbeit der opportunistischen Kräfte KDP und PUK mit den muslimischen und / oder arabischen Völkern in der Region. Ofra Bengio, die als Expertin für die Kurdenfrage in Israel gilt, beschreibt die lange bestehenden Beziehungen zu den irakischen Organisationen und dann auch zur Autonomen Region Kurdistan / Irak als besonders eng und intensiv.19

Der innere Zustand der PKK

Der innere Zustand der PKK darf auch nicht ganz außer Acht gelassen werden, wenn wir die Entwicklung der PKK nachvollziehen wollen. Es gab sehr viele Auseinandersetzungen innerhalb der PKK, die zu Verfolgungen, Hinrichtungen und Entmachtungen führten. Berichten alter PKK-Kader zufolge waren zum Abschluss der Neunziger, noch vor der Verhaftung Öcalans nur wenige der alten Kader geblieben.20 Zu diesen alten Kadern gehören bis heute noch Cemil Bayik, Murat Karayilan und Duran Kalkan. Ein weiteres prominentes Mitglied der ersten Stunde war Sekine Cansiz, die 2013 in Paris ermordet wurde21.

An dieser Stelle können die Auseinandersetzungen innerhalb der PKK nicht einer tiefen Analyse unterzogen werden. Es kann nur darauf hingewiesen werden, dass es innerhalb der PKK unterschiedliche Positionen zu Fragen der Strategie und Taktik und zu den Methoden gegeben hat, die für die spätere Entwicklung bzw. Veränderung der Programmatik von Bedeutung sind. Anfang der Neunziger gab es z.B. unterschiedliche Positionen bezüglich der Frage, ob sich die PKK in den Kampf der Kurden gegen Saddam Hussein einmischen sollten. Mitte der Neunziger hatte Öcalan einen Friedensplan vorgelegt, der die Zielsetzung eines eigenen kurdischen Staates zumindest relativierte, da darin keine Forderungen nach Lostrennung erhoben wurden. Auch hierin waren sich nicht alle einig.

In den Neunziger Jahren, auch das soll hier nicht unerwähnt bleiben, übte die PKK für viele Internationalisten in aller Welt, aber auch ganz besonders aus der BRD, eine starke Anziehungskraft aus. Sicherlich hing dieses besondere Interesse auch mit den vielen Demonstrationen in der BRD und der heftigen staatlichen Repression, mit dem PKK-Verbot und der rassistischen Hetze sowohl in den deutschen Medien, als auch seitens türkischer Faschisten, zusammen. Viele Frauen und Männer aus Europa besuchten Öcalan in Syrien und schlossen sich zeitweise der PKK und ihren bewaffneten Einheiten an. Waren es damals Aktivisten aus dem so genannten antiimperialisitischen Lager (vor allem aus der autonomen Szene), darf diese heute mit dem breiten Bündnis der Unterstützerschaft der PKK nicht verwechselt werden, das von FDP-Kreisen bis zu antinationalen Gruppen reicht. Die alten so genannten Anti-Imps sind zwar auch geblieben, aber sie machen nicht mehr den Kern der Kurdistan-Soli aus.

Öcalans Verhaftung – eine politische Wende wird eingeläutet

Manche haben das damals als politische Wendung wahrgenommen, was Abdullah Öcalan in seiner Verteidigungsrede verlauten ließ. Das führte, so Çelik, unter anderem zum Rückzug seiner Anwälte, die ihm nahelegten einen politischen Prozess zu führen. Aber wie kam es eigentlich zur Verhaftung Öcalans? 1998 läutete die türkische Regierung eine Offensive gegen die PKK ein, indem sie – kurz gesagt – allen Nachbarländern einen Krieg androhte, wenn sie weiterhin die PKK beherbergen würden. Das betraf vor allem Syrien, wo die PKK seit Jahren ein ruhiges Hinterland gefunden hatte, von wo aus sie ihre Politik in der Region planen und vorbereiten konnte. Es war offiziell bekannt, dass sich Öcalan in Syrien aufhielt und viele internationale Besucher empfing. Auf Druck der türkischen Regierung wurde am 20. Oktober 1998 das Adana-Abkommen zwischen Syrien und der Türkei abgeschlossen, worin Syrien versicherte der PKK keinen Rückzugsort mehr in Syrien zu bieten. Auch der Libanon nahm Öcalan nicht mehr auf. Mehrere Versuche Öcalans über einen Verbindungsmann ein Visum für Russland zu bekommen, scheitern. Insgesamt beginnt eine 130-tägige Odyssee für Öcalan. Zweimal wird er in Italien verweilen. Seine Anwälte und auch andere politische Weggefährten und Vertreter anderer Organisationen raten ihm in Italien zu bleiben, politisches Asyl zu beantragen und an die Öffentlichkeit zu gehen. Öcalan besteht aber auf Gespräche mit Diplomaten und Staatsvertrtern. Während seines erstens Aufenthalts in Rom, unterbreitet er im Januar 1999 dem Vatikan einen politischen Vorschlag, der, so zumindest der Bericht von Selahattin Çelik, nicht mit dem Zentralkomittee der PKK abgesprochen war. Dieser Vorschlag beinhaltete das Angebot den bewaffneten Kampf einzustellen, wenn eine Amnestie für die PKK gegeben werde. Des Weiteren würde die PKK die demokratische Republik Türkei anerkennen, wenn die geforderten Rechte der kurdischen Bevölkerung zugestanden werden.22 Dieser Vorschlag sorgt zwar für einigen Widerhall in der Öffentlichkeit, bleibt aber seitens der EU und einzelner europäischer Staaten unbeantwortet. Die Situation insgesamt ist davon geprägt, dass die Türkei vorgibt, eine Aufnahme Öcalans durch ein drittes Land als Kriegserklärung zu betrachten. Kein europäisches Land, auch und gerade nicht Griechenland (aufgrund der bestehenden Spannungen wollte Griechenland kein Risiko eingehen, was zu einer Eskalation hätte führen können), auch nicht Russland sind bereit Öcalan aufzunehmen. Auf die Einzelheiten der weiteren Irrfahrt Öcalans kann hier nicht näher eingegangen werden. Letztendlich werden der griechische und der US-amerikanische Geheimdienst Öcalan nach Kenia befördern. Das Argument ist, dass so ein Krieg zwischen der Türkei und Griechenland abgewendet werden kann. Dort in Kenia haben aber der türkische Geheimdienst MIT und die CIA schon längst Vorkehrungen für die Verhaftung Öcalans getroffen und werden ihn am 15.Februar 1999 in die Türkei verschleppen und unter massiven Sicherheitsvorkehrungen auf die Insel Imrali bringen, wo er seitdem, also seit nunmehr zwanzig Jahren, eigeknastet ist.

Während dieser ganzen Zeit häufen sich chauvinistische und antikurdische Demonstrationen und massive Verhaftungen in der Türkei, – vor allem von Mitgliedern der HADEP (die PKK-nahe Partei in der Türkei). In Griechenland kommt es nach der Verhaftung zu einer Regierungskrise, in der BRD kommt es zu heftigen Protestaktionen mit einer Welle von Repression gegen die kurdischen Organisationen und Vereine. Bei einer Demonstration vor der israelischen Botschaft in Berlin gegen die Unterstützung der Verschleppungsaktion durch den israelischen Geheimdienst Mossad, werden drei PKK-Aktivisten von Mitarbeitern der Botschaft ohne Vorwarnung erschossen und sechzehn weitere verletzt. Bis heute sind es unter anderem diese Erfahrungen innerhalb der PKK und ihrer Basis, die einer Annäherung an Israel im Wege stehen.

