Klarheit durch Wissenschaft

Zur marxistischen Methode und unserem Begriff der „Klärung“

Marla Müller, Rike Groos, Jona Textor

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Wir sind als Kommunisten davon überzeugt, dass unsere Weltanschauung das wissenschaftliche Rüstzeug zur Veränderung der Welt ist. Umso erstaunlicher, dass wir jetzt merken, wie groß die Lücken hinsichtlich eines wissenschaftlich methodischen Herangehens in unserer Organisation sind. In diesem Beitrag legen wir die wissenschaftliche Methodik des Marxismus-Leninismus für alle Genossinnen und Genossen verständlich dar. Dadurch wollen wir möglichst viele von uns dazu befähigen, die Grundlagen und Methoden des Wissenschaftlichen Kommunismus nachvollziehen und selbst anwenden zu können. Die aktuelle Krise unserer Organisation und der kommunistischen Bewegung hat ein schonungsloses Schlaglicht auf unsere Schwächen geworfen. Die KO hat sich bei ihrer Gründung “Klärung” als kollektives Ziel gesetzt. Über ein gemeinsames Verständnis davon, was wissenschaftliche Klärung bedeutet und wie sie zu erreichen wäre, verfügen wir derzeit allerdings nicht. Ohne ein solches Verständnis ist unser Vorhaben aber zum Scheitern verurteilt. Entsprechend legen wir in Teil 1 dieses Textes zunächst unsere Sicht auf die Dissense hinsichtlich der Klärung dar. In Teil 2 wenden wir uns dann der wissenschaftlichen Methode des Marxismus zu. Wir stellen diese Schritt für Schritt dar und gehen darauf ein, wie Marx, Engels und Lenin sie anwendeten. Bei jedem einzelnen Schritt versuchen wir dabei die Frage zu beantworten, was das aus unserer Sicht jeweils für den Klärungsprozess bedeutet. In Teil 3 gehen wir auf gängige Fehler in der Anwendung der Methode und Einfallstore des Revisionismus ein. Abschließend ziehen wir ein Fazit, in dem wir versuchen, der weiteren Klärung ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Mit diesem Beitrag legen wir unsere sicher noch lücken- und mangelhaften Ausführungen der Organisation zur Debatte vor, in der Absicht, diese weiter zu qualifizieren.

“Es setzt sich nur soviel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.” (Brecht, Leben des Galilei)

Inhalt

Wo stehen wir?

Wir haben den Klärungsprozess mit einer Positionierung begonnen. Die Programmatischen Thesen (PT), die wir bei unserer Konstituierung im vollen Bewusstsein ihres provisorischen und mangelhaften Charakters beschlossen haben, sollten uns als “Richtschnur” für die Praxis und als “Arbeitsgrundlage für die Analyse der historischen Periode, in der wir uns befinden” (S. 4) dienen. Sie waren die inhaltliche Grundlage, die uns überhaupt erst zu einem Kollektiv machte, das sich eine gemeinsame Orientierung gab und gemeinsame Ziele steckte. In den Thesen fand auch eine bestimmte Vorstellung unseres Klärungsprozesses ihren konkreten Ausdruck. Dieser sollte nicht völlig offen und beliebig sein, sondern von verbindlichen marxistisch-leninistischen Grundpositionen und einer klaren, unserem damaligen Diskussionsstand entsprechenden Abgrenzung gegen opportunistische und revisionistische Strömungen ausgehen. In einem weiteren Grundlagendokument formulierten wir, dass durch eine systematische, kollektive, auf den Grundlagen des wissenschaftlichen Kommunismus, des Marxismus-Leninismus, basierende Analysearbeit in den zentralen Fragen der kommunistischen Bewegung und der Gesellschaft ideologische Klarheit geschaffen werden soll.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 und dem Beginn unserer Imperialismusdiskussion stellen viele Genossen nicht nur dieses Klärungsverständnis, sondern die Verbindlichkeit unserer PT überhaupt in Frage. All jenen, die auf der Vollversammlung (VV) im April 2022 eine Positionierung zum Krieg auf Grundlage unserer bisherigen Imperialismusanalyse verlangten und diese zum Ausgangspunkt der Diskussion machen wollten, sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien “gegen Klärung” und wollten diese im Keim ersticken. Die Verteidigung der Thesen zeuge von “Formalismus” und “Dogmatismus”, dabei hätten wir den Dissens selbst noch nicht genug “durchdrungen” und würden “noch gar nicht genug wissen”.

Die VV hat sich letztlich mit knapper Mehrheit dagegen entschieden, in der Klärung der Imperialismusfrage zunächst von der Position auszugehen, die wir bei unserer Konstituierung kollektiv beschlossen und seither für die Richtige gehalten haben. Die PT wurden de facto außer Kraft gesetzt. Wir sind also nicht so vorgegangen, zunächst diese weiterhin für alle Genossen verbindliche Position in einer kollektiven Anstrengung anhand der konkreten Wirklichkeit zu überprüfen, um sie zu bestätigen, zu vertiefen oder gegebenenfalls auch durch eine Mehrheitsentscheidung kollektiv zu verwerfen. Die Ablehnung des Revisionismus und die Einsicht in die Notwendigkeit, ihm organisiert etwas entgegenzusetzen, gehörte einmal zum Gründungskonsens der KO. Hinter diese Position sind wir praktisch wieder zurückgefallen. Anstatt vom anti-revisionistischen Standpunkt der Programmatischen Thesen auszugehen, haben wir das gesamte Spektrum an Positionen innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung – auch solche, die wir bis vor kurzem noch für falsch gehalten und explizit als revisionistisch abgelehnt hatten – gleichberechtigt nebeneinandergestellt und mit erheblichem Ressourcenaufwand in der Gesamtorganisation diskutiert. Dadurch sollte in einem ersten Schritt der Dissens in seiner ganzen Breite klarer herausgearbeitet werden. Diesem Ziel sind wir sicher einen Schritt nähergekommen und teilweise waren die Diskussionen durchaus gewinnbringend. Zu mehr Klarheit und Einheit hat das allerdings nicht beigetragen. Im Gegenteil, je mehr wir uns mit den Positionen z.B. der KPRF und RKAP beschäftigten, desto mehr entwickelten wir uns auseinander. Es gab Genossen, die diese Position klar als rechtsopportunistisch erkannten und ablehnten, andere, die diese Positionen nicht nur “interessant” fanden und sie “besser durchdringen” wollten, sondern auch immer offener befürworteten. Eine gemeinsame inhaltliche “Richtschnur” mit Blick auf Imperialismus und Krieg hatte die KO jedenfalls spätestens seit der VV nicht mehr. Diese Polarisierung in unserer Organisation wurde auf dem Kommunismus Kongress (KoKo) im September 2022 sehr deutlich. Stimmen, die darin ein Eindringen des Revisionismus und Opportunismus in die Reihen der KO sahen und dies offen kritisierten, sollten dadurch diskreditiert werden, dass ihnen vorgeworfen wurde, keine “Klärung”, sondern nur einen “ideologischen Linienkampf” zu wollen. Wir vertreten dagegen die Auffassung, dass das keine Gegensätze sind, sondern dass sich beide gegenseitig bedingen. Ohne offenen Kampf um die richtigen Positionen kann es auch keine Klarheit geben. Eine Position zu vertreten, heißt nicht, dass diese ein für alle Mal in Stein gemeißelt ist und man sich nicht mehr vom Gegenteil überzeugen lassen könnte.

Die marxistische Wissenschaft ist kein Wundermittel, das alle Widersprüche in Luft auflösen wird und, sofern nur richtig angewendet, am Ende quasi automatisch Konsens über die objektive Wahrheit herstellt. So sehr wir uns das auch wünschen mögen, unsere Klärung findet nicht auf neutralem Boden statt, sondern sie wird sich in der konkreten Wirklichkeit als ideologischer Kampf zwischen realen Menschen und deren Positionen vollziehen. Menschliche Handlungen sind nunmal nicht ausschließlich von rationalen Argumenten und sachlichem Kalkül, sondern auch von Emotionen, Loyalitäten, Zugehörigkeitsgefühlen, bewussten oder unbewussten Klasseninteressen usw. bestimmt. Was wir damit sagen wollen: die Wissenschaft ist nicht allmächtig. Auch eine gewissenhaft und diszipliniert geführte Diskussion um die Wahrheit muss am Ende nicht zwangsläufig zu einer Einigung führen. Wir werden niemals an einen “Endpunkt” kommen, an dem wir alle alles wissen. Darum verhalten wir uns immer relativ zu unserem aktuellen Wissensstand und nehmen auf dessen Basis Position ein. Die Frage, wer am Ende Recht behält und wessen Position näher an der objektiven Wahrheit liegt, ist dann keine Frage der wissenschaftlichen Debatte mehr, sondern muss sich in der Praxis erweisen. Am Ende kann die Geschichte als unbestechliche Richterin nur einer Seite Recht geben. Führen wir den Kampf um die Klärung also mit offenem Visier, ohne uns hinter Phrasen zu verstecken und unsere Standpunkte zu verschleiern.

Dissense in der Klärungsfrage

So viel also zur Lage, in der wir uns aktuell befinden. Dass es in dieser Situation auch über das wie der Klärung extrem unterschiedliche Vorstellungen gibt, ist kaum verwunderlich. Zumindest dem Wort nach berufen sich alle Beteiligten auf den “wissenschaftlichen Kommunismus”, die “Dialektik”, den “historischen Materialismus” und die “Methode unserer Klassiker”, – darüber, was das jeweils konkret bedeuten soll und vor allem, wie sich daraus eine praktische Handlungsanleitung für den weiteren Klärungsprozess entwickeln ließe, gehen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. Dennoch teilen wir alle das Ziel, die Wahrheit finden zu wollen.

In den letzten Monaten, besonders aber auf dem KoKo, sind für uns hinsichtlich des wissenschaftlichen Vorgehens drei zentrale Dissense in der Organisation deutlich geworden.

(I) “Klärung” vs. “Positionierung”

In der KO gibt es mindestens seit Februar 2022 die Auffassung, Klärung und Positionierung seien absolute Gegensätze. Wer zum Beispiel jetzt eine Positionierung zum Krieg fordere, so der Vorwurf, der könne unmöglich für die Klärung sein. Eine Position ist demnach erst als Ergebnis der fertigen Klärung möglich, also dann, wenn alle Dissense und alle Probleme der Theorie und der konkreten Erscheinungsebene ganz “durchdrungen” sind. Diese Haltung einiger Genossen schlägt sich zum Beispiel darin nieder, dass die Verteidiger der PT als “Anti-Klärungs-Lager” verunglimpft werden. Ein konkretes Ergebnis dieser Sichtweise war die von der VV 4 beschlossene “Aktionsorientierung”, die unsere Praxis auf den Kampf gegen den “Hauptfeind” im eigenen Land orientieren, dabei aber die Positionierung zum Krieg ausklammern sollte. Die Vertreter des “nicht-positionieren-Lagers” hatten dabei von Anfang an eine sehr flexible (unehrliche?) Haltung zu ihrem eigenen Mantra (“wir können uns noch gar nicht positionieren”), waren sie doch gleichzeitig diejenigen, die sich mit Verlauf des Krieges zumindest individuell klar positionierten und sich immer kompromissloser auf die Seite Russlands stellten. Sie vertraten beispielsweise, dass Russland nicht etwa wegen seines Einmarsches in die Ukraine, sondern viel eher wegen der angeblichen “Halbherzigkeit” und des “Zuspätkommens” des “Militäreinsatzes” zu kritisieren sei (Klara Bina, 31.03.22). Die Position von Philipp Kissel wurde bereits am 29.03.22 direkt in der Zusammenfassung von ‘Zur Kritik am “Joint Statement” und zur NATO-Aggression gegen Russland’ deutlich. Es ist also klar, dass einzelne Wortführer von Anfang an keinerlei Hemmungen hatten, sich klar zum Krieg zu positionieren – auch ohne einen wissenschaftlichen Klärungsprozess und dessen Ergebnisse abzuwarten. Eine offene Auseinandersetzung mit diesen Positionen war richtig und notwendig – falsch war aber, diesen Dissens zum Anlass zu nehmen, die Programmatischen Thesen und damit jeden kollektiven Standpunkt der KO zu Imperialismus und Krieg voreilig über Bord zu werfen.

Wir vertreten die Auffassung, dass Klärung und Positionierung nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich für organisierte Kommunisten gegenseitig bedingen. Wir finden uns zusammen auf Grundlage eines kollektiven Ausgangsverständnisses, gemeinsamer Vorhaben und Perspektiven auf die Welt. Wissenschaftliche Klärung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Disziplin und Handlungsfähigkeit der Kommunisten ist nur möglich als Prozess, der von einem kollektiven Ausgangspunkt ausgeht. Dieser nimmt die Form von Programmatischen Thesen, Positionierungen und Beschlüssen an und wird eben nicht anhand individueller Einschätzungen einflussreicher Teile der Organisation als politische Grundlage gewählt. Diese Thesen, Positionierungen und Beschlüsse werden auf dem Weg der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit und politischen Praxis überprüft und schließlich zu einer neuen kollektiven Positionierung auf höherer Stufe geführt. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit kann deren Bestätigung und Qualifizierung oder deren Widerlegung und Neuformulierung sein. Im Klärungsprozess werden wir also immer wieder kollektive Zwischenstände festhalten, an denen sich dann unsere Praxis und die weitere Klärung orientieren müssen. Jede Positionierung kann also revidiert werden, aber nicht willkürlich, sondern nach den Spielregeln unseres demokratisch-zentralistischen Organisationsprinzips. Es ist auch jederzeit möglich und richtig, eine Positionierung einzunehmen, da es keine “Nicht-Positionierung” gibt – man steht nicht einfach plötzlich außerhalb der Verhältnisse als “neutraler Beobachter”, der noch etwas Zeit zum Nachdenken braucht. Ohne Positionierungen hätte der Klärungsprozess keinen Anfang und kein Ergebnis, kein Ziel und keine Richtung.