Verteidigungsrede Öcalans

Es wäre zu erwarten gewesen, dass mit dem Prozess gegen Abdullah Öcalan, von der gesamten PKK und ihrer beachtlichen Basis als Serok Apo (Führer/Vorsitzender Apo) bewundert und gepriesen, eine Offensive beginnt, die die politische Begründung für den Kampf der kurdischen Bevölkerung gegen ihre Entrechtung, Diskriminierung, Verfolgung und Erniedrigung liefert. Nichts dergleichen. Seitens der türkischen Regierung ist der Prozess wie ein Schauprozess organisiert und soll die PKK als Terrororganisation und Verbrecher darstellen, Mütter der Opfer des „PKK-Terrors“ werden zu den Prozessen zugelassen, kaum kritische Journalisten. Zwischen Öcalan und seinen Anwälten muss es eine Auseinandersetzung über die richtige Taktik in diesem Prozess gegeben haben, die letztendlich zum Rückzug der ersten Anwälte führt. „Ob unter dem Eindruck der Propaganda des türkischen Staates oder aus internen Gründen, innerhalb der PKK hatte sich eine lautlose Opposition gegen Öcalan entwickelt, und dies führte während der Entführung zu widersprüchlichen Haltungen. Während ein Teil Öcalans Abreise aus Syrien und vor allem seine Einreise nach Italien als einen positiven Beginn für eine Wandlung der PKK bewerteten, betrachtete ein anderer Teil dies als „Komplott, um Öcalan eine prowestliche Linie aufzuzwingen.“ Auch wenn diese unterschiedlichen Einschätzungen nicht die Ebene einer organisatorischen Spaltung erreichten, verhinderten sie doch eine gemeinsame Haltung in der Praxis.“23 (die Anführungszeichen im Text von Çelik) Es gab schon seit Mitte der Neunziger Überlegungen seitens Öcalan, wie ein Friedensplan aussehen könnte und ob die PKK ihre Taktik ändern müsse. Nun saß Öcalan im Knast. Müsste die PKK nicht eine neue Führung wählen? Weit davon entfernt, veröffentlichte der Präsidialrat der PKK eine Erklärung am 9.2.2000, die den bisherigen Vorsitzenden bestätigt und seine Orientierung annimmt.24 Apo aber war nicht mehr Teil eines Kollektivs. Der türkische Generalstab hatte ihn in der Hand. Ob er sich politisch hat beeinflussen lassen und wer noch Alles seit seiner Verhaftung bei der Einflussnahme auf das „Neue Paradigma“ eine Rolle gespielt haben mag, bietet noch Stoff für investigative Recherchen und Fleißarbeit von Historikern. Fest steht, dass einige Weggefährten von der Wendung in seiner Verteidigung enttäuscht waren und darin das Ende der alten PKK sahen. Nun zu den Inhalten seiner Verteidigungsrede25 in Kürze: er führt die den „kurdischen Aufständen“ zugrundeliegenden Probleme auf ein Demokratiedefizit zurück und konstatiert, dass dieses Defizit zuallererst auch in der feudalen Struktur der kurdischen Gesellschaft zu suchen sei. „Noch immer ist das schwerwiegendste Problem der kurdischen Gesellschaft das Demokratieproblem. Das Dreigespann von Ağas, Scheichs und Aşirets26 hat eine Trennungslinie zwischen den Kurden und dem Staat errichtet. Dies verhindert, dass der Einzelne ein freier Bürger und die Gesellschaft eine freie Gesellschaft wird. Dies ist die Wunde der Republik.“27 „Aufstände“ bzw. „Rebellionen“ seien falsch, es müsse ein Prozess der Demokratisierung von unten beginnen. Schon die Bezeichnung „Aufstand“ und „Rebellion“ löste Befremden bei einigen langjährigen Genossen aus. Der bisherige Kampf der PKK wäre damit also kein „nationaler Befreiungskampf“ mehr, sondern eine Rebellion, die vielleicht aus der rückständigen Lebensform der kurdischen Bevölkerung resultiert? Öcalan erklärte seinen Wunsch nach Beendigung des bewaffneten Kampfs. Zu guter letzt sei noch erwähnt, dass Abdullah Öcalan explizit erklärte, dass seine Aussagen Ausdruck seines freien Willens seien und nicht unter Druck der staatlichen Repression zustande gekommen seien. Aber wir wissen, dass solche Aussagen gerade auch unter massiver Repression politischen Gefangenen aufgezwungen werden, somit ist diese Aussage wenig relevant.

Im Juni 1999 wird Abdullah Öcalan zum Tode verurteilt. Das Urteil wird jedoch auf internationalem Druck nicht vollstreckt. Da 2002 die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft wurde, konnte das Urteil in eine lebenslange Haft umgewandelt werden.

War das Wort von Apo der PKK wie ein Befehl? Warum hat die PKK dann nicht den bewaffneten Kampf eingestellt? Und verfolgt die PKK noch das Ziel eines zusammenhängenden Kurdenstaates?

Es soll im folgenden der Versuch unternommen werden die Handlungen der PKK vor dem Hintergrund ihrer Proklamationen nachzuvollziehen. Sie wird nach einer Rekonstituierungsphase zwischen den Jahren 2000 – 2004 eine Neukonstituierung vornehmen. In dieser Phase hatte sich die PKK (ab 2002) offiziell für aufgelöst erklärt.

Der Irakkrieg 2003: die PKK und die Verschlechterung der USA-Türkei-Beziehung

Bevor wir auf die Neukonstituierung und den Paradigmenwechsel eingehen, soll noch ein Blick auf die weitere Entwicklung im Nachbarland Irak geworfen werden. Die Ereignisse dort hatten keine geringe Wirkung auf das politische Verhältnis zwischen der Türkei und den USA.

Am 20. März 2003 begannen die USA und Großbritannien mit einer so genannten „Koalition der Willigen“ mit den Bombardierungen Iraks. Die BRD beteiligte sich nicht direkt an diesem völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Angriffskrieg, unterstützte jedoch die Aggressoren mit der Versorgung in Deutschland. Die rot-grüne deutsche Regierung zog zwar verbal gegen den Krieg ins Feld, war aber keineswegs eine Friedenstaube, sondern sah nur die eigenen Interessen nicht genügend bedient. Wie auch immer das innerimperialistische Gezerre um die Neuaufteilung aussah, der Krieg gegen den Irak wurde mit aller Härte geführt. Die Koalition der Angreifer konnte durch den schweren luftgestützten Einsatz von Bodentruppen die Macht der Baath-Partei brechen und letztendlich den Irak besetzen. Die Besatzung des Irak dauerte offiziell bis 2011. Die kurdische Regionalregierung im Irak unter Führung der Parteien KDP und PUK beteiligte sich am Krieg gegen die irakische Regierung. Nach dem Sieg erlangte die Autonomieregion einen De-Fakto-Status, ist aber bis heute nicht als eigenständiger Staat anerkannt. In der folgenden Zeit kommt es verstärkt zur Präsenz von PKK-Kräften im Nordirak. Die türkische Regierung beäugt diese Entwicklung mit großer Sorge, da sie eine Neuformierung der PKK, die sich ja 2002 für aufgelöst erklärt hatte, befürchtet. Tatsächlich zieht die PKK immer mehr Kräfte in die Kandilberge. Schon Anfang März 2003 verweigert die Türkei die Stationierung von US-Truppen und ihrer Koalitionäre auf türkischem Gebiet. Im gleichen Jahr wird die HADEP („Partei der Demokratie des Volkes“, der eine politische Nähe zur PKK nachgesagt wurde) verboten. Die Begründung lautet „separatistische Bestrebungen“. In der Zeit nach der Besatzung gibt es laufend Forderungen an die USA seitens der türkischen Regierungen gegen die Stellungen der PKK im Nordirak vorzugehen. Diese bleiben weitgehend unbeantwortet. Auch gibt es im Jahre 2005 Beschwerden wegen der Umsiedlungspolitik in Nordirak, bei der es zu zwangsweisen Umsiedlung von über 30 000 Turkmenen gekommen sein soll28. Schließlich eröffnet die PKK im August 2005 ein Büro in der von US-Besatzungstruppen kontrollierten, ölreichen Stadt Kirkuk im Norden Iraks. Interessant dabei ist, dass das möglich war, nachdem die PKK ab dem Jahr 2004 mit Operationen gegen türkische Militärs, aber auch Zivilisten (vor allem in Touristengebieten) begonnen hatte, nachdem sie den Waffenstillstand, zu dem sie sich selbst verpflichtet hatte am 1. Juni 2004 gekündigt hatte. In diesem größeren Zusammenhang muss auch die Gründung der so genannten Freiheitsfalken, der TAK, erwähnt werden. Diese Organisation, die vor allem Terroranschläge im urbanen Raum durchführt, wurde laut Verfassungsschutzbericht 2006, 1999 von der HPG, also dem bewaffneten Arm der PKK gegründet, um in städtischen Gebieten eine militärische Antwort auf die Verhaftung von Abdullah Öcalan bereitzuhalten29. Bis heute wird sowohl seitens der TAK, als auch seitens der PKK eine direkte organisatorische Verbindung dementiert. Offiziell hat sich die TAK zwar 2004 von der PKK gelöst, aber ihre Kämpfer werden angeblich in Nordsyrien bei der YPG ausgebildet30.

Die Neukonstituierung der PKK und der Paradigmenwechsel

Im Mai 2005 wird auf einer Versammlung das neue Programm des „Demokratischen Konföderalismus“ verkündet, nachdem sich die PKK im April des selben Jahres neu gegründet hatte. Die neue Programmatik, die laut den Angaben der Organisation von Abdullah Öcalan entwickelt wurde, ist an die Gedankenwelt des Libertären Kommunalismus angelehnt, der vor allem von Murray Bookchin, einem US-amerikanischen Anarchisten, geprägt wurde. Kernaussagen des neuen Programms der PKK waren die Ablehnung des Staates und das Streben nach einer demokratisch-ökologischen Zivilgesellschaft. Dabei soll die „Selbstverwaltung“ dieser Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielen, worin Hierarchien und Differenzen aufgehoben werden sollen. Explizit wird das Streben nach einem Nationalstaat überhaupt und damit auch für die Kurden abgelehnt. Auch sei Gewalt kein Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen, vielmehr soll die Einsicht in die Vernunft der Selbstverwaltung eine Entwicklung hin zum demokratischen Leben befördern. Weiter unten wird nochmal auf die verschiedenen Aspekte dieser neuen Programmatik eingegangen und die Widersprüche zur Praxis der PKK aufgezeigt.