Wir Kommunisten müssen uns positionieren, auch in Zeiten tiefer Krisen und großer Unsicherheiten. Nicht, weil wir der Meinung sind, bereits im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, sondern aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass wir immer nur über relative Wahrheiten verfügen können. Wir müssen unsere politische Praxis notgedrungen auf dieser Grundlage entwickeln. Dabei werden uns unvermeidlich Fehler unterlaufen und wir werden uns im Handgemenge der politischen Kämpfe immer wieder der Kritik und Selbstkritik stellen müssen. Der kommunistische Klärungsprozess kann aber nichts anderes sein als die organisierte und schrittweise Annäherung an die absolute Wahrheit, also die richtige theoretische Widerspiegelung der Welt in ihrer widersprüchlichen Bewegung. Dieser Prozess wird auch mit der Gründung der Kommunistischen Partei oder dem Aufbau des Sozialismus nicht endgültig abgeschlossen sein, sondern bleibt die permanente Aufgabe der marxistischen Wissenschaft. Wer aber das Prinzip der Dialektik von Klärung und Positionierung aufgibt, der gibt den Organisationszusammenhang und die Handlungsfähigkeit der Kommunisten auf und verschiebt das Erreichen ihrer Ziele, besonders den Aufbau einer Kommunistischen Partei, auf den Sankt-Nimmerleinstag.

(II) Trennung von Wesen und Erscheinung vs. marxistische Wissenschaft

In einem Teil unserer Organisation und ihrer Führung gibt es die Auffassung, eine Trennung zwischen der “konkreten” Analyse der empirischen Wirklichkeit (Krieg in der Ukraine) und der vermeintlich “abstrakten” Ebene der Theorie (imperialistisches Weltsystem) sei nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, um im Klärungsprozess einen Schritt weiterzukommen. Immer wieder ist die Rede von einer “historischen Herangehensweise”, die sich im Detail die Vorgeschichte des Krieges aneignen müsse. In Diskussionsbeiträgen werden die verschiedensten politischen Ereignisse zu Chronologien aneinandergereiht und daraus Schlussfolgerungen über den Charakter des Krieges gezogen. “Die Wahrheit”, so argumentierte z.B. das KO-Mitglied Philipp Kissel auf dem KoKo, liege “in den Tatsachen”. In seinem Diskussionsbeitrag vom 29.03.22 wird deutlich, dass er darunter offensichtlich versteht, dass der Charakter des Krieges unmittelbar aus der Erscheinungsebene empirisch ableitbar sei. Dieses Verständnis zeigt sich auch im Artikel von Anton Latzo in der UZ vom 28.04.22 ‘Die Wahrheit liegt in den Tatsachen’, auf den Kissel sich positiv bezieht. Eine Einschätzung des Krieges sei demnach unabhängig und losgelöst von einer bestimmten Imperialismustheorie möglich. Als Beleg dafür wurde angeführt, dass Parteien mit unterschiedlichen Imperialismusanalysen (die KPRF und die RKAP) schließlich auch zu weitgehend identischen Einschätzungen des Krieges kommen könnten. Dieses Verständnis führt auch dazu, dass Genossen meinen, man könne die Position zum Krieg vom Imperialismusverständnis trennen, so wie es bei dem KO-Mitglied Klara Bina im Diskussionsbeitrag ‘Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung’ vom 31.03.22 anklingt und sie bei anderer interner Gelegenheit im Oktober deutlich vertreten hat.

Andere Genossen argumentieren, die Frage nach dem imperialistischen Weltsystem sei “zu groß” und übersteige unsere derzeitigen Möglichkeiten. Wir sollten uns also erstmal scheinbar “pragmatisch” auf die unmittelbar brennenden Fragen des Kriegs konzentrieren, anstatt uns mit der “abstrakten” Imperialismustheorie zu befassen. De facto wird die Klärung der Imperialismusfrage damit auf eine unbestimmte Zukunft verschoben und gleichzeitig die Illusion geschürt, es sei möglich, auch ohne den “Umweg” über eine Theorie des imperialistischen Weltsystems zu einer wissenschaftlichen Einschätzung des Krieges zu kommen. Eine solche Abkürzung gibt es aber nicht. Ihren konkreten Ausdruck fand diese Vorstellung in dem Vorschlag eines Teils der Leitung der KO, den Klärungsprozess für unbestimmte Zeit auf isolierte Teilfragen des Krieges (z.B.: “Ist Russland bedroht?”) zu fokussieren und die Frage nach der Imperialismustheorie bis auf weiteres vollständig aus der Debatte auszuklammern.

Wir sind dagegen der Auffassung, dass eine solche Trennung zwischen “konkreten Tatsachen” (Erscheinungsebene) und scheinbar “abstrakter” Theorie des Gesamtzusammenhangs (Wesen) nicht nur nichts zur Klärung beitragen wird, sondern auch grundsätzlich im Widerspruch zu einem marxistischen Wissenschaftsverständnis steht. Der Marxismus ist keine Wissenschaft einzelner „Tatsachen“, sondern er ist die Theorie des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. In dem Moment, in dem wir diesen Anspruch aufgeben, geben wir den Marxismus auf. Die materialistisch-dialektische Methode unserer Klassiker steigt in einem ersten Weg vom Konkreten zum Abstrakten auf, d.h. in unserem Fall von empirischen Daten (den “Tatsachen”) über den ökonomisch-politischen Gesamtzusammenhang zu einer allgemeinen Theorie des Imperialismus. Erst im zweiten Weg kann sie vom Abstrakten zurück auf die Ebene des Konkreten gehen und so zu einer Einschätzung des Krieges gelangen, anders können die “Tatsachen” gar nicht verstanden werden. Die Kriegsfrage ist also untrennbar mit der Frage des imperialistischen Weltsystems verbunden. Die Unterscheidung zwischen der „konkreten“ Einschätzung des Krieges einerseits, und einer angeblich „abstrakten“ und davon losgelösten Imperialismustheorie andererseits, ist falsch und absolut unmarxistisch. Das, was einige Genossen unter einer “historischen Herangehensweise” verstehen, die sich nie oder erst viel später von der Ebene der konkreten Erscheinungen löst, ist das Gegenteil der dialektischen Methode des Marxismus. Darauf gehen wir im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’ näher ein.

(III) “Wir wissen noch nicht genug” vs. Imperialismusverständnis der Programmatischen Thesen

Von den Genossen, die ein Festhalten an den PT ablehnen, wird immer wieder vorgebracht, wir könnten über den heutigen Imperialismus eigentlich “noch gar nichts wissen”, überhaupt gäbe es noch keine marxistische Theorie des Imperialismus im 21. Jh. etc. Wer anderes behaupte, sei entweder “dogmatisch”, “vermessen” oder einfach “arrogant”. Der Klärungsprozess müsse also “offen” sein und pluralistisch alle Positionen unserer Strömung mit einbeziehen, anstatt sich klar abzugrenzen und bereits von einem konkreten Analyseansatz auszugehen. Eine Konsequenz daraus ist die oben bereits beschriebene Haltung, zu den großen und komplizierten Zusammenhängen lieber nichts sagen zu wollen und sich stattdessen auf das Studium historischer Details zurückzuziehen. Die aggressive Polemik einiger Genossen gegen Parteien wie die KKE steht im scharfen Kontrast zu deren gleichzeitigen Unwillen bzw. der Unfähigkeit, zumindest provisorisch und thesenhaft ein eigenes zusammenhängendes Imperialismusverständnis zu formulieren.

Wir sind dagegen der Auffassung, dass das Verständnis ungleicher gegenseitiger Abhängigkeiten der KKE den Imperialismus auf seiner heutigen Entwicklungsstufe im Wesentlichen richtig beschreibt und konsequent an Lenins Analyse von 1916 anknüpft. Dieses Verständnis kann im Bild der imperialistischen Pyramide veranschaulicht werden, wie es Patrick Honer am 18.04.22 in ‘Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern’ auf der Diskussionstribüne zur Imperialismusfrage beschreibt. Die konkreten Entwicklungen rund um den Krieg in der Ukraine geben aus unserer Sicht keinerlei Anlass dazu, diese Sichtweise zu revidieren, sondern bestätigen ihre Richtigkeit bisher auf ganzer Linie. Eine richtige Einschätzung des Kriegs ist aus unserer Sicht nur ausgehend von einer umfassenden Analyse des Weltsystems möglich. Die Argumente, die die Auseinandersetzung als “zwischenimperialistischen Krieg” untermauern, wurden in zahlreichen Diskussionsbeiträgen dargelegt und überzeugen uns bisher deutlich. Sicher ist auch die KKE nicht im Besitz der absoluten Wahrheit. Aber sie verfügt aus unserer Sicht über den besten Ansatz, den wir bisher haben. Selbstverständlich ist mit Blick auf die ungleichen, aber wechselseitigen Abhängigkeiten – nicht zuletzt für unsere Kampffähigkeit gegen den deutschen Imperialismus – noch viel Vertiefung und konkrete Klärung nötig, in einigen Aspekten vielleicht sogar Korrektur und Neuformulierung. Trotzdem gehen wir davon aus, dass sie den richtigen Ausgangspunkt und das richtige theoretische Fundament liefert, um zu einer wirklichen Klärung der Imperialismusfrage zu kommen.

Wir wollen unsere Darstellung der Dissense in der Klärungsfrage mit einigen Worten Lenins abschließen, der in seiner Imperialismusschrift absolut keinen Zweifel an seinem wissenschaftlichen Standpunkt ließ: “[D]er Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.

[…] Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung [des Imperialismus] begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.” (LW 22, S. 194; 198)

Wie die Umsetzung dieser Ausführung für uns heute aussehen kann, zeigen wir im Folgenden auf.

Die Welt erkennen, um sie zu verändern: Marxistische Theorie und Methode

(IV) Wozu brauchen wir Wissenschaft?

Unser Alltagsbewusstsein funktioniert auf der Ebene der Erscheinungen. Jeder von uns erfährt abhängig von der eigenen individuellen Umgebung unterschiedliche, sinnliche Wahrnehmungen, die chaotisch von unserem Bewusstsein zusammengesetzt und verarbeitet werden. Doch wie viel Erkenntnisgewinn können wir daraus ziehen? Um das Wesentliche entdecken zu können, müssen wir die Bewegungsgesetze erkennen, die sich in den Erscheinungen ausdrücken. Dafür brauchen wir eine wissenschaftliche Methode. Diese Methode ist der dialektische und historische Materialismus, der uns von Marx und Engels an die Hand gegeben wurde. Marx verweist darauf, dass gerade die ökonomischen Verhältnisse dazu führen, dass sich ein verschleiertes Verständnis des Funktionierens der Welt in unserem Bewusstsein widerspiegelt. Ein konkretes Beispiel: Auf der oberflächlichen Erscheinungsebene sieht es so aus, als basiere das Lohnarbeitsverhältnis, genau wie der Kauf und Verkauf anderer Waren, auf Äquivalententausch, also dem Tausch gleicher Wertgrößen gegeneinander. Die meisten Menschen nehmen das in ihrem Alltagsverstand auch so wahr. Der Lohn erscheint ihnen als genauer Gegenwert ihrer Arbeitszeit. Wie Marx aber gezeigt hat, eignet sich der Kapitalist von seinen Lohnarbeitern unbezahlt einen Mehrwert an. Dem Wesen nach handelt es sich also um ein Ausbeutungsverhältnis. Um zu diesem Wesen vordringen zu können, genügt es aber nicht, sich auf der Ebene des Alltagsverstands die Erscheinungen anzuschauen, sondern es bedarf einer wissenschaftlichen Analyse. Marx schreibt in Kapital Band 3 dazu: “alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen” (MEW 25, S. 825).

Als Kommunisten geben wir uns nicht damit zufrieden, die Welt genau zu erkennen und Wesen und Erscheinungsformen bestimmen zu können. Es kommt uns darauf an, wie Marx in seinen Thesen über Feuerbach schreibt, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern “sie zu verändern” (MEW 3, S. 5).

Ganz allgemein gesprochen muss der Mensch die Bewegungsgesetze seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt kennen, um diese seinen Bedürfnissen entsprechend gestalten zu können. Dazu Engels: “Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen” (Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 222-223).

Marx schreibt im ersten Band des Kapitals mit Blick auf den gesellschaftlichen Fortschritt und die Notwendigkeit der Revolution: “Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen-, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern” (MEW 23, S. 15-16). Die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze entfesselt also keine magischen Kräfte, mit deren Hilfe diese Gesetze einfach außer Kraft gesetzt und die Gesellschaft beliebig und ohne jede objektive Einschränkung gestaltet werden kann. Aber die Einsicht in die Bewegungsgesetze ist die Voraussetzung für jeden bewussten Eingriff in die gesellschaftliche Entwicklung. Die möglichst frühe und klare Einsicht in die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution kann die “Geburtswehen” und damit die Leiden unter der alten, überlebten und absterbenden Gesellschaftsordnung abkürzen.

In diesem Sinne verstehen wir auch Lenins viel zitierte Aussage aus “Was tun?”: “Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben” (LW 5, S. 379). Es handelt sich hier keineswegs um eine hohle Phrase oder einen billigen Allgemeinplatz. Lenin formuliert die konkrete Einsicht, dass ohne eine revolutionäre Theorie, die die grundlegenden Bewegungsgesetze der Gesellschaft, ihre Widersprüche und Entwicklungstendenzen richtig widerspiegelt und deren Wirkungsweise in den konkreten historischen Erscheinungen erkennt, nicht möglich, das heißt zum Scheitern verurteilt ist. In seinem Werk “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” konkretisiert Lenin diesen Standpunkt mit Blick auf die Analyse des Imperialismus: “Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen” (LW 22, S. 198).

Dieser marxistische Standpunkt ist natürlich selbst bereits Ergebnis eines wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Der Kapitalismus bringt seine eigenen Totengräber hervor: die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist das revolutionäre Subjekt. Es ist nicht zufällig, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist. Sie ist die Klasse, die den im Imperialismus faulend gewordenen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufheben kann. Sie ist die fortschrittliche, handelnde, die Geschichte bestimmende Größe. Wie sich die Richtung des Klassenkampfs von Seiten der Arbeiterklasse gegen die Tendenzen in die andere Richtung (Aufrechterhaltung der Ausbeuterordnung, Opportunismus) im Einzelnen durchsetzt, also wie groß die Einsicht in die Gerichtetheit der eigenen Handlungen ist und damit die Einsicht in die Notwendigkeit des eigenen Handelns, das ist die Frage des bewussten Handelns der Arbeiterklasse, der Partei. Darum ist die Partei als die Vorhut so zentral. Es ist an uns, den Kommunisten, die Handlung in die richtige Richtung bewusst zu führen. Das funktioniert nicht ohne die revolutionäre Theorie, auf deren Grundlage wir die politische Linie bestimmen, hinter der wir uns mit Disziplin versammeln.

Es geht uns in der marxistischen Wissenschaft also darum, das Wesen in den Erscheinungen erkennen zu können und Erkenntnisse über die inneren Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewinnen. Nur so ist es möglich, Prognosen über die historische Entwicklung der Gesellschaft aufzustellen und daraus praktische Anleitungen für ein bewusstes politisches Handeln abzuleiten. Dabei ist unser Ziel die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und die Errichtung des Sozialismus/Kommunismus, einer Gesellschaftsform, in der die gesellschaftlich geleistete Arbeit gesellschaftlich angeeignet wird.

Wozu brauchen wir also (marxistische) Wissenschaft? (1.) Um das Wesen in den Erscheinungen und die Bewegungsgesetze hinter den konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen zu können. (2.) Um die konkrete Dynamik unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit richtig verstehen und einschätzen zu können. (3.) Um die Welt zu verändern, d.h. aus diesen Erkenntnissen eine wirksame politische Praxis für die Arbeiterklasse im Kampf für den Sozialismus ableiten zu können.

(V) Ausgangspunkt: Unsere kollektive Basis

Wenn wir mit dem wissenschaftlichen Arbeiten beginnen, ist unser Gehirn nicht einfach so “auf null” gestellt. Wir haben nicht einfach eine Tabula Rasa im Kopf und es gibt für uns als historische Materialisten auch keinen archimedischen Standpunkt, also den eines außerhalb der Welt gestellten Beobachters, der ganz unvoreingenommen von außen auf die Dinge blickt. Es gibt keinen “neutralen” Blick auf die Welt. Jede Empirie, sei es das praktische Erfahrungensammeln des Alltagsverstands oder die systematische wissenschaftliche Forschung, geht immer von Erkenntnisinteressen und Vorannahmen über die Welt aus. Wir knüpfen immer schon an unsere vorangegangenen Erfahrungen und intuitiv gebildeten Begriffe an. Mit diesen Vorerfahrungen und Intuitionen müssen wir kritisch umgehen. Sie bilden zugleich den Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Theoriebildung, aber auch eine Hürde, die der Erkenntnisprozess permanent überwinden muss.

Dazu zwei Beispiele: Auf der Ebene des Alltagsverstands und der unmittelbaren Intuition erscheint die Annahme, die Erde sei flach, als vollkommen logisch und plausibel. Die empirischen Eindrücke, die das Gegenteil beweisen, sind der individuellen Wahrnehmung nicht oder nur vermittelt zugänglich. Zwar ist auch vom Boden aus mit dem bloßen Auge erkennbar, dass Schiffe am Horizont hinter der Erdkrümmung verschwinden oder dass der Stand der Sonne sich ändert, je nachdem, in welcher Entfernung man sich vom Äquator befindet. Dennoch waren seit der Antike jahrhundertelange wissenschaftliche Forschung und der Kampf gegen intuitive Vorurteile und religiöse Dogmen notwendig, um schließlich das Bewusstsein durchzusetzen, dass die Erde weder eine Scheibe ist noch von der Sonne umkreist wird, sondern sich als kugelförmiger Planet auf einer Umlaufbahn um die Sonne befindet. Zwischen der scheinbar unhintergehbaren intuitiven Alltagswahrnehmung und der wissenschaftlichen Wahrheit klafft also ein großer Spalt. Engels schreibt dazu: “Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt.” (Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 204)

Weiter. Marx weist den unkritischen Umgang mit bereits vorgefundenen Begriffen zurück: “Wenn wir ein gegebenes Land politisch-ökonomisch betrachten, so beginnen wir mit seiner Bevölkerung, ihrer Verteilung in Klassen, Stadt, Land, See, den verschiednen Produktionszweigen, Aus- und Einfuhr, jährlicher Produktion und Konsumtion, Warenpreisen etc. […] Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen aus denen sie besteht weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn” (Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 34f.). Wenn wir also sagen, wir möchten die ‘Bevölkerung’ untersuchen, so müssen wir uns deutlich machen, was genau man unter ‘Bevölkerung’ versteht und in welche Elemente diese wiederum zu gliedern ist. Denn so klar wir alltagssprachlich wissen, was mit ‘Bevölkerung’ gemeint ist, ist es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht. Ähnlich ist es mit Bezeichnungen wie Kompradorenbourgoisie, Befreiungskrieg und Abhängigkeit, um ein paar Begriffe aus unserer aktuellen Imperialismus-Diskussion zu nennen.

Wenn wir der wirklichen Welt in ihrer unendlichen Komplexität und Größe gegenübertreten, bildet sich diese in unserem Bewusstsein zunächst als “chaotische Vorstellung des Ganzen” (MEW 42, S. 35) ab. Diese chaotische Vorstellung des Weltganzen setzt sich aus verschiedenen Wissenselementen und Eindrücken zusammen, die wir mehr oder weniger zufällig in unseren Köpfen gesammelt haben. Geprägt sind diese Eindrücke einerseits von unserer konkreten biologisch-materiellen Beschaffenheit als Menschen, insbesondere unserer Sinnesorgane (die z.B. ohne technische Hilfsmittel viele Naturprozesse gar nicht wahrnehmen können). Andererseits hängt unser Weltbild stark davon ab, wo genau in der Welt wir uns befinden, es ist regional, kulturell, religiös und sozial geprägt. Damit ist die chaotische Vorstellung des Weltganzen zunächst spontan und zufällig. Wissenschaftliche Erkenntnis kann aber nicht das Ergebnis von Zufällen sein, sondern setzt ein systematisches und planvolles Vorgehen voraus.

Marx und Engels haben bei der Entwicklung ihrer Theorie nicht bei null angefangen, also den noch ganz rohen und unreflektierten Begriffen des Alltagsbewusstseins ihrer Zeit, sondern sie konnten bereits an die Vorarbeiten zahlreicher Theoretiker anknüpfen. In ihren ökonomischen Ausführungen kritisieren sie die englischen Klassiker (Smith, Ricardo etc.). Ihr philosophisches Fundament beziehen sie aus Hegels Ausführungen zur Dialektik, Feuerbachs Materialismus, französischer radikaler Aufklärungsphilosophie, der aristotelischen Logik, dem antiken Materialismus (Epikur, Demokrit) und der antiken Dialektik (Heraklit). Ihr Geschichtsverständnis und ihr revolutionär-sozialistischer Standpunkt waren wesentlich geprägt von den Erfahrungen der Französischen Revolution und den ersten utopischen Sozialisten (Vgl. Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, LW 19, S. 3-9).

Warum betonen wir hier die Rolle des Ausgangspunktes so stark? Warum starten wir jetzt nicht direkt mit der Darstellung der marx’schen Forschungsweise? Weil wir es für notwendig halten, uns erstens bewusst zu machen, dass es keine neutrale Erkenntnis aus sich selbst heraus gibt, sondern wir immer in Wissenszusammenhänge eingebettet sind. Wir sollten uns also keine Illusionen über objektive Neutralität machen, sondern offenlegen, was unsere Ausgangspunkte und Vorannahmen sind. Zweitens, weil wir uns als organisierte Kommunisten auf einen kollektiven Startpunkt geeinigt haben. In der KO haben wir uns zu Marx, Engels und Lenin als unseren Klassikern bekannt und unser grundlegendes Verständnis des Marxismus-Leninismus in den Programmatischen Thesen dargelegt. Natürlich behandeln wir diese nicht als ewig gültige Wahrheiten, sondern haben uns vorgenommen, diese immer wieder auf ihre Aktualität zu prüfen. Jedoch muss uns klar sein, dass wir nicht einfach Privatpersonen sind, die aus Spaß an der Wissenschaft zusammenkommen, sondern wir das kollektive Ziel des Parteiaufbaus und der sozialistischen Revolution haben. Um organisiert Wissenschaft zu betreiben, haben wir uns eben diesen Startpunkt gesetzt, um von der “chaotischen Vorstellung des Ganzen”, die jeder von uns individuell hat, zu einer kollektiven “reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen” (Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 35) zu kommen, in der wir handlungsfähig sind. Diesen Startpunkt – und damit die Grundlage für unsere kollektive Organisierung und unseren kollektiven Wissensgewinn – geben wir erst auf, wenn wir ihn als falsch bewiesen und einen neuen kollektiven Ausgangspunkt bestimmt haben.

Lenin baute auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Marx und Engels auf. Das konnte er, indem er die Methode verstanden und angewendet hat, um nachzuvollziehen, wie sich die Welt weiterentwickelt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brach der 1. Weltkrieg aus, der die damaligen Kommunisten vor große Herausforderungen in der Einschätzung des Krieges und für ihre Schlussfolgerungen in Bezug auf ihr Handeln stellte. Das Ziel Lenins war mit seinen in der Imperialismusschrift festgehalten Erkenntnissen “sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus” (LW 22, S. 192).

Lenin wandte die Erkenntnisse von Marx und Engels an und konnte damit die wesentlichen Bewegungsgesetze des Imperialismus beschreiben, wie er sich als dessen “höchste Stufe” aus dem Kapitalismus entwickelt. Marx hatte bereits die gesetzmäßige Entwicklung von Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Kapitals identifiziert. Er weist auf eine Entwicklung der freien Konkurrenz hin, die ab einem bestimmten Punkt einen qualitativen Sprung macht und Monopole herausbildet. Dies ist Lenins gesetzmäßiger Ausgangspunkt. Er weist nach, dass dieser Sprung Anfang des 20. Jahrhunderts Realität geworden ist. Der Imperialismus ist allerdings keine eigene Gesellschaftsformation, sondern ein Stadium des Kapitalismus. Die Gesetzmäßigkeiten des vormonopolistischen Kapitalismus haben nach wie vor ihre Gültigkeit. So bezieht sich Lenin auf die Erkenntnisse über gesetzmäßige Entwicklung der Klassiker und bezieht sich auf deren Durchsetzung in der historischen, wirklichen Entwicklung.

Was bedeutet das für uns und unseren Klärungsprozess?Uns beschäftigt die Einschätzung des heutigen Imperialismus bzw. des Krieges in der Ukraine. Wenn wir uns nun um Antworten bemühen, stellen wir fest, dass wir einen Ausgangspunkt brauchen. Wir können nicht blind in die Empirie gehen und Daten sammeln, sondern wir müssen uns bewusst machen, wo wir starten, um einen planvollen kollektiven Erkenntnisprozess zu ermöglichen.

Indem wir uns auf die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und Imperialismus von Marx, Engels, Lenin als die Basis unserer gemeinsamen Organisierung geeinigt haben, sind sie unser Startpunkt. Das haben wir in unseren PT festgehalten. Wir starten nicht bei null, sondern bei dem, was unsere Klassiker bereits aufgedeckt haben und wir grundlegend richtig finden. Also: Wir haben bereits ein grundlegendes weltanschauliches Gebäude. Das ist unser Ausgangspunkt. Und das bedeutet, dass wir bei den Gesetzmäßigkeiten, die die Klassiker identifiziert haben, starten. Das ist nicht dogmatisch. Sondern solange wir uns im Stadium des Imperialismus befinden, also in derselben Gesellschaftsformation, ist die gesetzmäßige Entwicklung, wie sie die Klassiker beschreiben, gültig und wird sich durchschlagen. Wir werden dann zu Dogmatikern, wenn wir nicht verstehen, warum wir sie für wahr halten und wie die Klassiker zu ihren Erkenntnissen gekommen sind (siehe Fehler ‘Begriffe nicht begreifen’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’).

Marx und Engels haben uns nicht nur eine Theorie über die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus hinterlassen, sondern vermitteln uns auch, wie sie zu ihren Erkenntnissen gekommen sind. Sie weisen in ihren Schriften nach, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Produktionsweise beruhen, aus der sich unser Bewusstsein, die Ideologie, die Religion entwickelt. Der Überbau steht in ständiger Wechselwirkung mit der ökonomischen Basis. Aus diesem Grund schauen sie sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten an, die Entwicklung ihrer Widersprüche und sind in der Lage, Prognosen über die weitere Entwicklung des Kapitalismus, die Zuspitzung und Aufhebung der Widersprüche zu machen. Dass die Ware die abstrakteste Form ist, in der die Produktionsverhältnisse, gesellschaftliche Arbeit und private Aneignung, abgebildet sind, die der bestimmende Moment der kapitalistischen Produktionsweise sind, müssen wir nicht erneut wissenschaftlich analysieren. Im Imperialismus ist für jede wissenschaftliche Betrachtung der Ausgangspunkt das Monopol, weil es durch nichts anderes vermittelt bestimmt werden kann (dazu im Folgenden mehr) (vgl. Kumpf, 1968, S. 105).

Wir müssen uns dieser Bewegungsgesetze, der wissenschaftlichen Begriffe, bemächtigen, um die aktuellen Erscheinungen, wie den Ukraine-Krieg, konkreter beschreiben zu können. Diese Offenlegung und Bewusstmachung von unserem Ausgangspunkt ist zentral, um Orientierung in der unendlichen Komplexität der Welt zu finden und Kollektivität in der Klärung für kollektives Handeln herzustellen.

Wenn wir uns hier (beim Verständnis dieser Gesetzmäßigkeiten) schon uneinig sind, dann macht der ganze Rest der wissenschaftlichen Betrachtung keinen Sinn. Wir werden nie zu einem kollektiven Verständnis der aktuellen Lage kommen, wenn wir keinen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Wir brauchen also zuerst ein kollektives Verständnis der Bewegungsgesetze des Imperialismus, wie sie Lenin beschreibt.