Ein Jahr nach der Verabschiedung des neuen Programms, wird auf einer weiteren Versammlung die Orientierung ausgegeben, Selbstverwaltungen auch in den von Kurden besiedelten Gebieten im Irak, in Syrien und im Iran aufzubauen. So werden im Jahr 2003 die PYD in Syrien auf Beschluss der PKK und im Jahre 2004 die PJAK im Iran gegründet.

2005 wurde auch die Organisation KKK/TK (Kurdistand Demokratischer Konfödertion / Türkei-Koordination) gegründet, die später im Jahr 2007 in KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) umbenannt wurde. Aufgabe dieser Organisation ist bis heute der Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen mit speziellen Komitees, die sich um Bereiche wie Bildung, Selbstverteidigung, Recht und Gesundheit kümmern. Die KCK erkennt in ihrer Verfassung die Führung von Abdullah Öcalan an. Die Führungspositionen haben Kader der PKK inne, Als Bedingung für den Waffenstillstand oder sogar für die Abgabe der Waffen wird unter anderem die Anerkennung der kurdischen Identität genannt, des Weiteren Kurdisch als zweite offizielle Sprache des Landes in den mehrheitlich von Kurden besiedelten Gebieten, die Einführung bestimmter demokratischer Rechte wie die freie politische Betätigung, Rückzug aller Truppen aus der Osttürkei und die Freilassung aller politischen Gefangenen, einschließlich Abdullah Öcalans.

Wie kommt es zwischen den Jahren 1999 und 2005 zur programmatischen Neuorientierung der PKK. Einer der ersten Anwälte Abdullah Öcalans, Mahmut Şakar, sagt dazu rückblickend bei einem Interview im Jahre 2019: „Für mich war es natürlich eine äußerst interessante Begegnung. Seine vorgebrachten Gesichtspunkte waren wichtig für mich – sowohl um Herrn Öcalan zu verstehen als auch die Dimensionen des internationalen Komplotts. So sagte er uns: »Ich versuche euch am Leben zu erhalten. Ich versuche mein Volk am Leben zu erhalten. Ich versuche mein Volk wohlbehalten von diesem Ufer ans gegenüberliegende Ufer zu bringen.« Es war eine sehr bildhafte Ausdrucksweise. Wenn ich später von dieser Zeit erzählte, kam mir immer eine moderne Moses-Geschichte in den Sinn, in der ein Anführer seinen eigenen Stamm, seine Gesellschaft vor einer Gefahr schützen will. Mir wurde klar, dass die internationale Staatengemeinschaft, deren Regierungen Öcalans völkerrechtswidrige Verschleppung mindestens duldeten – wenn sie an dem Komplott nicht sogar direkt beteiligt waren –, mit ihrer Haltung die Tür zu einem bevorstehenden Genozid öffnete. Die Gefahr, mit der die kurdische Bevölkerung konfrontiert war, wurde mir durch dieses Treffen bewusst. Es ging Öcalan nicht um seine persönliche Situation, seine Haft oder um sein Überleben. Wichtig war ihm, dass sein Volk sich in ernster Gefahr befand. Er überlegte, was er gegen den drohenden Genozid tun könnte. Dies prägte das erste Treffen und war wichtig für mich, um das internationale Komplott in all seinen Dimensionen zu verstehen.“31 Wollte Öcalan das kurdische Volk vor einem Genozid retten und musste also den Kurs der PKK neu bestimmen? Oder dient diese Begründung fünfzehn Jahre später dazu, die kritischen Stimmen bezüglich der strategischen Neuorientierung zu besänftigen? Welche Beweggründe auch immer für die Formulierung eines neuen Paradigmas tatsächlich gegeben waren, wir können uns aus den Schriften Öcalans ein recht genaues Bild von den Inhalten des neuen Paradigmas machen, die auf türkischer Sprache schon 200432 veröffentlicht wurden. In deutscher Sprache erschienen sie unter dem Titel Jenseists von Staat, Macht und Gewalt im Jahr 2010.

In dieser Schrift finden sich Ausführungen über die Geschichte Westasiens, Auseinandersetzungen mit der Kurdenfrage, Einschätzungen zur aktuellen Situation in der Region, eine Selbstkritik bzw. Kritik der PKK, die gleichzeitig eine Kritik des so genannten Realsozialismus und des Marxismus beinhaltet. Im Zusammenhang des vorliegenden Diskussionspapiers kann es nicht um alle diese Aspekte gehen und auch nicht um eine intensive Kritik der von Öcalan formulierten Thesen. Der nächste Abschnitt soll lediglich einen allgemeinen, zusammenfassenden Einblick in die Argumentation von Abdullah Öcalan geben und ein paar Schlaglichter auf seine Sichtweise werfen.

Das neue Paradigma der PKK

Das von Öcalan gezeichnete Bild über den heutigen Imperialismus sieht so aus: das „globale System“, so wie er es nennt, ist in eine neue Stufe eingetreten, in der – zwecks weiterer Profitschöpfung – mit den alten Strukturen von Nationalstaat, Religion und Tradition gebrochen werden muss. Das wiederum führe dazu, dass das System überall dazu dränge diese alten Herrschaftsformen und -instrumente aus dem Weg zu räumen. In dieser Phase, in der wir uns seit etwa Ende des Zweiten Weltkrieges befinden, sei die USA – durch ihre hegemoniale Rolle – die Hauptprotagonistin des Systems. In Bezug auf die Region in Westasien geht Öcalan mehrfach auf den US-amerikanischen Plan des Greater Middle East Project (GMEP) ein:

„Machtblöcke, die die Befreiung des Individuums und die Demokratisierung der Gesellschaft verhindern, sind mittlerweile für das globale System inakzeptabel geworden. In ähnlicher Weise, wie sie seinerzeit in den ersten und zweiten Weltkrieg eingetreten sind, haben sich die USA als Führungsmacht des Chaos-Imperiums und der Block ihrer Verbündetem mit der Besetzung von Afghanistan und des Irak in eine Art dritten Weltkrieg gegeben. Die NATO wendet sich der Region zu und neutralisiert gleichzeitig wichtige Mächte wie Russland, China und Indien. Mit dem Greater Middle East Project versucht man, einen Ausweg aus dem Chaos und eine Lösung zu finden. Als Antwort darauf drängen sich Lösungen auf, die durch mehr Demokratie, Freiheit und Gleichheit zu Optionen für die Völker werden können.“33

Interessant dabei ist unter anderem der historische Vergleich mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Waren doch damals die USA die Macht, die nicht die Kriege vom Zaun gebrochen hat, sondern später „eingetreten“ ist und trotz aller bekannten eigenen imperialistischen Interessen, als Friedensmacht erscheinen konnte, so ist die Rolle der USA im Irak und Afghanistan eine gänzlich andere, nämlich die des Aggressoren, der asymmetrische Kriege führt. Dass die USA sich in den Krieg begeben hätten bedeutet aber, dass es ihn schon gegeben hat oder soll es heißen, dass es für sie notwendig war einzutreten, um ‚das globale System‘ nach vorne zu bringen? Und wie ist es zu verstehen, dass die „Führungsmacht des Chaos-Imperiums“ mit dem GMEP „einen Ausweg aus dem Chaos“ suchen will? Noch mehr Fragen: die Lösungen, die die USA sucht seien „Demokratie, Freiheit und Gleichheit“? Und wenn dann Öcalan hinzufügt, dass diese „Lösungen“ „Optionen für die Völker“ sein können, dann ist man geneigt diese Aussage so zu interpretieren, dass im Freiheitskampf der Völker die Zusammenarbeit mit den USA eine Option sein kann. Diese Vermutung bestätigt sich im Laufe der Lektüre dieser – wohlgemerkt schon 2004 – erschienen Schrift. Auch wenn Öcalan immer wieder versucht die negativen Seiten „des globalen Systems“ zu benennen und zu betonen, dass es hier nicht um die Frage geht, ob wir dieses System gut oder schlecht finden, bleibt die Quintessenz seiner Aussage, dass die USA in dieser „neuen Epoche des Imperialismus“ neue Wege für die Befreiung eröffnen, weil sie – zusammengefasst gesprochen – gegen die (vor allem regionale) Reaktion handeln. Öcalan bezeichnet seine eigene Sichtweise als eine „realistische“ Sichtweise:

„Im Lichte unserer bisherigen Analyse erscheint es zutreffend, die USA als ein „Imperium des Chaos“ zu betrachten. Dies unmoralisch und illegal zu finden, spricht nicht dagegen, dass es realistisch ist. (…) Man kann über das Ausmaß der dritten großen Offensive des Kapitalismus diskutieren. Man kann seine chaotischen Eigenschaften aufzählen. Sie alle bestätigen die Notwendigkeit für eine imperiale Führung zum jetzigen Zeitpunkt. Viele Autoren weisen darauf hin, dass Staaten überall dort, wo die Zivilisation fortschreitet, keine weißen Flecken und kein politisches Vakuum akzeptieren. Von daher ist es unvermeidlich, dass die USA als der Staat, der sich auch in der jüngsten Revolution von Wissenschaft und Technik an die Spitze gesetzt und so eine gigantische militärische und ökonomische Macht geschaffen hat, die Expansion des Systems fortsetzt. Das liegt in der Natur der Politik und des Staats. Dies zu sagen bedeutet nicht, einzuräumen, dass sie im Recht ist.“34

Auf der einen Seite ist es klar, dass die imperiale Hegemonie der USA im eigenen Interesse handelt, das beinhaltet andere Regionen und Völker von sich abhängig zu machen, auf der anderen Seite aber eröffnet dieses Handeln – laut Öcalan – Möglichkeiten, die auch für die Befreiung der Völker nutzbar gemacht werden können. Das sei deshalb möglich, weil sowohl die alten nationalstaatlichen Herrschaftskonstrukte überholt seien, als auch weil die USA neue „Abhängigkeitsformen“ als gewinnbringender ansieht. Dabei betont Öcalan, dass es ihm nicht bei dieser „Analyse“ um Bewertung geht:

„Ebenso ist die Aussage, dass das Zeitalter der Nationalstaaten vorbei ist, nicht gleichbedeutend damit, den globalen Imperialismus gutzuheißen. Es handelt sich viel mehr um die Einschätzung, dass die globale ökonomische, militärische und politische Realität das Modell des Nationalstaates nicht mehr als effektiv einschätzt, sondern ihn als Ballast betrachtet. Im Gegensatz zu dem, was der nationalistische Diskurs suggeriert, ist ein Nationalstaat kein Staat, in dem völlige Unabhängigkeit realisiert wäre.“35

Aber jenseits von Bewertungen aus welcher Perspektive auch immer, bewertet Öcalan doch selbst die neuen Abhängigkeitsformen insoweit als positiv, indem er sie von negativen Merkmalen abgrenzt:

„Die Art und Weise der Abhängigkeit, die sich in der imperialen Tendenz der USA konstituiert, ist eine sehr flexible. Sie beruht nicht auf veralteten Methoden wie starrem Kolonialismus, ethnischen Säuberungen oder religiösem Fanatismus. Vielmehr probiert sie Abhängigkeitsformen aus, die noch postmoderner sind als der Neokolonialismus. Ohnehin begreift eine große Zahl von Nationalstaaten wegen der Struktur ihrer Führungen die Abhängigkeit von den USA als eine Belohnung. Der Nationalstaat wird nicht abgeschafft. Aber ihm wird auch nicht erlaubt, sich so draufgängerisch (sprich: ‚schurkisch‘) zu verhalten wie früher.“36

Wir erfahren hier, welche schrecklichen Methoden die USA angeblich nicht anwenden bzw. unterstützen: keine kolonialistischen Methoden, keine ethnischen Säuberungen, keinen religiösen Fanatismus, keine „schurkischen“ Methoden. Es ist schwer diese Sätze ohne Empörung zu lesen und sich nicht über das Ausmaß an Realitätsverlust nicht zu wundern. Das, was einem hier begegnet, könnte direkt aus den Propagandaministierien eines George W. Bush Senior oder Junior stammen, aus den reaktionärsten US-amerikanischen Kreisen, die ihre verbrecherischen Taten hinter den Begriffen von Demokratie, Freiheit und Frieden eher schlecht als recht zu verstecken versuchen. Es hilft auch nicht, wenn Öcalan an unterschiedlichen Stellen es doch noch schafft, die USA für ihre Politik zu kritisieren und ihre Pläne für Westasien der PKK gegenüber als potentiell feindlich zu bezeichnen.37

Und was rät Abdullah Öcalan im Jahre 2004, also noch vor der Neukonstituierung der PKK und der Verabschiedung ihres neuen Programms des „Demokratischen Konföderalismus“, der kurdischen Völker? Welche Rolle können und sollen die PKK und die anderen kurdischen Organisationen aus seiner „realistischen“, – man könnte auch sagen pragmatisch-opportunistischen, sich dem US-Imperialismus anbiedernden – Sichtweise tun?

„Es hat eine Zeit begonnen, in der sich die Kurden nicht länger wie bisher steuern lassen werden. (…) Wie eine Lösung aussieht und wann sie eintritt, wird von der Art und dem Tempo derjenigen Kräfte bestimmt, die aktiv intervenieren. Es scheint, als werden die Kurden für den ganzen Mittleren Osten eine ähnlich erschütternde Rolle spielen, wie sie Israel inmitten der arabischen Staaten spielt. Die Etablierung eines kurdischen Bundesstaates im Irak wird zum Zerfall des starren nationalstaatlichen Modells in der Region beitragen. Ohne dass diese Staaten es wollen, wird sich so vielleicht die Tendenz zu einer allgemeinen Föderation beschleunigen, was den historischen Gegebenheiten des Mittleren Ostens besser entspräche. Die aktuell brennende Frage ist dabei, ob es zu einem Konflikt zweier Nationalismen oder zu einer Lösung durch demokratische Kompromisse kommt.“38

Eine ähnliche Rolle wie Israel, also ein Vorposten der Zivilisation gegen die rückständige Barbarei, so wie es Theodor Herzl39 seinerzeit den Imperialisten ans Herz gelegt hat? Das würde zumindest einigen Aussagen Öcalans zum Thema Zionismus widersprechen, Aussagen die von israelischer Seite als feindlich angesehen werden.40 Schaut man sich den weiteren Verlauf der Geschichte der PKK bis in die aktuelle Zeit an, verstärkt sich der Eindruck, dass das jedoch so gemeint sein könnte, wie Herzls Formulierung. Zumindest gibt es da auch innerhalb der PKK sicherlich unterschiedliche Positionen. Ofra Bengio, eine auf die Kurdenfrage spezialisierte israelische Professorin (Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies) sieht eine Spaltung innerhalb der PKK bezüglich der Israelfrage.41 Beispielsweise nimmt Murat Karayilan, einer der historischen Führer der PKK, in einem Interview mit einem israelischen Journalisten eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber Israel ein, beklagt allerdings, dass Israel trotzdem mit der Türkei kooperiere und damit den Kurden in den Rücken falle: „Wissen sie, es ist wirklich ein großes Rätsel für mich. Ich hätte von Israel mehr als von jedem anderen Volk der Welt erwartet, dass sie uns verstehen und sich mit uns identifizieren. (…) Einst waren wir Freunde. In den 1960ern und 1970ern hat Israel keine Mühen gescheut, um den Kurden zu helfen. Wir haben euch bewundert.“42. Das habe sich erst in den 80ern durch die zunehmende Militärkooperation mit der Türkei geändert. Nun war aber Israel auch in den 1960ern und 70ern bereits eine Besatzungsmacht, die z.B. im Sechstagekrieg 1967 ihre Nachbarn überfiel und die Palästinenser unterdrückte. Die Tendenz, die kurdische nationale Befreiung auch auf Kosten der Kämpfe anderer Völker durchsetzen zu wollen, findet sich also auch hier wieder. Hier geht es erst einmal um die Frage, wie sich Öcalan die Rolle der Kurden vor dem Hintergrund der US-Pläne für die Region vorstellt.

„Seit sich die USA um 1990 herum als einzige Weltmacht etablierten, haben sie sich besonders auf den Mittleren Osten konzentriert. Ihr Greater Middle East Project ist täglich in der Diskussion. Eines der wichtigsten Themen dabei ist die Stellung der Kurden in diesem Projekt. Es ist möglich, dass die strategische Bedeutung der Beziehungen zwischen den Kurden, den USA und Israel noch zunehmen wird. Die Folgen für die Region müssen genau abgewogen werden. Es ist eine Diskussion wert, ob für die Kurden eine Zeit des Aufschwungs oder eine Zeit des Verrats bevorsteht. Erstmals stellen die Beziehungen der Kurden untereinander und mit den Nachbarvölkern und -staaten für die Region einen derart bedeutenden strategischen Faktor dar.“43

Ein strategischer Faktor, den Öcalan als Chance für die eigene Sache erkennt? Wer die Diskussionen rund um die Zusammenarbeit der Apoistischen Partei PYD mit den USA verfolgt, wird – zumindest in linken Kreisen – die Behauptung zu hören bekommen haben, dass es sich bei dieser nicht um Kollaboration, sondern um eine taktische Kooperation, gar Ausnutzung der innerimperialistischen Widersprüche handelt. Wenn man sich aber die Überlegungen Öcalans über eine strategische Orientierung hin zu einer Zusammenarbeit mit der imperialistischen Hegemonialmacht USA anschaut, die über ein Jahrzehnt früher gemacht wurden, hat Grund genug die heutige Argumentation44 anzuzweifeln.

Die Zeit nach der Neukonstituierung der PKK

In den nächsten Jahren nach 2004 sind auf der einen Seite mehrere Repressionswellen sowohl in der Türkei, als auch in der BRD und in Europa zu verzeichnen. Auf der anderen Seite sind zahlreiche Anschläge seitens der PKK oder ihr nahestehenden Organisationen wie die so genannten Freiheitsfalken TAK an der Tagesordnung. Die PKK wartet auch mit Waffenstillstandsangeboten auf und startet mehrere politische Kampagnen, vor allem zur Freilassung bzw. auch zu den Haftbedingungen Abdullah Öcalans. Das türkische Militär marschiert mit Bodentruppen im Nordirak ein (Februar 2008), der Fernsehsender ROJ TV wird in den Niederlanden und in der BRD verboten, die HPG, der militärische Arm der PKK, verübt einen Anschlag auf eine Polizeistation in Hakkari im Südosten der Türkei. Immer wieder berichten die Anwälte Öcalans von seiner Misshandlung, woraufhin Kampagnen zur Verbesserung der Haftbedingung und zur Freilassung Abdullah Öcalans von den der PKK nahe stehenden Organisationen lanciert werden. Insgesamt ist eine erhöhte Präsenz der Jugend- und Studentenorganisation der PKK-solidarischen Vereine in Europa und besonders in der BRD zu beobachten. Durch Kampagnen wie „Tatort-Kurdistan“ finden zunehmend Annäherungen und gesteigerte Bündnisaktiviäten in der BRD statt. Viele Fragen und Themen, die linksorientierte, autonome und anarchistische Bewegung in der BRD bewegen, werden von den den Apoistischen Organisationen aufgenommen. Dazu gehört die Geschlechterfrage, Ökologie, aber auch bei einigen Internationalisten noch vorhandene und bei der Jugend teilweise neu aufkommende Begeisterung für den bewaffneten Widerstand, also eine Art Guerilla-Romantik. Ein weiterer neuer Nenner, der breite Bündnisse hier in der BRD möglich macht, sind die Aktivitäten gegen die Erdoğan-Regierung und die Kritik an der islamischen Bewegung aus der die AKP, – und damals noch mit ihr gemeinsam die Gülen-Sekte – ihre Basis schöpfte.

Im August 2009 wird von Öcalan eine so genannte „Roadmap für Demokratisierung der Türkei und die Lösung der Kurdenfrage“ veröffentlicht.45 Darin wendet sich Öcalan gegen so genannte etatistische Lösungsansätze, nachdem er seine Vorstellung von der Bedeutung von Demokratie, Nationalstaat usw. in einer Einführung dargelegt hat. Etatistische Lösungsansätze würden in allen Fragen den Staat bzw. die Verstaatlichung als Lösung betrachten, was aber keineswegs eine wirkliche Lösung der Probleme bringen würde. „Ein anderer Nachteil von etatistischen Theorien ist, dass sie die Kräfte der Gegenseite, die unter dem Problem leidet, ebenfalls in den Etatismus treiben. Dadurch entsteht also das Risiko, dass diese die Forderung nach einem eigenen Nationalstaat als einzige Lösung betrachten, eine Mentalität, die einen Staat gegen den anderen Staat stellt. Die demokratische Theorie besitzt ein größeres Potenzial, Lösungen hervorzubringen, da sie weder eine Separation staatlichen Territoriums noch eine Ausrichtung auf einen gegnerischen Nationalstaat erfordern oder vorschreiben. Die große Chance für demokratische Theorien liegt darin, dass sie eine nichtstaatliche, flexible Lösung vorsehen, die einen Staat weder anstrebt, noch negiert, noch verleugnet.“46 Kurz gesagt: die Existenz von Nationalstaaten drängt z.B. Minderheiten dazu auch etatistische Vorstellungen und Pläne zu hegen. Diese Minderheiten wollen dann sozusagen auch einen eigenen Staat haben. So reflektiert Öcalan selbstkritisch in diesem Entwurf die Geschichte der separatischen Bestrebungen der PKK47. In diesen Ausführungen spiegelt sich die moralisch-idealistische Denkweise Öcalans wider: es geht nicht darum, das Wesen des Staates, seinen Klasseninhalt zu begreifen und die daraus erwachsenden notwendigen Schritte zu seiner Überwindung herauszufinden und umzusetzen. Vielmehr wird der existierende Staat als ein Problem bewertet, um ihn seine Existenz dann auf etatistische Vorstellungen zurückzuführen. Weder in dieser, noch in anderen Schriften ist Öcalans Argumentation jedoch in sich konsistent. Teilweise leitet er die Existenz des Staates auch historisch durch die Entstehung des Kapitalismus ab. Genauso ist sein Lösungsvorschlag idealistisch. Idealistisch in dem Sinne, dass er nicht entlang der wirklich existierenden Bedingungen für die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaften und damit auch des bürgerlichen Staates seine Überlegungen anstellt, sondern glaubt durch die Abschaffung „etatistischer Vorstellungen“ könnte man schon zur richtigen Lösung gelangen.

Der „Fahrplan für eine demokratische Lösung“ würde historisch zu einem passenden Zeitpunkt vorgelegt, wo es gerade aufgrund der internationalen Konstellationen eine gute Chance für ihre Umsetzung gäbe: „Faktoren dafür, dass ein demokratischer Lösungsplan erstmals eine realistische Chance auf Umsetzung besitzt, waren allgemeinen demokratischen Tendenzen der Gegenwart, Anreize von USA und EU im Rahmen der Harmonisierungsgesetzgebung und die Tatsache, dass Medien, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit größtenteils sowie die Kurden vollständig in diese Richtung tendieren.“ Die PKK würde in einem Drei-Phasen-Fahrplan eine dauerhafte Waffenruhe einführen, dann soll auf Initiative der Regierung und mit Zustimmung des Parlaments eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ gebildet werden. Das Parlament solle auf Grundlage der hier erbrachten Ergebnisse einen Vorschlag für Amnestie unterbreiten, dann könne „die PKK ihre illegalen Strukturen unter der Kontrolle einer Institution, die aus Vertretern der USA, der EU, der UN, der irakisch-kurdischen Regionalregierung und der Türkischen Republik gebildet wird, vom Territorium der Türkei zurückziehen“. Es soll keine Grundlage mehr für den „Griff nach Waffen“ geben. In der letzten Phase sollen die Aktivitäten der KCK legalisiert werden und damit der Demokratisierungsprozess in der Gesellschaft, also durch die so genannten Volksräte, beginnen.

Zuallerletzt betont Öcalan, dass dieser Plan ohne ihn persönlich nicht funktionieren werde, deshalb muss seine Situation, also seine Freilassung, verhandelt werden.48

In der weiteren Entwicklung der PKK – bis heute – sind vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Planes ist die Schaffung einer so genannten Autonomen Region in Nordsyrien bedeutsam für unsere Betrachtung.

Bekanntlich wurde nach der zunächst erfolgreichen Intervention durch Milizenverbände und der damit einhergehenden Destabilisierung Syriens durch die USA und ihre westeuropäischen und regionlen Verbündeten der Norden Syriens von der PYD Und ihre bewaffneten Kräfte der YPG zu einer Art befreiten Zone erklärt. In dieser von den Apoistischen Organisationen als Rojava (Westkurdistan) bezeichneten Region begann die PYD mit dem Aufbau des „Demokratischen Konföderalismus“, also den Selbstverwaltungsstrukturen. Damit wurde eine massive Kampagne der Solidarität mit Rojava eingeläutet, der bis heute anhält und nahezu die gesamte linke Bewegung (mit wenigen Ausnahmen) erfasst hat.

Krieg gegen Syrien und die ‚Optionen‘ für die PYD

Als 2011 der Krieg gegen Syrien begonnen wurde, erschien die Haltung der PYD eine neutrale zu sein. Man werde weder gegen die syrische Regierung kämpfen, noch diese verteidigen, also eine so genannte äquidistante Haltung einnehmen. Es gehe lediglich darum Selbstverwaltungsstrukturen im Norden Syriens aufzubauen. Dieser Aufbau der so genannten Selbstverwaltungsstrukturen wurde als „Revolution“ und / oder „Sozialismus“ gefeiert. Schlagworte wie Frauenbefreiung und Ökologie bildeten Anziehungspunkte für die internationale Linke, die sonst wenig mit antiimperialistischen Kämpfen und der internationalen Solidartiät am Hut hat. Spätestens nach dem Auftreten des so genannten „Islamischen Staates“ (IS) 2014 und ihre Angriffe auf Ain Al Arab (Kobanê) wurden auch Antinationale, Antideutsche, aber auch Grüne, Sozialdemokraten und viele weitere bis hin zu den Liberalen zu Unterstützern der kurdischen Sache. Die USA kamen Kobanê demonstrativ zu Hilfe. Diese Rettungsaktion wurde durch eine mediale Kampagne begleitet, die größtenteils unterstützend auf der Seite der PYD bzw. Kobanê stand. In dieser Zeit konnte aber noch nicht die Rede von einer offenen Zusammenarbeit der PYD mit den USA sein. Erst mit der Gründung des Militärbündnisses SDF Ende 2015 (Demokratische Kräfte Syriens) war die Kooperation mit den USA besiegelt. In der SDF sind auch andere Einheiten, aber die militärischen Arme der Apoistischen PYD, YPG und die YPJ, sind die stärksten Teile innerhalb der SDF. Die USA begannen ab hier mit der offenen Ausrüstung und dem Training der SDF. Die Rückeroberung der von der IS besetzten Stadt Raqqa ging auf das Konto der SDF und den USA.