(VI) Marx’ Methode im Überblick

Von Marx und Engels ist kein Text überliefert, in dem sie uns eine umfassende und definitive Darstellung ihrer wissenschaftlichen Methode an die Hand geben. Es verwundert also nicht, dass es in der Geschichte des Marxismus gerade in dieser Frage immer wieder grundsätzliche Dissense und Debatten gegeben hat. Dabei lässt sich die marx’sche Methode in ihren Grundzügen aus zahlreichen über das Gesamtwerk verstreuten Textfragmenten und nicht zuletzt aus dem Studium dieser Methode “in Aktion” in den Hauptwerken der Klassiker zuverlässig rekonstruieren. Genau das wollen wir im Folgenden leisten. Zunächst geben wir einen Überblick über die Methode. Dann werden wir die sechs Schritte, in die sie eingeteilt werden kann, genau beleuchten.

Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals Band 1 beschreibt Marx die von ihm angewandte Methode anhand einer Rezension, die er selbst ausführlich und zustimmend zitiert. Wir geben diese Textstelle hier wieder und entpacken das Zitat im Folgenden schrittweise:

“Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt … Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen […] Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich die eine gegenüber der andren verschiedene Entwicklungsmomente bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung, worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des ökonomischen Lebens sind ein und dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Vergangenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren solche abstrakte Gesetze nicht […] Nach seiner Meinung besitzt im Gegenteil jede historische Periode ihre eignen Gesetze […] Sobald das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch durch andre Gesetze gelenkt zu werden. […] Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel, welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens haben muß … Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln.”

Dann geht es weiter in Marx’ eigenen Worten, der diese Darstellung seiner dialektischen Methode in Abgrenzung zur Darstellungsweise um die folgende Erklärung ergänzt:

“Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.

Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.

[…] In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist” (MEW 23, 25-28).

Was wird hier beschrieben? Marx stellt dar, dass die Forschung sich den empirischen Stoff zunächst im Detail aneignet. Und zwar in seiner Entwicklung. Diese wird begrifflich (ideell) widergespiegelt und die Gesetzmäßigkeit hinter der Entwicklung, das “innere Band” zwischen den Phänomenen, aufgeschlüsselt. Ausgehend von den wesentlichen Gesetzmäßigkeiten werden diese wiederum an der Wirklichkeit überprüft. In einem Satz könnten wir sagen: Marx beginnt bei der empirischen Aneignung des Stoffs, destilliert daraus die inneren Gesetzmäßigkeiten und überprüft diese wiederum an der Wirklichkeit.

Anders ausgedrückt vollzieht sich die Bewegung des Forschens vom sinnlich-chaotisch Konkreten der unmittelbaren Erscheinungen über die begrifflich-theoretische Abstraktion zum bestimmten Konkreten der nun wissenschaftlich durchdrungenen Wirklichkeit (vgl. Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 35).

Engels beschreibt das Forschungsvorgehen in der ‘Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft’ so: “Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zusammenhänge, als auf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. […] Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. [Das ist das chaotisch, sinnliche Konkrete mit dem wir in unserem Alltagsbewusstsein durch die Welt gehen.] Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und solange wir diese nicht kennen, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar. [Die Klarheit über das Gesamtbild ist das Resultat von Schritt 4.] Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen. [Hier beginnt die Abstraktion: das Herauslösen von Teilen aus einem Ganzen. Hier ist es die “empirische Arbeit”; Schritt 1.] und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. [Schritt 2: Analyse] Dies ist zunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeit einen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material dafür zusammenschleppen mußten. Erst nachdem der natürliche und geschichtliche Stoff bis auf einen gewissen Grad angesammelt ist [Schritt 1], kann die kritische Sichtung, die Vergleichung beziehungsweise die Einteilung in Klassen, Ordnungen und Arten in Angriff genommen werden [Schritt 2] (Anmerkungen von uns; MEW 19, S. 202-203).

Der marxistische Theoretiker Ernest Mandel (ein Trotzkist, der allerdings an dieser Stelle das marxistische Wissenschaftsverständnis korrekt darlegt) schreibt, eines der komplexesten Probleme der marx’schen Theorie bestehe darin, das “Verhältnis zwischen den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitals, wie sie Marx aufgedeckt hat, und der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise” zu entschlüsseln. Wie genau treten die ökonomischen Bewegungsgesetze, die die gesellschaftliche Entwicklung von der Basis her bestimmen, im konkreten und scheinbar chaotischen Geschichtsprozess in Erscheinung? Wie manifestieren sie sich als konkrete Phänomene des Überbaus? Das ist die schwierige und nie abgeschlossene Aufgabe, der sich alle Generationen von Marxisten in ihrer jeweiligen historischen Gegenwart von neuem stellen müssen. Sich dieser Aufgabe zu stellen heißt, den Marxismus nicht als Sammlung einmal entdeckter Wahrheiten zu verstehen, sondern als das Rüstzeug, um die sich ständig verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit auf Höhe der Zeit zu analysieren und den theoretischen Erkenntnisprozess nicht hinter die wirkliche historische Bewegung zurückfallen zu lassen.

Mandel schreibt über die marx’sche Methode weiter: “Es ist inzwischen ein Gemeinplatz geworden, daß die durch Marx entdeckten Entwicklungsgesetze des Kapitalismus das Ergebnis einer vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigenden dialektischen Analyse bilden.” Er zitiert Marx aus der ‘Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie’: “Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens.” (MEW 13, S. 632)Mandel fährt fort: “dem ‘Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten’ [ist], wie Lenin beschrieben hat, ein Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten vorangegangen; denn das Abstrakte selbst ist ja bereits Ergebnis einer analytischen Arbeit, die das Konkrete in seine ‘bestimmenden Beziehungen’ zu zerteilen suchte. […] Das Abstrakte ist nur dann wahr, wenn es gelingt, die ‘Einheit des Mannigfaltigen’, die im Konkreten gegeben ist, zu reproduzieren. Das Wahre, sagt Hegel, ist das Ganze; und das Ganze ist die Einheit des Abstrakten und des Konkreten – eine Einheit der Gegensätze, nicht deren Identität. Und viertens kann die gelungene Reproduktion der konkreten Totalität nur durch ihre praktische Anwendung beweiskräftig werden, was u.a. bedeutet – wie Lenin ausdrücklich hervorhebt –, daß bei jedem Schritt der Analyse ‘die Kontrolle durch die Tatsachen respektive durch die Praxis’ stattfinden muss’” (Mandel, 1972, S. 11-12).

Im Folgenden soll es darum gehen, das wissenschaftliche Vorgehen anhand der sechs Schritte der marx’schen Methode zu veranschaulichen. Dabei stellen wir in jedem Schritt dar, wie Marx ihn vollzieht, um dann zu zeigen, welche Rolle der jeweilige Schritt für Lenin gespielt hat. Am Ende jedes Abschnitts geben wir Hinweise, was sie für unseren Klärungsprozess jeweils bedeuten.

Marx’ Methode Schritt für Schritt

Erster Weg: Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten

(1) Aneignung des empirischen Stoffes (Erscheinungsebene)

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren.” (MEW 23, S. 27; Hervorhebung von uns)

Laut Marx besteht also der erste Schritt der wissenschaftlichen Forschung darin, sich den empirischen Stoff anzueignen. Auf den ersten Blick scheint uns die Wirklichkeit in ihrer sinnlich empirischen Gegebenheit am konkretesten zu sein. So ist es auch tatsächlich, sofern das Konkrete hier das Konkrete der Realität, jedoch der theoretisch noch nicht durchdrungenen Realität ist. Diese ist zunächst der „Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung” (MEW 13, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 632).

Marx’ Forschungsvorgehen im ‘Kapital’ beginnt mit der empirischen Betrachtung der ökonomischen Erscheinungen. Die detaillierte Darstellung seiner mühsamen empirischen Vorarbeiten erspart Marx den Lesern des Kapitals (s.o. das Zitat zur Unterscheidung von “Forschungs-” und “Darstellungsweise”), zumindest teilweise liegen uns diese aber in den “Grundrissen” und den “Theorien über den Mehrwert” publiziert vor. Um die empirischen Erscheinungen betrachten zu können, ist bereits Abstraktion notwendig. Einzelne Dinge (z.B. die Ware), die als relevant erachtet werden, müssen aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und zunächst isoliert untersucht werden. Ohne Abstraktion und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands wäre es unmöglich, sich die unendliche Komplexität der Wirklichkeit systematisch anzueignen und das empirische Material in verwertbarer Form zu sammeln. Anders als in den Naturwissenschaften, so Marx, kann “bei der Analyse der ökonomischen Formen […] weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen” (MEW 23, S. 12). Auf die Abstraktionskraft gehen wir später in Schritt 2 ein.

Marx kann sich zu Beginn seiner Betrachtung noch nicht auf bereits erkannte Bewegungsgesetze stützen, sondern für ihn gilt es zunächst, diese Gesetze herauszufinden. Sein Ziel ist, das Gesamtbild der Wirklichkeit nicht mehr sinnlich-chaotisch zu verstehen, sondern in seiner Gesetzmäßigkeit. Er sammelt also zunächst Einzelheiten, löst sie aus dem Gesamtzusammenhang der Erscheinungen heraus, um sie erkennen zu können. Warum ist das Herauslösen einzelner Erscheinungen richtig auf dem Weg zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten?

Jede Entwicklung muss sich verwirklichen, also erscheinen. Wie genau sie sich verwirklicht, ist aber bei der Betrachtung der Erscheinungen noch nicht klar. Die Erscheinungen sind im Vergleich zum Wesen der Dinge reicher. Die Erscheinungen haben mehrere Eigenschaften und zufällige Formen, in denen sie auftreten können. Sie enthalten das Wesentliche, was aber das Wesentliche ist, ist nicht unmittelbar erkennbar. Damit Marx zum Wesentlichen, den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten vordringen kann, muss er durch die Erscheinung “hindurch”.

Marx und Engels stellen immer wieder heraus, dass die Forschung bei der Wirklichkeit beginnt. “Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.” (Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 20). Warum eigentlich? Weil Marx Materialist ist und sich ganz entschieden gegen den zu seiner Zeit in der bürgerlichen Philosophie vorherrschenden Idealismus wehrt. Die Idealisten versuchen die Welt aus den Ideen heraus zu verstehen. Sie bauen Gedankengebäude, orientieren sich dabei aber nicht an der tatsächlichen Entwicklung der Wirklichkeit. Mit dem Verweis auf die Empirie macht Marx also immer wieder deutlich, dass Erkenntnis nicht einfach von selbst aus der “reinen Vernunft” kommt, sondern Erkenntnis immer mit der tatsächlichen, vom einzelnen Menschen zunächst unabhängigen Entwicklung der Wirklichkeit zu tun hat.

Die konkrete sinnliche Gegebenheit der Welt, bei der Marx mit der Forschung empirisch startet, ist durch unendlich viele Einzelheiten zusammengesetzt. Diese Einzelheiten müssen in ihrer Gesamtheit gesammelt werden. „Damit es wirklich ein Fundament wird, kommt es darauf an, nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Gesamtkomplex der auf die betreffende Frage bezüglichen Tatsachen zu betrachten, ohne eine einzige Ausnahme” (MEW 23, S. 286).

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ab wann das angehäufte empirische Material vollständig genug ist, um den “Gesamtkomplex der Tatsachen” tatsächlich widerspiegeln zu können, ohne dabei einseitig zu werden und die Wirklichkeit zu verzerren. Die Empirie muss die Komplexität der Wirklichkeit notgedrungen reduzieren, ein überschaubares Feld abstecken und von Störfaktoren abstrahieren, andernfalls würde sie die Analyse kaum ermöglichen. Gleichzeitig darf diese Komplexitätsreduktion aber nicht zu weit gehen, da sonst wesentliche, für die richtige Erkenntnis notwendige Aspekte der Wirklichkeit bei der Analyse ausgeblendet würden. Natürlich musste Marx nicht jeden einzelnen Warentausch analysieren, der in der Menschheitsgeschichte je stattgefunden hat, um zu seinem Begriff der Ware und des Tauschwerts zu kommen, sondern ein repräsentativer Ausschnitt der Wirklichkeit war dafür ausreichend.

Marx weist im Vorwort zur ersten Auflage des ‘Kapitals’ auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Natur- und Gesellschaftswissenschaften hin:  “Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern” (MEW 23, S. 12). Die Empirie in den Naturwissenschaften hat also den Vorteil der relativen Störungsfreiheit und der Reproduzierbarkeit. Ein chemischer oder physikalischer Prozess muss nicht in der chaotisch-komplexen Außenwelt mit all ihren Zufälligkeiten und Wechselwirkungen, sondern kann im Labor sozusagen in Reinform beobachtet und beliebig oft wiederholt werden. Das ist bei der Erforschung der Gesellschaft kaum möglich. Hier dienen als Material einerseits die Geschichte und andererseits die unmittelbare Empirie, die nie unter Laborbedingungen stattfindet. Dennoch ist es möglich, durch eine richtige Auswahl des empirischen Stoffs zu allgemeingültigen Ergebnissen zu kommen, Marx schreibt dazu: “Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse, Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient” (MEW 23, S. 12). Marx musste also nicht die Entstehung des Kapitalismus in jedem Land einzeln und in ihrer jeweils historisch-konkreten Besonderheit analysieren, sondern konnte die allgemeinen Bewegungsgesetze aus der Analyse des “klassischen” Falls ableiten.

Zweitens stellt sich die Frage nach der Art des empirischen Materials, das zur Verfügung steht. Marx fand die Wirtschaftsstatistiken, auf die er sich im ‘Kapital’stützt, nicht etwa in Rohform in der British Library vor und er unternahm auch keine eigenen Feldstudien zur eigenhändigen Erhebung seiner Statistiken, sondern er arbeitete mit den empirischen Daten bürgerlicher Ökonomen. Das bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Zunächst stellt sich die Frage, wie exakt und verlässlich die Angaben sind, welchen Messfehlern oder sogar bewussten Manipulationen sie unter Umständen unterliegen. Hinzu kommt, dass solche Daten immer durch die eigenen theoretischen Vorannahmen und Abstraktionen jener geprägt sind, die sie erhoben haben. So etwas wie eine “nackte Empirie”, also frei von Vorannahmen, existiert nicht. Scheinbar neutrale Zahlen und Fakten müssen immer erst kritisch dechiffriert und auf ihre Aussagekraft geprüft werden.