An dieser Stelle können nicht alle Aspekte des gesamten Kriegs in Syrien beleuchtet werden und auch nicht der damit einhergehenden Solidarität mit den YPG/J-Kämpfern hier, die von Guerillaromantik bis hin zu paternalistischen Haltungen reichen. Der Märtyrerkult um die Jugendliche Ivana Hoffmann oder ein aufgesetzter Guerilla-Style auf der einen Seite, auf der anderen diejenigen, die früher die PKK wegen ihres Führer-Kultes und dem „Stalinismus“ verachteten, heute aber von oben herab eine Besserung attestieren, ob der anarchistischen Neuorientierung. Die Frage, die hier nur behandelt werden soll, ist ob die dann zustande gekommene Zusammenarbeit der Apoistischen Kräfte in Syrien mit den USA eine taktische Zusammenarbeit war und ist oder auf das Neue Paradigma der PKK seit 2005 aufbauenden Strategie.

Auch wenn die Zusammenarbeit mit den USA eigentlich unter Internationalisten und Antiimperialisten als Tabubruch bezeichnet werden kann, war dieser ‚Bruch‘ – zumindest in der BRD – ein sehr leiser Vorgang.

Nichtsdestotrotz sahen sich die Vertreter der Apoistischen Organisationen dazu genötigt, diese Entscheidung zu rechtfertigen. In einem langen Interview49, das Anfang 2018 gegeben wurde, versuchte Riza Altun50 die Kooperation mit den USA zu relativieren: „Dies sind keine Ergebnisse einer vorher geplanten strategischen politischen Beziehung, sondern mehr eine politische und taktische Situation, die sich im Laufe des Widerstands herausgebildet hat.“ Altun vergleicht dann mehrmals die Situation in Syrien mit der Situation der Sowjetunion vor und während des Zweiten Weltkrieges:
„So wie während des Zweiten Weltkrieges von beiden Seiten und der Gesellschaft das Bündnis zwischen der Sowjetunion und den USA gegen den Hitler-Faschismus als legitim angesehen wurde, wird auch die Beziehung zwischen der von den USA angeführten Koalition und der YPG/J von beiden Seiten der Öffentlichkeit als legitim und notwendig angesehen. So wie die Sowjetunion und die USA im Zweiten Weltkrieg, haben diesmal beide Seiten das Bedürfnis nach einer Beziehung gehabt. Somit ist eine taktische Beziehung mit der von den USA angeführten Koalition im Kampf gegen den IS zustande gekommen.“

Das ist schon ein starkes Stück: Die USA sind seit Jahrzehnten der am aggressivsten auftretende Imperialist. Sie überziehen die gesamte Region in Westasien mit einem regelrechten Vernichtungsfeldzug. Sie bauen sich Milizentruppen auf, stoßen diese ab und bauen wieder neue auf. Das scheint Riza Altun selbst auch zu wissen. Er behauptet zwar, dass auch Iran, Russland und Syrien salafistische Gruppen aufbauen würden (eine hanebüchene Behauptung, über die jeder Kenner der Region nur staunen kann: gerade diese Länder haben sich im Gegensatz zu Saudi-Arabien, Türkei, Israel und USA massiv gegen solche Gruppierungen gestellt, da sie in der Region ihren Einfluss durch diese Gruppen besonders gefährdet sehen, im Iran auch durch separatistische sunnitische Gruppen), aber im gleichen Atemzug sagt er, dass vor allem die USA und Israel diese Verbände unterstützen. Wie absurd erscheint dann der Vergleich mit der Situation der Sowjetunion vor dem Hintergrund dieser Aussagen. Man kann sich des Eindruckes nicht verwehren, dass die Propaganda-Abteilung der KCK der Kritik der Kollaboration mit dem US-Imperialismus etwas entgegensetzen möchte – ein verzweifelter Versuch. Es bleibt festzustellen, dass der Vergleich mit der Bündniskonstellation im Zweiten Weltkrieg ein sehr schlechter Vergleich ist. Dieser hat aber zwei Dimensionen: der eine Aspekt ist die Behauptung, dass die PYD sich in einer ähnlichen Situation befinden würde wie die SU während des Zweiten Weltkrieges. Der zweite Aspekt ist, dass es in Ain Al-Arab (Kobanê), wie damals in der SU, um die Verteidigung der Revolution oder sogar des Sozialismus gehen würde: „Ähnliche Beispiele gibt es auch während der Oktoberrevolution. Während der Revolution gab es eine Vielzahl von Abkommen. Es gab wirtschaftliche Vereinbarungen mit dem Kapitalismus und den ImperialistInnen sowie politische Abkommen. Aber wenn wir das Wesen dieser Abkommen betrachten, gibt es keine Verleugnung des Sozialismus in ihnen.“ Der zweite Aspekt, also die Behauptung in Nordyrien hätten wir es mit einem Sozialismus wie in der SU zu tun, wird also noch durch historische Vergleiche mit der Zeit nach 1917 ergänzt.

Tatsächlich sind sehr viele historische Beispiele für ein kluges Taktieren, gerade in der SU, zu finden. Diese können aber nicht beliebig für jede historische Situation eingesetzt werden. Im Gegensatz zur Sowjetunion kann in Nordsyrien keine Rede vom Aufbau des Sozialismus sein. Sozialismus ist nicht ein Schild, das man beliebig auf- und wieder abhängen kann, sondern ein anderes Gesellschaftssystem als der Kapitalismus. Es ist aber auch nicht einfach eine andere Form des Miteinanders, sondern eine grundlegend andere Gesellschaft, in der die herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse in sozialistische überführt werden. Und wenn es in den von der PYD besetzten Gebieten etwas gibt, worüber man nicht so gerne spricht, dann sind es die Produktionsverhältnisse. Eine schöne Rhetorik reicht eben nicht aus, um Sozialismus zu machen: Geschlechterbefreiung, Ökologie, Volksräte und viele andere schön klingende Vorstellungen mögen kleinbürgerliche Herzen höher schlagen lassen, aber Sozialismus wird erst gemacht, wenn die ökonomische Basis der Gesellschaft grundlegend geändert wird. Das sind die Verhältnisse in denen gesellschaftlich produziert und das Produkt gesellschaftlicher Arbeit privat angeeignet wird.

Diese beiden historischen Vergleiche stellen sich als falsch dar: die Sowjetunion hat im Zweiten Weltkrieg nicht mit dem Aggressor paktiert und Krieg gegen andere Staaten geführt. Sie hat auch nicht dem Aggressor erlaubt Militärbasen aufzubauen und Besatzungstruppen zu stationieren. Und sie hat im Gegensatz zur PYD tatsächlich den Sozialismus verteidigt.

Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass das Neue Paradigma eine gänzlich andere Sozialismusvorstellung hat. Vor allem ist die Kritik am Realsozialismus, dass dieser sich am Nationalstaat orientiert habe und mit dem Instrument des Staates den Sozialismus habe umsetzen wollen. Dabei wird die Klassen- und damit auch die Machtfrage im Staat komplett ausgeblendet. Es geht dann nur um das kapitalistische Konstrukt des Nationalstaates. Das Alles lässt sich in den vielen und langen Ausführungen Öcalans und auch im hier zitierten Interview mit Riza Altun nachlesen.

Kommen wir zur Frage zurück, ob es sich bei der Kooperation der PYD mit den USA um ein taktisches Bündnis handelt oder nicht. Wenn wir uns die strategische Orientierung von Abdullah Öcalan wieder vergegenwärtigen, dann scheint diese Zusammenarbeit eine konkrete Umsetzung der Anfang des Jahrtausends formulierten Strategie des „Demokratischen Konföderalismus“ zu sein, indem die USA als ein Wegöffner für Demokratie und Freiheit bezeichnet wird. Ein taktisches Bündnis ist es sicherlich für den US-Imperialismus. Das bezieht sich aber nicht auf die Kurdenfrage im Allgemeinen, sondern auf das konkrete Bündnis mit der PYD bzw. mit den Apoistischen Organisationen. Die USA haben im Rahmen ihres langfristigen Plans in Westasien Fuß zu fassen, sicherlich die verschiedenen kurdischen Organisationen im Blick. Die PKK und die Apoistischen Organisationen sind aufgrund ihrer schwierigen Basis (eine Basis, die aus der Sicht des Neuen Paradigmas noch zu sehr antiimperialistischen und sozialistischen Vorstellungen nachhängt), ihrer relativen Eigenständigkeit und Stärke aus der Sicht der USA und der Besatzungsmacht Israel, die ähnliche Pläne mit den Kurden verfolgt, noch nicht als strategische Partner gewonnen, so wie es die KDP (trotz aller Schwierigkeiten) ist. Tatsächlich hat sich aber durch die Zusammenarbeit in Nordsyrien und durch das beidseitige Heranrücken reaktionärer Gruppen und der Apoistischen Organisationen auf internationalem Terrain, etwas entwickelt: es ist für die Protagonisten diesbezüglich Land in Sicht. Zu diesen reaktionären Kräften gehören christlich-konservative bis liberale Kreise, genauso wie prozionistische Gruppen und Einzelpersonen.

Gibt es eine Doppelstrategie der PKK?

Jedem Beobachter der PKK muss auffallen, dass es einen Widerspruch zwischen der Programmatik und der tatsächlichen Praxis der PKK gibt. Auf der einen Seite wird gegen Gewalt argumentiert, auf der anderen Seite der bewaffnete Kampf nicht nur geführt, sondern auch erfolgreich in Szene gesetzt.

Auf der einen Seite wird gegen einen Staat argumentiert, auf der anderen Seite unterstellt, es gäbe doch ein Kurdistan. In der Praxis wird das so umgesetzt, dass man durch die Bezeichnung von Süd-, West-, Nord-, und Ostkurdistan, durch die Zeichnung von Karten, die das ganze Kurdistan aufzeigen auf ein ethnisch einheitliches Gebilde hinarbeitet. Teilweise passiert das ohne Rücksicht auf Gebiete, die eben nicht nur von Kurden besiedelt, sondern auch von anderen Minderheiten – teilweise bis zur Hälfte der Bevölkerung51 – bewohnt werden. Aber auch Gebiete, wo es historisch erst durch Vertreibung anderer Bevölkerungsgruppen (siehe Dyarbakir) zu einer kurdischen Mehrheitsbevölkerung kommen konnte52, wofür zwar jetzt die PKK keine Verantwortung trägt, aber in ihrer Propagandaabteilung durchaus in der Lage wäre, diese Geschichte transparent zu machen, anstatt lapidar von einer kurdischen Stadt zu sprechen. In den nordsyrischen Gebieten ist es immer wieder bezüglich der Ethnifizierung der Gegend vor allem durch kurdische Lehrpläne für die Schulen53 zu Auseinandersetzungen gekommen,– trotz aller Bekundungen der PYD kein ethnisch rein kurdisches Gebiet aufbauen zu wollen.

Auf der einen Seite wird behauptet, dass „Rojava“ (Nordsyrien) ein multiethnisches Gebilde sei und dass die PYD Alles dafür tue andere Parteien an der Gestaltung des Lebens aufbauend auf dem so genannten „Gesellschaftsvertrag“ zu beteiligen, auf der anderen Seite werden Berichte bekannt, dass die PYD vor Ort die Kontrolle durch ihre Einheiten, wenn es sein muss auch mit Repression, Aufrecht erhält.54

Alles in Allem können hier nur viele Fragen aufgeworfen werden, die einer weiteren Bearbeitung bedürfen. Klar ist, dass es nicht reicht, nur die Bekundungen der Apoistischen Organisationen zu beachten, sondern genauer hinzusehen und ihre Praxis zu überprüfen.

Repression gegen die PKK

Die Solidarität mit der PKK wird unter anderem auch dadurch begründet, weil sie in der Türkei, international, in der EU und in der BRD von massiver staatlicher Repression betroffen ist. Die Frage, die sich uns stellen muss, ist nicht ob wir gegen die Repression sind, sondern ob wir aufgrund der Repression solidarisch mit der Politik der PKK sind.

In diesem Zusammenhang gilt es aber einige Gedanken zur Frage der Repression gegen die PKK loszuwerden. Es stellt sich vielen die Frage, warum es trotz der großen Solidaritätsbekundungen in den bürgerlichen Kreisen, Medien, der Politik immer noch das PKK-Verbot gibt. Gründe für die Aufrechterhaltung des Verbots können sein:

Erstens dass der BRD-Staat gegen die PKK bzw. in Bezug auf die Apoistischen Organisationen weiterhin ein Druckmittel in der Hand haben möchte. Würde man das Verbot lockern, dann würde man jegliches Druckmittel aus der Hand geben. So kann man über Repression eine Verhandlungsmasse schaffen, die es sonst nicht geben würde.

Zweitens dürfen die Beziehungen zur Türkei nicht unterschätzt werden. Aus der Sicht des deutschen Imperialismus wäre es ein sehr unkluger Zug, die Beziehungen zur Türkei aufs Spiel zu setzen, um ein Bündnis mit einer Organisation wie die PKK in der Region zu festigen. Und dass die Beziehungen zur Türkei sich noch weiter verschlechtern würden, wenn das Verbot der PKK aufgehoben werden würde, wäre sicher. Dabei ist auch die innerdeutsche Situation zu berücksichtigen: immerhin leben in der BRD viele Menschen aus der Türkei, die nicht die PKK unterstützen, aber selbst – teilweise sehr gut – organisiert sind. Dieser Risikofaktor wird sicherlich in die Überlegungen einbezogen.

Alle diese Überlegungen beiseite geschoben: allein aus der Repression gegen die PKK lässt sich nicht eine solidarische Haltung ableiten.

Solidarität mit der PKK?

Es konnte hier keine Analyse der Gründe für die Umwandlung der PKK von einer aus ihrer Sicht marxistisch-leninistischen Partei hin zu einer Partei mit einer libertären, anarchistischen Weltanschauung vorgenommen werden. An dieser Stelle konnten wir nur ein Schlaglicht auf die Frage werfen, ob die heutige PKK aus ihrer eigenen Programmatik und Weltanschauung heraus einerseits und andererseits durch ihre praktische Politik eine Arbeiterpartei ist, ob sie also die Klassenfrage stellt und vielleicht sogar beantwortet und ob sie einen nationalen Befreiungskampf im Sinne der unterdrückten und entrechteten Völker der Region führt und deshalb unsere Solidarität und Unterstützung haben muss. Bei der Behandlung der hier aufgeworfenen Fragen und zu behandelnden Aspekte wurden die verschiedenen Entwicklungsphasen und historischen Bedingungen zwar einbezogen, es ist aber klar, dass eine genaue historische Analyse noch nicht geleistet werden konnte. Trotz all dieser Mängel, reichen die bisher gesammelten Informationen, um festzustellen, dass die PKK sich durch ihre Politik in Widerspruch zu den Interessen der Völker der Region und damit in Widerspruch zu den Prinzipien des proletarischen Internationalismus bringt.

„Der proletarische Internationalismus ist Grundlage für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen unterschiedlicher Länder gegen Kapitalismus und Imperialismus und findet seinen konkreten Ausdruck in der praktischen Klassensolidarität über nationale Grenzen hinweg. Aus dem proletarischen Internationalismus ergibt sich auch, dass die Arbeiterklasse die Einheit des Handelns der internationalen Arbeiterbewegung im Klassenkampf anstreben muss.“55 Darauf haben wir uns als Kommunistische Organisation geeinigt.

Weder der Krieg gegen Syrien, noch die Destabilisierungspolitik der ganzen Region in Westasien sind im Interesse der Arbeiterklassen und Völker der Region. In diesem Zusammenhang von Optionen für bestimmte Völker zu sprechen, wie es Abdullah Öcalan macht, ist mehr als zynisch. Die kurdische Bevölkerung in den verschiedenen Gebieten kann kein Interesse an einem wie auch immer gearteten Bündnis mit den imperialistischen Aggressoren haben. Ein solches Bündnis bringt die Kurden in eine Frontstellung mit den anderen Bevölkerungsgruppen. Zu gewinnen haben dabei nur diejenigen, die eh schon in irgendeiner Weise die Geschicke der Mehrheit in einer Region bestimmen: seien es die ausländischen imperialistischen Mächte, die alten feudalen Klassen oder diejenigen, die die politische Macht in ihren Händen halten. Im Nordirak ist es sehr gut zu beobachten, wie sehr die opportunistische Politik eines Barzani im Interesse der alten Feudalherren liegt, die sich in der mit der Billigung und der Unterstützung der USA entstandenen Autonomieregion als Ausbeuterklasse etablieren können. Wie ist das in den von der PYD kontrollierten Gebieten? Wird dort die Eigentumsfrage gestellt? Werden die alten Feudalherren nur ersetzt oder gar beteiligt an der neuen Macht?