Anders als Marx konnte sich Lenin bereits auf die entdeckten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und die weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus stützen. Trotzdem befand er sich in einer historischen Entwicklungsphase, die zu ihrer Erfassung weiterer Forschung bedurfte. Er sah sich konfrontiert mit der Expansion von Staaten, ihrer aggressiven Außenpolitik und dem Ersten Weltkrieg, kurz: der Herausbildung dessen, was Lenin und seine marxistischen Zeitgenossen dann auf den Begriff “Imperialismus” bringen sollten. Zur selben Zeit spaltete sich die Kommunistische Bewegung an der Frage, wie diese Entwicklungen einzuschätzen seien und wie darauf aufbauend gehandelt werden müsse.

Marx hatte im dritten Band des ‘Kapitals’die Bedeutung der Monopolbildung und des Finanzkapitals für die weitere Entwicklung des Kapitalismus bereits angedeutet. Lenin knüpfte in seiner Analyse an die von Marx bereits gebildeten Begriffe und entdeckten Bewegungsgesetze an. Er konzentrierte seine eigene empirische Forschung auf die Frage der Wirkungsweise der Zentralisation und Konzentration des Kapitals und die damit zusammenhängenden relativ neuen und für den Imperialismus spezifischen Phänomene (Monopole, Finanzkapital, Kapitalexport, Neuaufteilung der Welt etc.).

Als Vorarbeit zu seinem Werk ‘Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus’ fasste Lenin auf ca. 800 Seiten in 21 Heften Beobachtungen über die Weiterentwicklung der Produktionsweise zusammen. Er studierte Werke von über hundert Autoren in verschiedenen Sprachen. Zusammengefasst sind diese in Band 39 der Lenin Werke. Eine ökonomische Erscheinung, die Lenin im Detail studiert, ist zum Beispiel die Konzentration von Arbeitern pro Betrieb und die Konzentration der Produktion (Dampf- und elektrische Kraft). Dafür schaut er sich die Anzahl der Beschäftigten pro Betrieb in Deutschland, in den USA und Großbritannien in ihrer Entwicklung von 1882 bis 1907 an.

Lenin pflegt dabei einen kritischen Umgang mit bürgerlichen Quellen, die er sorgfältig prüft und kommentiert. Um ein Beispiel zu geben: Im Werk von Hans Gideon Heymann ‘Die gemischten Werke im deutschen Großeisengewerbe’ sind Statistiken aus 24 Werken von Thyssen, Krupp u.a. zusammengefasst. Lenin kommentiert dieses Quellenmaterial einerseits als “Zusammenstellung von (größtenteils ziemlich lückenhaftem) Material”, andererseits als “gutes Beispiel” und “besser als Liefmann und früher” (LW 39, S. 182-183). Zahlen und Erkenntnisse aus diesem Werk finden wir im ersten Kapitel in Bezug auf die Betriebszählungen zur Darstellung der Anzahl Betriebe mit Arbeitern pro Betrieb wieder sowie in Kapitel 3 zum Finanzkapital der Imperialismusschrift (vgl. LW 22, S. 200; 231).

Im Vorwort der Imperialismusschrift merkt er an, dass ihm bei der Erarbeitung des Werks ein begrenztes Datenmaterial zur Verfügung stand, was ihn aber dennoch nicht hinderte, das Wesentliche über den Imperialismus auszusagen. Es geht um die Darstellung des Gesamtzusammenhangs. Dazu müssen die empirischen Daten entsprechend repräsentativ sein und dürfen nicht einseitig oder selektiv, sondern müssen in ihrer Gesamtheit (!) interpretiert werden. So identifiziert er z.B. als repräsentativ für die Einschätzung des Krieges Daten über die objektive Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Lenin dazu: “Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.”(LW 22, S. 194). Ähnlich wie Marx, der seine Analyse des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf den “klassischen” Fall England stützt, greift auch Lenin ein besonders repräsentatives Beispiel heraus, um allgemeine Entwicklungen des Monopolkapitalismus zu illustrieren. Daten über den weltweiten Ausbau der Eisenbahnlinien zieht er “als anschaulichsten Gradmesser der Entwicklung des Welthandels und der bürgerlich demokratischen Zivilisation” (LW 22, S. 194) heran. Anders als Marx, sind Lenin die zentralen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung bekannt. Wie er nun dazu kommt, die Eisenbahnen anzuschauen, wird in Schritt 3 und 4 von uns weiter ausgeführt.

Was können wir daraus für den Klärungsprozess und unsere Imperialismusdiskussion lernen?Was müssen wir beachten, wenn wir uns den empirischen Stoff aneignen?

Erstens müssen wir vor Beginn der empirischen Forschungsarbeit klären, was unser Gegenstandsbereich ist und welche Frage wir an die Empirie stellen. Nur so lässt sich das richtige empirische Material identifizieren und ein repräsentativer Ausschnitt der zu analysierenden Wirklichkeit definieren. Orientierung dafür bieten uns erstmal unsere Klassiker und Schritt 4 (dazu später mehr). Die Entwicklung von Materie ist unendlich. Wir werden diese unendliche Entwicklung niemals vollständig gedanklich/begrifflich abbilden können.

Zweitens müssen wir einen bewusst kritischen Umgang mit Daten und den Begrifflichkeiten der bürgerlichen Ökonomie erlernen. Die Daten, mit denen wir arbeiten, sind keine “nackten” Zahlen, die wir so in der Welt entdecken, sondern ihnen geht immer schon die Abstraktion und Begriffsbildung durch bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler voraus. So ist z.B. die Kenngröße der “foreign direct investments” nicht deckungsgleich mit Lenins Bestimmung des Kapitalexports. Hier muss man sich klar machen, welche Definition hinter dieser Kenngröße steckt. Natürlich besteht immer die Gefahr von Missinterpretationen und falschen Schlussfolgerungen, dennoch ist die Arbeit mit diesen Daten alternativlos. Dass es möglich ist, aus den Erzeugnissen der bürgerlichen Empirie eine dialektisch-materialistische Theorie zu entwickeln, haben Marx, Engels und Lenin vorgemacht. 

Drittens dürfen wir keinen so genannten Bestätigungsfehler (confirmation bias) begehen. Diesen Fehler begeht man, wenn man der Aneignung des Stoffs bereits ein Ergebnis vorweg nimmt. Also gezielt Daten sammelt, die das “gewünschte” Ergebnis bestätigen, während man jene Daten ignoriert, die den eigenen Vorannahmen widersprechen. Ein solcher Fehler kann uns allen passieren – bewusst oder unbewusst. Wenn wir uns den empirischen Stoff aneignen, ist unser bisheriger Kenntnisstand und unsere bisherigen Überzeugungen ja nicht gelöscht. Es ist also notwendig, selbstkritisch zu hinterfragen, warum man welches Material auswählt. Einem unbewussten Bestätigungsfehler kann man vorbeugen, indem man sich fragt, welche Erscheinungen unplausibel für den eigenen Standpunkt wären und gezielt nach diesen sucht. Wendet man die Analyse, deren Kern die Betrachtung von Gegensätzen ist (Schritt 2), korrekt an, wird deutlich, dass die marx’sche Methode dem Bestätigungsfehler gänzlich entgegensteht und eine korrekte Analyse einen solchen Fehler gar nicht zulässt bzw. eine Analyse auf Basis von ungeeignetem Material kaum möglich ist.

Zuletzt müssen wir überlegen, wann wir “genug” und den “richtigen” Stoff gesammelt haben. Wir wollen zwar die “Gesamtheit der Daten” berücksichtigen, uns gleichzeitig aber nicht in einen ewigen Klärungsprozess verrennen, der nie zu einem Ergebnis kommt. Darüber, ob wir genug Empirie betrieben haben, können wir uns im ersten Schritt noch nicht sicher sein. Einen ersten Anhaltspunkt bekommen wir im nächsten Schritt, wenn wir sehen, ob Analyse und Verallgemeinerung möglich sind. Wenn wir dann schon merken, dass der empirische Stoff nicht ausreicht, brauchen wir mehr. Eine zu schmale oder lückenhafte empirische Ausgangsbasis birgt immer die Gefahr falscher Verallgemeinerungen. Aber auch wenn der nächste und die folgenden Schritte klappen, können wir uns noch nicht ganz sicher sein, ob wir ausreichend Stoff gesammelt haben (mehr dazu in Schritt 5).

(2)  Analytische Aufgliederung des Stoffs

Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren.” (MEW 23, S. 27, Hervorhebung von uns)

Im ersten Schritt hat Marx sich die Erscheinungen angeeignet, die Einzelheiten aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst. Das Ziel bzw. Resultat des zweiten Schrittes auf Basis der Aneignung des empirischen Stoffes ist die systematische Abstraktion: die abstrakten bzw. einfachen Begriffe. Dieser Schritt zielt auf das Herausschälen des Allgemeinen. Dies gelingt mit Hilfe der oben bereits erwähnten “Abstraktionskraft”, also dem gedanklichen Abziehen alles Zufälligen, um so von der Betrachtung der vielen einzelnen Erscheinungen und ihrer jeweils besonderen Eigenschaften hin zum Allgemeinen zu gelangen. Auf diesem Weg findet eine erste Annäherung an das Wesen der Erscheinungen statt.

Wir verbinden das Abstrakte oft mit etwas gedanklich-zufälligem. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil. Der Aufstieg zum Abstrakten ist ein wichtiger Schritt zur wahren Erkenntnis: ,,Das Denken, das vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt sich nicht – wenn es richtig ist […] – von der Wahrheit, sondern nähert sich ihr. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider” (Lenin, Konspekt zur “Wissenschaft der Logik”, LW 38, S. 160).

Auf Grundlage der Sammlung des empirischen Materials beginnt Marx die Analyse dieser Erscheinungen. Bei der Analyse geht es um die Aufgliederung des Ganzen in seine einzelnen Bestandteile. Diese Zergliederung ist nicht beliebig, sondern wird von Marx anhand entgegengesetzter Teile vorgenommen. Die einzelnen Teile werden hinsichtlich ihrer Verhältnisse, hinsichtlich ihrer Gegensätze, zergliedert und betrachtet. Warum findet die Untersuchung der Einzelheiten, die Marx sich in Schritt 1 angeeignet hat, anhand von Gegensätzen statt? Weil er darauf abzielt, die Dinge in ihrer wesentlichen Entwicklung zu verstehen. Und Entwicklung wiederum (das weiß Marx von Hegel) vollzieht sich anhand von Gegensätzen. Dies ist ausgedrückt in einem der Grundgesetze der Dialektik: Entwicklung findet anhand von Kampf und Einheit der Gegensätze statt. Entsprechend geht es Marx in der Analyse darum, die Wechselwirkung zwischen den Gegensätzen zu bestimmen.

So weit, so gut. Aber woher weiß Marx, welche Teile einander entgegengesetzt sind? Indem er bei Verhältnissen startet. Denn ein Verhältnis beinhaltet schon, dass es zwei Seiten/Teile hat, die sich zueinander verhalten. Es ist ein geflügeltes Wissen, dass es im dialektischen Materialismus immer um Verhältnisse geht. Warum geht es aber immer um Verhältnisse? Im Verhalten der Dinge zueinander können wir die Bewegungsformen der Dinge erkennen. Es genügt uns nicht, wie die Metaphysiker, ein System von Begriffen oder Kategorien aufzustellen, in dem sich die Wirklichkeit “nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand” widerspiegelt. Die Welt ist keine Ansammlung vereinzelter “fester, starrer, ein für allemal gegebener Gegenstände der Untersuchung” (Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 203), wie die toten Exponate, die in den Schaukästen eines Naturkundemuseums verstauben. Denn die Welt bewegt und verändert sich unentwegt, Materie gibt es nicht ohne Bewegung. Diese Bewegung wird sichtbar in den verschiedenen Entwicklungsformen des Stoffs und in den Verhältnissen der einzelnen Gegenstände zueinander.

Schauen wir uns genauer an, wie Marx in den ersten Kapiteln des ‘Kapitals’ mit Hilfe der Abstraktionskraft seinen Begriff der Ware bildet. Zunächst beginnt er mit der Betrachtung einzelner Tauschgegenstände (Rock, Tuch, Weizen, Silber etc.) und abstrahiert von deren konkreten Gebrauchswerteigenschaften. “Abstrahieren” bedeutet dabei nichts anderes als “abziehen”. Dass der Rock eine bestimmte Farbe und die Äpfel einen bestimmten Geschmack haben, ist unwesentlich für deren Wareneigenschaft und kann ausgeblendet werden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ihr abstraktes Allgemeines, der Tauschwert, den sie als Waren alle gemeinsam haben und der sich in den Mengenverhältnissen ausdrückt, nach denen sie getauscht werden. Allerdings wäre keine dieser Beobachtungen möglich, würde Marx sich auf die Analyse einzelner, isolierter Waren und deren stoffliche Beschaffenheit beschränken. Der Wert ist keine physikalische Eigenschaft der Waren, sondern existiert nur im Tauschverhältnis, also in der gesellschaftlichen Bewegung. In den Wert der Ware, so Marx, geht “kein Atom Naturstoff ein […] Man mag daher die einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding” (MEW 23, S. 62). Engels beschreibt das in seinen Worten so: “Es ist aber bloß dadurch Ware, daß sich an das Ding, das Produkt, ein Verhältnis zwischen zwei Personen oder Gemeinwesen knüpft, das Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, die hier nicht mehr in derselben Person vereinigt sind. Hier haben wir gleich ein Beispiel einer eigentümlichen Tatsache, die durch die ganze Ökonomie durchgeht und in den Köpfen der bürgerlichen Ökonomen böse Verwirrung angerichtet hat: Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge”(Rezension zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475f.).

In der Analyse geht es Marx also darum, die herausgelösten Erscheinungen in ihren Verhältnissen zu betrachten, um Schritt für Schritt auf die Begriffe zu kommen, die die Verhältnisse fassen. “Wir gehen bei dieser Methode aus von dem ersten und einfachsten Verhältnis, das uns historisch, faktisch vorliegt [dem Warenverhältnis], hier also von dem ersten ökonomischen Verhältnis, das wir vorfinden. Dies Verhältnis zergliedern wir. Darin, daß es ein Verhältnis ist, liegt schon, daß es zwei Seiten hat, die sich zueinander verhalten. Jede dieser Seiten wird für sich betrachtet; daraus geht hervor die Art ihres gegenseitigen Verhaltens, ihre Wechselwirkung” (Rezension: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475).