Es ist auch nicht möglich auf der einen Seite Kritik an den von der Programmatik und der Ideologie der PKK zu üben und praktisch an ihrer Seite zu kämpfen, so wie das einige Organisationen tun.56 Wenn es nur um ideologische Differenzen, unterschiedliche Vorstellungen von der Überwindung des Kapitalismus und vom Sozialismus gehen würde, aber der Kampf gegen den Imperialismus im Interesse der unterdrückten und abhängigen Nationen geführt werden würde, dann wäre eine solche kritische Solidarität möglich.

Es wurde oben schon ausgeführt, dass die praktische Politik der PKK Maßstab für die Bestimmung des Verhältnisses zu ihr sein muss. Aus dieser Perspektive hat die PKK den Boden des proletarischen Internationalismus durch ihre Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus verlassen.


1 Wobei auch weiterhin „Volk“ im Sinne von ethnischen Gruppen Anwendung findet. Es gibt im Deutschen sozusagen zwei Bedeutungen, erstens die breite Masse der Menschen in einem Land, zweitens ein Volk im Sinne einer Ethnie. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch findet Volk im Sinne einer Ethnie kaum noch Verwendung, in der Alltagssprache ist eine solche Bedeutung noch weit verbreitet.

2 Manche sehen in der politischen Orientierung der Apoistischen Organisationen einen tatsächlichen radikal-demokratischen Ansatz, aber das Gefüge der Institutionen werden wie hier hier als einheitlich eingeschätzt: siehe dazu: Jongerden, Joost: The Kurdistan Worker Party (PKK), Radical Democracy and the Right to Self-Determination beyond the Nation State, In: The Kurdish Question Revisited, 2017

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiterpartei_Kurdistans#Einstufung_als_terroristische_Vereinigung

4 Die aus kolonialer und imperialistischer Sicht als der Nahe und Mittlere Osten bezeichnete Region zwischen Afghanistan und der Levante wird hier als Westasien bezeichnet.

5 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/geschichte/hausarbeitpkk.htm#4.1

6 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/programm_1/03.htm

7 ebd.: „Die Beendigung der Herrschaft des türkischen Kolonialismus und des hinter ihm stehenden Imperialismus über Kurdistan.“ Aus dem Gründungsprogramm der PKK 1978

8 Siehe dazu Nick Brauns: Der NATO Putsch, Junge Welt, 11.9.2010

9 Guida, Michelangelo: Turgut Özal and Islamism in Turkey, In: Hamdard Islamicus, Quarterly Journal of Studies and Research in Islam, Karachi, July-September 2005

10 S. Çelik: Den Berg Ararat versetzen, November 2002, S.170/171

11 Çelik 2002, S.178

12 Çelik 2002, S.177

13 Çelik 2002, S.181

14 Das Greater Middle East Project ist eine Agenda der USA, die offiziell 2004 auf dem G8-Gipfel vorgestellt wurde und die Umgestaltung der gesamten Region Westasien und Nordafrika umfassen soll. Die Hauptanliegen dieses Projekts seien Demokratie, Aufbau einer Zivilgesellschaft und Entwicklung der ökonomischen Potentiale, vor allem duch Privatisierung. Dass es dabei darum geht, imperialistische Interessen der USA durchzsetzen und in dieser Region den eigenen Einfluss zu sichern, liegt auf der Hand. Siehe dazu: Basevich, Andrew: Americas War for The Greater Middle East, 2016

15 Sykes-Picot-Abkommen 1916

16 Zum Beispiel der von Lieutnant-Colonel Ralph Peters vorgestellte Plan, auch als Peters Map bekannt. https://www.globalresearch.ca/plans-for-redrawing-the-middle-east-the-project-for-a-new-middle-east/3882

17 Siehe hierzu ein Papier von Ofra Bengio: Surprising Ties between Israel and the Kurds, in: The Middle East Quarterly, Summer 2014;

18 Liga, Aldo: Israel and Iraqi Kurds in a Transforming Middle East, IAI Working Papiers 16 | 34 – Dezember 2016 oder siehe dazu auch: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/israelisch-kurdische-beziehungen-13116886.html

19 Bengio, Ofra: Suprising Ties between Israel and The Kurds, In: Middle East Quarterly, Summer 2014,

20 Çelik 2002, S. 333

21 Der Mord an Cansiz konnte bis heute nicht restlos aufgeklärt werden. Der mutmaßliche Mörder, der von der MIT beauftragt gewesen sein soll, wurde wenige Tage vor Prozessbeginn ermordet.

22 Çelik 2002, S.353 / 354

23 Çelik 2002, S.374

24 Erklärung des Präsidialrates der PKK zu den Beschlüssen des 7. außerordentlichen Kongresses der PKK – nach einer Presseerklärung des KIZ vom 9.2.2000 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergund/kongress/01-bk.htm

25 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/kiz/verteidigung/verteidigungsschriften/verteidigungsschrift01/index.htm

26 Das sind althergebrachte feudale Hierarchien, die noch bis heute in den dörflichen Gegenden existieren

27 Çelik 2002, S.390 Fußnote 24 6.Sitzungstag 03.06.1999, S.50

28 Eligür, Banu: Turkish-American Relations since the 2003 Iraqi War: A Troubled Partnership, May 2006, In: Middle East Brief, No.6/2006, Massachusetts.

29 https://www.spiegel.de/politik/ausland/terror-in-der-tuerkei-kurdische-freiheitsfalken-boten-der-hoelle-a-434388.html

30 https://www.swp-berlin.org/kurz-gesagt/kurden-terrorakte-der-freiheitsfalken-schaden-der-pkk/

31 http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2019/68-kr-204-juli-august-2019/860-die-gesellschaft-muss-ihre-beteiligung-aktiv-einfordern

32 http://civaka-azad.org/jenseits-von-staat-macht-und-gewalt/

33 Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, Köln 2015, S.370

34 Ebd. S.271/272

35 Ebd. S.272

36 Ebd. S.272

37 Öcalan 2015, S. 331. Hier kritisiert Öcalan unterschwellig die Politik der USA, die möglicherweise eine „Liquidierung“ der PKK im Rahmen des GMEP vorsehen könnte. In diesem Zusammenhang droht er mit einem „palästinensisch-israelischen Drama in Kurdistan.“

38 Öcalan 2015, S.305/306

39 Herzl, Theodor: Der Judenstaat 1896, S.30

40 Bengio, Ofra: Suprising Ties between Israel and The Kurds, In: Middle East Quarterly, Summer 2014

41 ebd.: „It also seems there are two camps in the PKK, one led by Murat Karayılan which is open to ties and that of Cemil Bayık which is more reluctant. The umbrella organization in Europe, the Kurdistan National Congress (KNK), also seems more willing to consider developing ties.[53] In a March 2014 interview with The Jerusalem Post, prominent KNK member Zübeyir Aydar also called for “breaking the walls” between Kurds and Israelis.“

42 Itai Anghel 2010: PKK Leader: Israel Is Helping Turkey to Destroy Us, Haaretz 22.9.2010

43 Öcalan 2015, S.306

44 Auf diese Argumentation wird gegen Ende des Papiers nochmal genauer eingegangen

45 http://civaka-azad.org/roadmap-fuer-die-demokratisierung-der-tuerkei-und-dieloesung-der-kurdischen-frage-2/

46 ebd.

47 Mehr oder weniger die gleichen Aussagen finden sich auch in der oben behandelten Schrift Jenseits von Staat, Macht und Gewalt

48 Alle Informationen in diesem Absatz sind hier zu finden: http://civaka-azad.org/roadmap-fuer-die-demokratisierung-der-tuerkei-und-dieloesung-der-kurdischen-frage-2/

49 http://civaka-azad.org/mit-dem-paradigma-der-pkk-den-sozialismus-neu-schaffen/

50 Mitbegründer der PKK und Mitglied des Exekutivrates der KCK

51 Das gilt z.B. für die Stadt Urumiya im Nordwesten Irans. Hier treffen häufig kurdische und azerische Nationalisten aufeinander. Die PJAK jedenfalls behauptet, dass Urumiya eine kurdische Stadt sei und das Kurdistan-Map der Apoistischen Organisationen sieht es auch genauso.

52 Gotschlich, Jürgen: Beihilfe zum Völkermord, Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin 2015, S.191/192. Kurdische Stämme / Stammesführer halfen der damaligen türkischen Armee mit deutscher Hilfe die Armenier zu vertreiben. Im Nachgang veränderte sich die ethnische Zusammensetzung so, dass die Kurden in der Mehrheit waren.

53 https://www.the-american-interest.com/2019/04/15/the-improbable-rise-and-uncertain-future-of-syrias-kurds/

54 SWP Berlin: Der Aufschwung kurdischer Politik: Lage in Irak, Syrien und der Türkei, Mai 2015, S.40 – und hier der Verweis auf www.kurdwatch.org

55 https://kommunistische.org/programmatische-thesen/

56 Das ist bei fast allen Organisationen aus der Türkei zu beobachten, die allermeisten sind Schwesterorganisationen der MLPD.

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