Auf dem Weg, der durch abstrahierende und zergliedernde Analyse zu Begriffen führt, findet auch Verallgemeinerung statt. Verallgemeinerung bedeutet, Gemeinsamkeiten von einzelnen Dingen festzustellen, um dann Aussagen über diese als Gruppe zu treffen. Bei diesen Gemeinsamkeiten muss unterschieden werden, ob es sich um numerische Allgemeine (also eine Eigenschaft wird von den einzelnen geteilt z.B. dass Arbeiter sprechen können) oder ob es sich um ein wesentliches Allgemeines handelt, also eine wesentliche Eigenschaft der betrachteten Gruppe ist (z.B. dass Arbeiter frei von Produktionsmitteln sind). Aus der Analyse der treibenden Gegensätze wird ein wissenschaftlicher Begriff gebildet. Dieser Begriff fasst die gemeinsamen Verhältnisse der Dinge, welche durch den Begriff bestimmt werden. (Siehe dazu Fehler ‘Begriffe nicht begreifen’ und ‘Wesen und Erscheinung verwechseln’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’)

Wie geht Lenin bei der analytischen Aufgliederung seines empirischen Stoffes vor? Er untersucht beispielsweise die Konzentration der Arbeiter und der Produktion zusammen mit ihrem Gegensatz, nämlich der freien, unkonzentrierten Arbeit und Produktion. Im Zuge dieser Konzentration stellt er heraus, dass die kapitalistische freie Konkurrenz abgelöst wird durch die monopolistische Konkurrenz. Gleichzeitig aber “beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte“ (LW 22, S. 270). Lenin entwickelt aus dieser Analyse seinen Begriff der “Monopolkonkurrenz”. Es bilden sich genau wie in der Industrie durch Unterwerfung der kleinen Banken mittels Aufkauf von Aktien und Kreditgewährung auch große Bankinstitute, die das Kapital in sich konzentrieren. Damit liegt zugleich eine neue Rolle der Banken vor, die aus bescheidenen Vermittlern von Kapital zu Monopolinhabern gewachsen sind, die „fast über das gesamte Geldkapital aller Kapitalisten und Kleinunternehmer sowie über den größten Teil der Produktionsmittel und Rohstoffquellen des betreffenden Landes oder einer ganzen Reihe von Ländern verfügen“ (LW 22, S. 214). Die Konzentration der Industrie und die Bildung von Bankmonopolen bewirken eine wesentliche Veränderung der Wechselbeziehungen zwischen den Banken und der Industrie. Auf der einen Seite verschmelzen die Interessen der Banken mit denen der Industrie immer mehr, wenn eine Bank mehrere Großbetriebe finanziert, so ist diese interessiert an einer Monopolvereinbarung. Auf diese Weise verstärken und beschleunigen die Banken den Prozess der Konzentration des Kapitals und der Bildung von Monopolen. Auf der anderen Seite legen die Großbetriebe ihre Profite wiederum als Bank- bzw. Finanzkapital an, da Kapital nie brachliegen darf, aber erst eine bestimmte Summe für neue Innovationen/Produktionsmittel/Aufkauf weitere Betriebe etc. vonnöten ist. Aus seiner Analyse der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital, welche einen Gegensatz darstellen, bildet er den Begriff des Finanzkapitals, um diese neue Erscheinung theoretisch zu fassen.

Was bedeutet das für unsere Klärung der Imperialismusfrage? Im Schritt der Analyse müssen wir darauf achten, dass wir keine zufällige oder willkürliche Aufgliederung vornehmen, sondern dass sie umfassend ist, also alle Seiten des Widerspruchs betrachtet. Wir müssen uns immer deutlich machen, dass wir die Erscheinungen anhand der sie bewegenden Gegensätze aufgliedern, und dass wir die Erscheinungen nach allen Seiten hin untersuchen. Es darf nicht einfach nur ein Aspekt der Erscheinung herausgelöst werden, oder eine Seite des Gegensatzes ignoriert werden. Dieser Weg führt zu Eklektizismus oder Bestätigungsfehlern.

Wenn wir mit den bereits gebildeten Begriffen der Klassiker arbeiten, können wir diese nicht einfach unkritisch verwenden und damit willkürlich Verhältnisse bezeichnen, die sich womöglich längst verändert und neue Entwicklungsformen erreicht haben. Als wissenschaftliche Begriffe fassen sie Verhältnisse. Diese Verhältnisse müssen wir begreifen, um mit ihnen wissenschaftlich arbeiten zu können. Wenn die alten Begriffe die neuen Verhältnisse nicht mehr fassen (was wir nach Schritt 4 bzw. 5 erkennen), müssen wir zunächst verstehen und begreifen, inwiefern sie diese neuen Verhältnisse nicht mehr greifen. Davon ausgehend können wir dann neue Begriffe bilden.

(3) Das „innere Band“: Erforschung der Bewegungsgesetze in ihrem Gesamtzusammenhang (Wesen der Erscheinungen)

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren (MEW 23, S. 27, Hervorhebung von uns).

Im zweiten Schritt haben wir gesehen, wie Marx das empirische Material in seine einzelnen Elemente zergliedert und die Begriffe festgezurrt hat. Um das tun zu können, hat er sie aus ihrer Bewegung heraus gebildet. Jetzt geht es ihm darum, die wesentlichen Bewegungsgesetze herauszufinden, also darum, die “Logik” der Bewegung von Materie aufzuzeigen. Marx hat im zweiten Schritt Begriffe wie “Ware” oder “Klasse” gebildet. Nun gilt es zu verstehen, wie diese einzelnen Begriffe zusammenhängen. Aus der Bewegung dieser Begriffe wiederum kommt er dazu, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise aufzudecken. Mehr noch. Marx deckt nicht nur diese Gesetzmäßigkeiten auf, sondern auch die der menschlichen Geschichte überhaupt. Die chaotisch erscheinende Geschichte der Menschheit bewegt sich also tatsächlich gar nicht chaotisch, sondern nach Gesetzmäßigkeiten. Lenin schreibt dazu: “Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht” (Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile, LW 19, S. 4).

Wie kommt Marx aber von den Begriffen zu den Gesetzen? Zunächst, indem er sich auf die Grundsätze der Dialektik stützt, also die allgemeinen Bewegungsgesetze der Materie und des Denkens in ihrer abstraktesten Form. Diese sind natürlich selbst keine “Konstruktion a priori”, also aus reiner Vernunftanstrengung gewonnene Eingebungen, sondern das Ergebnis eines vorangegangenen Aufsteigens vom Konkreten zum Abstrakten. Das grundlegende Gesetz der dialektischen Bewegung ist das von Kampf und Einheit der Gegensätze. Hierzu haben wir im zweiten Schritt schon gesehen, dass dies die Quelle der Bewegung ist. Zweitens das Gesetz, des Umschlags von Quantität in Qualität, drittens das der Negation der Negation (bzw. der “Aufhebung”), welches Art und Richtung der Entwicklung charakterisiert. Diese drei Grundsätze der Bewegung sind für Marx zentral, um die jeweiligen Entwicklungsgesetze der Menschheit zu finden. Er ermittelt, welches die Gegensätze sind, die sich zueinander in Einheit und Kampf verhalten; welches die möglichen quantitativen und qualitativen Entwicklungen sind, die sich abzeichnen (und abzeichnen können) und wie die negierten Qualitäten in der jeweils höheren Stufe aufgehoben sind. Dabei geht es nicht darum, die abstrakten Grundsätze der Dialektik auf die Wirklichkeit zu projizieren, sondern die wirklichen Gesetzmäßigkeiten aus der wirklichen Bewegung abzuleiten.

Die Bewegungsgesetze alleine zu finden, reicht Marx aber noch nicht. Er stellt sie wiederum zueinander in ein Verhältnis und untersucht ihre Wechselwirkung. Warum? Weil dies notwendig ist, um herauszufinden, welche die bestimmenden Gesetze sind. Er bestimmt die Bewegungsgesetze also im Gesamtzusammenhang. Das bedeutet, dass er alle (gesellschaftlichen) Gesetze betrachtet, wie diese einander beeinflussen, welche Bedingungen für das eine Gesetz notwendig sind, für das andere hinreichend, wie sie sich gegenseitig verstärken oder hemmen etc. (siehe hierzu Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 37-38).

Marx hat im zweiten Schritt Verallgemeinerungen gebildet. Verallgemeinerung bedeutet, das Gemeinsame an den Erscheinungen einer Gruppe zu finden. Das Gemeinsame einer Gruppe kann man durch numerische Verallgemeinerung finden, wenn man feststellt, dass schlichtweg viele Dinge ein gemeinsames Merkmal haben. Im dritten Schritt bei der Erforschung der Entwicklung in ihrem Gesamtzusammenhang, kann Marx nun bestimmen, was das wesentliche Allgemeine ist. Beim wesentlich Allgemeinen geht es dann nicht mehr um die numerische Gemeinsamkeit, sondern um das, was eine Gruppe von Einzelnen als diese Gruppe ausmacht. Ein gängiges Beispiel ist die Charakterisierung der Arbeiterklasse. Allen Arbeitern ist eine Sprachbegabung gemeinsam. Aber das macht Arbeiter als Arbeiter noch nicht aus. Diese Eigenschaft teilen sie auch mit modernen Kapitalisten oder antiken Sklaven. Das Wesentliche Gemeinsame für die Gruppe der Arbeiter ist, dass sie frei von Produktionsmitteln sind und in einem Lohnverhältnis stehen. Erst die Theorie des Gesamtzusammenhangs ermöglicht es, genau zu bestimmen, welche Eigenschaften wesentlich sind und nicht bloß eine willkürlich herausgegriffene Gemeinsamkeit beschreiben.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem alltäglichen Erfahrungswissen, das sich unreflektiert auf die “nackte” Empirie stützt, und der wissenschaftlichen Erkenntnis von Bewegungsgesetzen. Warum wissen wir zum Beispiel, dass jeden Morgen von Neuem die Sonne aufgeht? Auf der Ebene unseres Alltagsverstands wissen wir das einfach, weil es schon immer so war und sich jeden Tag von neuem wiederholt. Die bloße empirische Reproduktion der Wirklichkeit in anderer Form, d.h. in Gedanken, ist für sich genommen noch keine Wissenschaft. Es macht einen großen Unterschied, ob man auch die hinter dieser Erscheinung wirkenden Bewegungsgesetze unseres Sonnensystems verstanden hat. Erst diese Einsicht macht es möglich, z.B. die sich im Verlauf des Jahres ändernde Länge der Tage nicht nur zu beobachten, sondern auch zu erklären. Übertragen auf den Bereich der politischen Ökonomie wäre es zum Beispiel unwissenschaftlich, einfach zu behaupten, dass es im Kapitalismus gesetzmäßig alle 10 Jahre zu einer Krise kommen muss, nur weil sich ein solcher Rhythmus über bestimmte Entwicklungsetappen hinweg empirisch grob beobachten lässt. 

Welche grundlegenden Bewegungsgesetze entdeckt Marx also im Kapital? Auf der elementarsten Ebene, im Kapitel über die Ware, beschreibt Marx die Wirkung des Wertgesetzes, das allen anderen Gesetzmäßigkeiten im Kapitalismus zugrunde liegt. Von diesem allgemeinsten Bewegungsgesetz steigt Marx in seiner Analyse zu den immer komplexeren Formen auf, bis er über die Mehrwerttheorie und die gesetzmäßige Bewegung der Kapitalakkumulation zur Erklärung der periodischen Krisen im Kapitalismus und seiner Theorie über den tendenziellen Fall der Profitrate gelangt. Auf einer noch höheren Abstraktionsebene, die die Gesellschaft als Ganze in den Blick nimmt, gelangt Marx zu seiner Erkenntnis des allgemeinen historischen Bewegungsgesetzes: Der Ablösung einer Gesellschaftsformation durch die nächste liegen die wachsenden Widersprüche zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen zugrunde.

Ein halbes Jahrhundert nach Marx und Engels leistete dann Lenin mit seiner Imperialismusanalyse einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium. Der wesentliche Gesamtzusammenhang des Kapitalismus hat sich seit Marx’ Analyse nicht verändert. Lenin betrachtet aber die von ihm gebildeten Begriffe, Tendenzen und Wirkungen in ihrer Zuspitzung innerhalb des Gesamtzusammenhangs. Er schreibt in der Einleitung zur Imperialismusschrift: “Im folgenden wollen wir versuchen, den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden ökonomischen Besonderheiten des Imperialismus in aller Kürze und in möglichst gemeinverständlicher Form darzustellen.” (LW 22, S. 200). Auch ihm geht es also um den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden Besonderheiten des Imperialismus. Aufbauend auf den wesentlichen Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus widmet er dem Bewegungsgesetz von Konzentration der Produktion das erste Kapitel: “Das ungeheure Wachstum der Industrie und der auffallend rasche Prozeß der Konzentration der Produktion in immer größeren Betrieben ist eine der charakteristischen Besonderheiten des Kapitalismus” (LW 22, S. 200). Lenin arbeitet heraus, dass sich diese Tendenz immer weiter zuspitzt und an der Schwelle zum imperialistischen Stadium des Kapitalismus schließlich einen Kipppunkt erreicht, an dem die quantitative Entwicklung in eine neue Qualität umschlägt. “Vor einem halben Jahrhundert, als Marx sein ‘Kapital’ schrieb, erschien der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen die freie Konkurrenz als ein ‘Naturgesetz’. Die offizielle Wissenschaft versuchte das Werk von Marx totzuschweigen, der durch seine theoretische und geschichtliche Analyse des Kapitalismus bewies, daß die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tatsache geworden” (LW 22, 204).

Die Entstehung des Monopols führt zu einem gigantischen Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Damit wird der Kapitalismus einerseits “überreif” für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und den Sozialismus, gleichzeitig bildet sich eine vorher nicht gekannte gesellschaftliche Macht heraus. “Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‘jüngste Entwicklung des Kapitalismus”’, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist” (LW, 22, S. 211). Die Monopole verstärken zudem den krisenhaften Charakter der kapitalistischen Produktionsweise: “das Monopol, das in einigen Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist” (LW 22, 212). Auf der anderen Seite verstärken aber wiederum die Krisen die Monopolbildung: “Die Krisen – jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht nur diese allein – verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Maße die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol” (LW 22, S. 213).

Damit ist klar, dass im Imperialismus die wesentliche ökonomische Grundlage das Monopol ist (vgl. LW 22, S. 280). In der Erkenntnis des inneren Bandes des Widerspruchs der Vergesellschaftung der Produktion bei privater Aneignung, ist Lenin in der Lage, Prognosen zu tätigen über die weitere Entwicklung: “In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet” (LW 22, S. 209). Er beendet das Kapitel mit dem Satz “Das Monopol ist das letzte Wort der ‘jüngsten Entwicklung des Kapitalismus’” (LW 22, 214). Ein nächsthöheres Stadium des Kapitalismus kann es laut Lenin nicht mehr geben. Er ist am Endpunkt seiner Entwicklung angekommen. Ab jetzt steht der Sozialismus auf der historischen Tagesordnung.

Aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Monopolbildung erklärt Lenin die notwendige Entstehung des Finanzkapitals, die Tendenz zum Kapitalexport und zur Aufteilung der Welt unter die internationalen Kapitalistenverbände und die Großmächte. Das Bewegungsgesetz der ungleichmäßigen Entwicklung macht eine harmonische Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus unmöglich und führt im imperialistischen Stadium zum notwendigen Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Auf dieser Grundlage bestimmt Lenin den Imperialismus als die Epoche der Kriege und Weltkriege und der sozialistischen Revolution. Auf dem Weg des Aufsteigens vom Konkreten zum Abstrakten gelangt Lenin also zu einer allgemeinen Theorie des imperialistischen Weltsystems und seiner inneren Bewegungsgesetze und Entwicklungstendenzen. Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, den Charakter der neuen Kampfetappe zu bestimmen und daraus weitreichende Schlussfolgerungen für die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse und der Kommunisten zu ziehen.

Lenin stellt immer wieder unmissverständlich klar, dass erst das Wesen der neuen Epoche im Gesamtzusammenhang dargelegt werden muss, bevor eine Einschätzung einzelner Entwicklung getroffen werden kann. Es genügt nicht, nur einen Ausschnitt des Systems zu betrachten. Zu richtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Einschätzungen gelangen wir erst, wenn wir über ein „Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen” verfügen (LW 22, S. 193).

Für uns bedeutet dies, dass wir auf der Theorie von Marx, Engels und Lenin aufbauen und die neuen Bewegungen, die wir beobachten, bzw. die neuen Begriffe, die wir bilden, in eben diese Theorie des Gesamtzusammenhangs einordnen. Wenn man sich auf einzelne Bewegungsgesetze stützt, deren Stellung im Gesamtzusammenhang überhaupt nicht klar ist, kann nicht geklärt werden, ob man es mit einer wesentlichen Entwicklung zu tun hat und in welchem Verhältnis eben jene Entwicklung zu den anderen steht (siehe Fehler ‘Gesamtzusammenhang ignorieren’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’). Diesen Schritt dürfen wir nicht überspringen. Denn bevor wir feststellen, dass sich eine Erscheinungsform desselben Wesens verändert hat, müssen wir das Wesen klar haben.

Zweiter Weg: Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten

(4) Die “wirkliche Bewegung” über das Aufdecken der Mittelglieder darstellen

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden” (MEW 23, S. 27. Hervorhebung von uns).

Das Ziel der marxistischen Wissenschaft ist nicht nur, die abstrakten Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, sondern die Welt, wie sie sich konkret darstellt, verstehen, erklären und verändern zu können. Um die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu verstehen, muss das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Zufällige mit dem Notwendigen, die Erscheinung mit dem Wesen zusammengebracht werden. Was heißt das und wie funktioniert das?

Im dritten Schritt hat Marx die wesentlich-allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus in ihrem theoretischen Gesamtzusammenhang dargelegt. Dies ist die Voraussetzung dafür, von hier aus nun “die Reise wieder rückwärts anzutreten”, bis der Aufstieg von den “abstrakten Bestimmungen” zur “Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens” abgeschlossen ist (Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 21-22). Denn: “Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist” (Marx: Das Kapital Bd. 3, MEW 25, S. 120).

Es geht hier also darum, die gedankliche Abstraktion wieder mit den Erscheinungen zusammenzubringen. Also die Einheit von Wesen und Erscheinung in der spezifisch-konkreten Anschauung. Die spezifisch-konkrete Darstellung der Welt besteht in der Einheit von Wesen und Erscheinung, also der Erkenntnis, wie sich das Wirken der allgemeinen Bewegungsgesetze in der Wirklichkeit ausdrückt.

Wir haben bereits gesehen, dass das Wesen der sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich ist. Ist es allerdings einmal abstrakt-allgemein erkannt, können wir untersuchen, wie es sich ausdrückt. Die “wirkliche Bewegung”, die es nun darzustellen gilt, ist das Wirken der allgemeinen Bewegungsgesetze auf Ebene der konkreten Erscheinungen, vermittelt über “eine lange Reihe von Mittelgliedern” (Marx: Kapital 1, MEW 23, S. 179). Oder anders gesagt: Die allgemeinen wesentlichen Bewegungsgesetze brechen sich Bahn in einer langen Reihe von Mittelgliedern (Vermittlungsschritten). Diese Mittelglieder müssen aufgedeckt und in ihrer Wirkungsweise verstanden werden. Es gilt also, die Wechselwirkungen und Erscheinungsformen aufzudecken, die von den wesentlich-allgemeinen Gesetzen hervorgebracht werden. Wir haben bereits gesehen, dass sich wissenschaftliche Begriffe dadurch auszeichnen, dass sie die Gegensätze fassen, die eine bestimmte Entwicklung voranbringen. Jetzt geht es uns darum, was die Erscheinungsformen sind, die diese Entwicklung annehmen kann.

Den Weg des Aufsteigens von den abstrakten Bewegungsgesetzen zur wirklichen Bewegung tritt Marx in seinem unvollendet gebliebenen dritten Band des ‘Kapitals’ an. Dort schreibt er: “Im ersten Buch wurden die Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische Produktionsprozeß, für sich genommen, darbietet, als unmittelbarer Produktionsprozeß, bei dem noch von allen sekundären Einwirkungen ihm fremder Umstände abgesehn wurde. […] Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. […] Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten” (MEW 25, S. 33). “Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist” (MEW 25, S. 120).

Was wir uns unter diesen Vermittlungsschritten vorstellen können, lässt sich anhand einiger Beispiele verdeutlichen. Erstes Beispiel: Der Wert der Waren tritt an der empirischen Oberfläche nie in Reinform, sondern immer nur vermittelt über den Preis in Erscheinung. Der Preis ist in der Regel nicht identisch mit der zur Herstellung der Waren “gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit”, sondern verzerrt durch den Ausgleich der Profitrate zur Durchschnittsprofitrate und die Verwandlung des Werts in den Produktionspreis sowie den Mechanismus von Angebot und Nachfrage, die zudem noch von zahlreichen außerökonomischen und relativ zufälligen Faktoren beeinflusst werden können (Lieferengpässe, Naturkatastrophen, plötzliche Modeerscheinungen etc.). Ohne diese Vermittlungsglieder zu kennen und konkret analysieren zu können, erscheint es so, als bestünde zwischen dem abstrakten Wertgesetz und der wirklichen Bewegung, in der es zum Ausdruck kommt, ein logischer Widerspruch. Der Preis weicht ständig vom Wert ab, er scheint nicht Ausdruck des Werts zu sein, sondern das quasi zufällige Produkt des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage.

Zweites Beispiel: Ausbeutung fasst den Gegensatz von Kapital und Arbeit. Ausbeutung sehen wir aber erstmal nicht. Sondern Ausbeutung nimmt verschiedene Formen an, in denen sie erscheint. Damit aber eine Einheit dieser Gegensätze verwirklicht werden kann, bedarf die ökonomische Form der Ausbeutung der durch den Staat und seiner Macht gesetzten Rechtsform. Die Rechtsform, die das ungleiche Gegensatzpaar von Arbeit und Kapital sich vor dem Recht als Rechtssubjekte; als Freie und Gleiche, begegnen lässt. So nimmt Ausbeutung über die Rechtsform (Wechselwirkung von Ökonomischem und Politischem) die Erscheinungsform des Arbeitsvertrages an. Der Gegensatz in der ökonomischen Form wird über die Rechtsform vermittelt zum Arbeitsvertrag. Am Arbeitsvertrag selbst sehen wir die Ungleichheit von Arbeiter und Kapitalisten erstmal nicht mehr, denn sie begegnen sich als Rechtssubjekte, die scheinbar freiwillig einen Vertrag auf Augenhöhe – als Gleiche – schließen. Dass der Arbeitsvertrag allerdings eine Erscheinungsform, ein Ausdruck von Ausbeutung ist, können wir nur erkennen, wenn wir vorher die allgemein-abstrakten wesentlichen Gesetze erkannt haben. Bürgerliche Wissenschaftler sehen das Wesentliche der heutigen Gesellschaft in der individuellen Freiheit und Vernunft. Darum verstehen Sie den Arbeitsvertrag auch als Ausdruck von genau dieser Freiheit und Vernunft. Wir als Marxisten sehen, dass diese Erscheinungsform, also der Arbeitsvertrag, ein Ausdruck der Ausbeutung ist, der aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit in seiner “Vermittlung” bzw. Wechselwirkung mit dem Politischen resultiert.

Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass es im Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten um zweierlei geht, das nicht unabhängig voneinander oder als einseitig mechanisches Kausalverhältnis verstanden werden kann. Nämlich einerseits die konkret historische Untersuchung der Wechselwirkung von Basis und Überbau; von Ökonomischem mit Politischem und Ideologischem; also wie die Ebenen zusammenspielen und sich gegenseitig “vermitteln”, wie die Rechtsform also die Einheit des ökonomischen Gegensatzes vermittelt und so weiter. Andererseits darum, welche Erscheinungsformen diese konkret historisch annehmen. So ist der Arbeitsvertrag eben eine konkret-historische Erscheinungsform davon. Eine andere kann eine Scheinselbständigkeit sein, bei der der Arbeiter Rechnungen schreibt.

Diesen Zusammenhang können wir uns auch anders, in einem dritten Beispiel, erschließen. Wir haben in Schritt 2 und 3 schon gesehen, dass ökonomische Gesetze von Verhältnissen zwischen Personen oder Klassen handeln. Diese Verhältnisse erscheinen allerdings an Dingen. Zur Erinnerung: “Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge”(Rezension zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475f). Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist beispielsweise erscheint als Arbeitsvertrag und Lohnzettel. Es wird dadurch praktisch wirksam, dass der Arbeiter an jedem Werktag in die Fabrik geht und dort für eine vereinbarte Dauer seine Arbeitskraft verausgabt. Der Fabrikbesitzer zahlt ihm umgekehrt am Monatsende seinen Lohn aus. Aber genauso wenig, wie der Ware ihr Wert, ist dem Arbeiter seine Stellung zu den Produktionsmitteln an der Nasenspitze anzusehen. Diese ist ein gesellschaftliches Verhältnis, keine stoffliche Eigenschaft des Arbeiterkörpers. Und dennoch “verdinglicht” sich dieses Verhältnis über zahlreiche Mittelglieder als materielle Lebenswirklichkeit. Die Stellung im Produktionsprozess und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung führt, vermittelt über die Höhe des Lohns, den Preis der Konsumgüter etc. zu einem bestimmten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, dieser wiederum zu bestimmten Einschränkungen der Konsummöglichkeiten, einem bestimmten Bildungsstand, Wohnort, sozialen Milieu, Sozialisierung usw. Und was am Ende dieses komplexen Vermittlungsprozesses herauskommt, ist eben doch ein Mensch, dem auf der Straße in der Regel jeder ansieht, dass er Arbeiter und eben nicht ein steinreicher Fabrikbesitzer ist.

Die Allgemeinen Bewegungsgesetze und ihre einzelnen Erscheinungen stehen nicht in einem mechanischen Verhältnis nach dem Motto “die Ökonomische Seite gibt den Input A, also sehen wir Erscheinung B, auf politisch-ideologischer Ebene C”. Sondern sie stehen zueinander in einer komplexen Wechselwirkung. Engels beschreibt das so: “Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf dieökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. Der Staat z.B. wirkt ein durch Schutzzölle, Freihandel, gute oder schlechte Fiskalität […] Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, sosehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch in letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden. […] Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht ebendeswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Die Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. […]

Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft. (Brief an W. Borgius, MEW 39, S. 206-207.)

In diesem Schritt müssen also die einzelnen Elemente so verbunden werden, dass die gedankliche Synthese (also das Zusammenführen; die Einheit der Dinge) dem objektiven Gesamtzusammenhang entspricht. Dies ist nur möglich, wenn die Bedingtheit der einzelnen Elemente durch andere richtig gefasst wird; denn nur so können wir Ursache und Wirkung richtig begreifen und Tendenzen erkennen. Dieses Vorgehen erlaubt uns, Prognosen und Aussagen über die zentrale Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs zu geben. Das bedeutet, Wesentliches von Zufälligem unterscheiden zu können, zu erkennen, wie und in welchen konkreten historischen Erscheinungen (Krisen, Kriege, etc.) die Bewegungsgesetze des Kapitalismus gesellschaftlich wirken und welche langfristigen Tendenzen sich abzeichnen.

Lenin gibt in seiner Kritik an Kautskys Ultraimperialismustheorie ein gutes Beispiel dafür, wie nur aus Perspektive der konkreten Wechselwirkung der Bewegungsgesetze und Erscheinungen im Gesamtzusammenhang die richtige Analyse einer gegebenen historischen Situation und der in ihr angelegten Entwicklungstendenzen möglich ist. Er schreibt: “Urteilt man abstrakt-theoretisch, so kann man zu dem Schluß kommen, zu dem Kautsky […] denn auch gelangt ist: daß es nämlich nicht mehr sehr lange dauern werde, bis sich diese Kapitalmagnaten im Weltmaßstab zu einem einzigen Welttrust zusammenschlössen, der dann die Konkurrenz und den Kampf der staatlich getrennten Finanzkapitale durch die internationale Vereinigung des Finanzkapitals ersetzen würde. […] Läßt sich indes bestreiten, daß abstrakt eine neue Phase des Kapitalismus nach dem Imperialismus, nämlich ein Ultraimperialismus, ‘denkbar’ ist? Nein. Abstrakt kann man sich eine solche Phase denken. Nur bedeutet das in der Praxis, daß man zu einem Opportunisten wird, der die akuten Aufgaben der Gegenwart leugnet, um sich Träumen von künftigen, nicht akuten Aufgaben hinzugeben. In der Theorie heißt das, sich nicht auf die in der Wirklichkeit vor sich gehende Entwicklung zu stützen, sondern sich um dieser Träume willen nach Gutdünken von ihr abzuwenden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, ausnahmslos alle Unternehmungen und ausnahmslos alle Staaten verschlingenden Welttrust verläuft. Doch diese Entwicklung erfolgt unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen – keineswegs nur ökonomischen, sondern auch politischen, nationalen usw. usf. -, daß notwendigerweise, bevor es zu einem einzigen Welttrust, zu einer ‘ultraimperialistischen’ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unweigerlich bersten muß, daß der Kapitalismus in sein Gegenteil umschlagen wird” (Vorwort zu Bucharin, LW 22, S. 103-106).

Kautskys These lautete also, die Tendenz zur Zentralisation, Konzentration und Monopolbildung müsste zum Zusammenschluss aller Monopole in einem “Welt-Trust” und einem Bündnis aller imperialistischen Staaten führen. Lenin kritisiert Kautsky dafür, dass er unzulässigerweise eine einzelne Entwicklungstendenz und die zugrundeliegenden Bewegungsgesetze (Konzentration, Zentralisation, Monopolbildung) “abstrakt-theoretisch” verallgemeinert, ohne ihre Wechselwirkung mit anderen Faktoren und Tendenzen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Hier zeigt Lenin auf, dass eine abstrakt-theoretische Einschätzung die tatsächliche Entwicklung der Wirklichkeit nicht fassen kann. Denn die Konkurrenz zwischen Monopolen kann immer auch über die politische Vermittlung die Erscheinungsform des Krieges annehmen, wie uns beispielsweise der Erste und Zweite Weltkrieg gezeigt haben. Denkt man sich die Mittelglieder und historischen Erscheinungsformen der ökonomischen Tendenzen weg, dann wird es nicht gelingen, die tatsächliche Entwicklung der Wirklichkeit zu prognostizieren und handlungsfähig zu werden.

Lenin kritisierte zu seinen Lebzeiten aber nicht nur die falschen Imperialismusanalysen anderer Theoretiker, sondern stellte auch eigene Prognosen über die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems auf. Im Gegensatz zu den Anhängern der Ultraimperialismustheorie ging er nicht von einer Abschwächung, sondern einer Verschärfung der zwischenimperialistischen Konkurrenz aus. Aus dem Wirken des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung schlussfolgert er, dass es unvermeidlich zu Kriegen kommen muss: Als Folge von Konzentration und Zentralisation bildet sich, wie Lenin herausgearbeitet hat, das Finanzkapital als Einheit (“Verschmelzung”) der Gegensätze Bank- und Industriekapital heraus. Die konkrete Erscheinungsform dieser Einheit ist die Herausbildung von Aktiengesellschaften, die als juristische, historische Form heutzutage am geeignetsten ist, den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und Kapital bei privater Aneignung innerhalb der kapitalistischen Schranken zu gewährleisten. Die ökonomische Aufteilung der Welt unter die internationalen Monopolistenverbände kann aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung nur vorübergehend zu einer Einigung führen und mündet zwangsläufig in kriegerische Auseinandersetzungen. Dieses Beispiel zeigt uns, dass wir die Entwicklungen immer im Gesamtzusammenhang betrachten müssen.

Ein “anschaulicher Gradmesser” als Erscheinungsform davon sind bei Lenin die Eisenbahnnetze, die in ihrer ungleichmäßigen Verteilung und Entwicklung das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ausdrücken. “Verteilung des Eisenbahnnetzes, die Ungleichmäßigkeit dieser Verteilung, die Ungleichmäßigkeit seiner Entwicklung – das sind Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmaßstab. Und diese Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind” (Imperialismus als höchstes Stadium, LW 22, S. 194). Resultat aus ihrer zu einem Zeitpunkt gegebenen ungleichen Verteilung und der ungleichmäßigen Entwicklung des Eisenbahnnetzes, die aufgrund von Konkurrenz in der Akkumulation zu Drang nach Expansion führen, ist die Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege zwischen Staaten.

Wollen wir diesen Schritt vollziehen, müssen wir uns deutlich machen, wie die ökonomischen Entwicklungen mit dem Überbau in Wechselwirkung stehen. Außerdem müssen wir uns anschauen, welche Erscheinungsformen Ausdruck welcher Entwicklungen sind.

Wir müssten beispielsweise deutlich machen, wie sich aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten in ihrer Wechselwirkung multipolare oder unipolare Strukturen im imperialistischen Weltsystem ergeben. Wir müssten untersuchen, wie sich das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ausdrückt und wie dies in Wechselwirkung mit politischer und militärischer Macht steht, um die Machtverhältnisse zwischen Staaten oder “imperialistischen Polen” wissenschaftlich einordnen zu können. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung drückt sich in der kontinuierlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Staaten des Weltsystems aus.

Wir sind der Meinung, dass die ökonomische zwischenimperialistische Konkurrenz, die sich aktuell in der Ukraine kriegerisch entlädt, ein Ausdruck des Kampfes um die Kontrolle kritischer Infrastruktur wie Kommunikation, Strom, die Verteilung von Pipelines, die Zugänge zu Häfen etc. und damit Ausdruck des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung ist. Dies gilt es aber für uns in der kommenden Legislatur nachzuweisen bzw. grundlegender zu erforschen, indem wir die Mittelglieder und die Erscheinungsformen, die für den heutigen Imperialismus relevant sind, aufdecken.

(5) Praktisch empirische Verifizierung an der Wirklichkeit

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen” (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 533. Hervorhebung von uns).

Im vorangegangenen Analyseschritt ging es darum, durch die Erkenntnis der allgemeinen Bewegungsgesetze und der verschiedenen Mittelglieder die “wirkliche Bewegung” der Erscheinungen theoretisch zu durchdringen. Damit stehen wir im nächsten Schritt nun vor der Herausforderung, diese theoretischen Aussagen anhand der wirklichen, empirisch konstatierbaren Entwicklung der Welt zu bestätigen. Dabei dient uns die Praxis als Kriterium der Wahrheit. Jeder Schritt der Analyse, so schreibt Lenin, muss “durch die Tatsachen resp. durch die Praxis” überprüft werden (Plan der Dialektik (Logik) Hegels, LW 38, S. 319). Aber wie geht das?

Zunächst ist der Begriff der Praxis weiter zu fassen, als bloß individuelle “menschliche Tätigkeit” oder “politische Praxis”. In der marxistischen Wissenschaft hat der Begriff der Praxis mindestens eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezeichnet Marx gesellschaftliche Praxis im Sinne des “blinden” Wirkens der ökonomischen Bewegungsgesetze, die den objektiven historischen Prozess vorantreiben. “Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen” (Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 115). Gleichzeitig sind alle gesellschaftlichen Verhältnisse aber nicht nur “überliefert”, sondern immer auch selbst Produkt der historisch-gegenwärtigen menschlichen Praxis. Die gesellschaftliche Entwicklung folgt keinem Plan, sondern wird hervorgebracht durch die Gesamtheit der handelnden Individuen, die in der Regel nur ihren individuellen Zwecken folgen. Es ist dieser blinde Prozess, durch den sich, wie Marx immer wieder betont, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten letztlich “hinter dem Rücken” der Menschen durchsetzen, d.h. durch ihr eigenes Handeln, aber unabhängig von ihrem Willen (siehe z.B. MEW 25, S. 880). Niemand verfolgt das bewusste Ziel, durch das eigene Verhalten zur Herausbildung des Durchschnittspreises auf dem Markt oder den Ausbruch einer Krise beizutragen, und doch ist im Kapitalismus beides unvermeidlich. In diesem Sinne wird die “eigene Tat des Menschen”, unser “eigenes Produkt” zu einer “sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht” (Marx/Engels: Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33). Die eine Seite des Praxisbegriffs bezeichnet also diesen objektiven Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Die andere Seite des Begriffs bezeichnet das bewusste und kollektive Handeln der Klassen im Klassenkampf, insbesondere der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde. Auch diese Praxis wird erst auf Grundlage der ökonomischen Bewegungsgesetze hervorgebracht und gesellschaftlich wirksam, aber nicht blind, sondern als “subjektiver Faktor”, d.h. als kollektives Handeln, das ein bestimmtes Maß an Bewusstsein und Einsicht in die wirklichen Verhältnisse voraussetzt. Wie genau erweist sich hier nun die praktische Wahrheit unserer theoretischen Annahmen? Indem sie sich im Klassenkampf bewähren, also der praktische Beweis erbracht wird, dass unsere strategischen und taktischen Annahmen richtig und dass unsere Losungen geeignet sind, subjektiv die Massen zu ergreifen und die sozialistische Revolution zu befördern, anstatt Illusionen zu schüren und die Bewegung von ihrem zuvor richtig erkannten sozialistischen Ziel abzubringen.

Die Naturwissenschaften stützen sich auf Experimente, mit deren Hilfe theoretisch postulierte Gesetzmäßigkeiten relativ eindeutig nachgewiesen oder falsifiziert werden können. Im Labor können alle Einflussfaktoren konstant gehalten werden, sodass klar bestimmt werden kann, dass unter gleichbleibenden Bedingungen immer ein bestimmtes Ergebnis eintritt. Verändert man die Bedingungen, kann man sehen, dass ein anderes Ergebnis eintritt. In der Entwicklung der Gesellschaft ist das nicht so einfach. Hier können kaum Experimente durchgeführt werden. In der Gesellschaftswissenschaft kann die Theorie also nur dadurch verifiziert werden, dass (1.) theoretische Prognosen über die Entwicklung der Wirklichkeit (z.B. das regelmäßige Auftreten von Krisen oder die Herausbildung von Monopolen) empirisch messbar eintreten und sich damit als wahr erweisen, also die Erforschung von Geschichte und Gegenwart das Wirken der theoretisch postulierten Bewegungsgesetze bestätigt; oder (2.) eine aus der Theorie abgeleitete politische Praxis sich als wirksam im Sinne der Zielsetzung der sozialistischen Revolution und damit als richtig bewährt.

Auch innerhalb der Gesellschaftswissenschaften gibt es unterschiedliche Wissensbereiche, die der exakten empirischen Untersuchung unterschiedlich gut zugänglich sind. Die Arbeitslosenquote oder das BIP zum Beispiel, sind empirisch exakt und objektiv konstatierbar, auch wenn die Art der Erhebung unterschiedlich und selbst schon durch den Klassenkampf bedingt ist. Die Bereitschaft der Arbeiter, einen Generalstreik durchzuführen, hängt dagegen von zahlreichen subjektiven Faktoren ab, die im politischen Tagesgeschehen ständigen Veränderungen unterworfen sind und nicht zuletzt durch das Handeln der Kommunisten aktiv beeinflusst werden etc. Hier sind die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde zugleich Subjekt und Objekt ihrer eigenen Erkenntnis und das Bewusstsein der handelnden Menschen wirkt unmittelbar auf die Bedingungen ihres Handelns zurück (Wechselwirkung), was eine objektiv-empirische Analyse der Situation verkompliziert. 

In diesem Schritt gilt es, wie Lenin warnt, Folgendes zu beachten: “Da aber das Kriterium der Praxis – d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten – nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier von ‘Dogmatismus’ der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlußfolgerung aus der von den Marxisten vertretenen Auffassung, daß die Theorie von Marx eine objektive Wahrheit ist, besteht im folgenden:

Auf dem Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit” (Materialismus und Empiriokritizismus, LW 14, S. 138).

Das heißt erstens, dass die Praxis als Kriterium der Wahrheit nicht willkürlich und bruchstückhaft verstanden werden darf. Man darf sich nicht auf die Ausnahmen stützen, sondern muss die allgemeine Entwicklung in ihrer Widersprüchlichkeit betrachten. Sonst führt auch dies wieder zu falschen Verallgemeinerungen wie bei Schritt 1, der Empirie. Auch die Praxis muss in ihrem Gesamtzusammenhang erfasst werden. Zweitens heißt das, dass es zwar objektive Wahrheit gibt, wir uns dieser aber immer nur relativ annähern – und zwar mit der dialektisch-materialistischen Methode. Entsprechend sollten wir auch Praxis als Kriterium der Wahrheit nicht als Absolutum fassen, sondern als Kriterium, mit dem wir uns der Wahrheit immer mehr annähern. Objektive Wahrheit in ihrer Absolutheit ist niemals zu erreichen. Die Praxis als Kriterium der Wahrheit anzulegen, bedeutet dann, dass man sich ihr relativ annähert, indem man die generierte Theorie über die Entwicklung der Welt fortwährend an der realen Entwicklung misst.

Die Einheit von Theorie und Praxis muss also schon in der wissenschaftlichen Methode des Marxismus verwirklicht sein. Die Theorie kann nicht losgelöst von der Praxis existieren oder dieser nur äußerlich als Beraterin zur Seite treten, sondern beide bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Die Praxis wirft die brennenden Fragen der Theorie auf und erzeugt permanent das Erfahrungsmaterial, ohne das sich wiederum die Theorie nicht lebendig entwickeln kann. Umgekehrt gibt überhaupt erst die Theorie der Praxis eine Richtung und ein Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Wirkungsbedingungen. “Natürlich wird die Theorie gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet” (Stalin: Grundlagen des Leninismus, SW 6, S. 79).

Marx hatte bereits im dritten Band des ‘Kapitals’ aufgezeigt, dass es zur Monopolbildung kommen wird. Diese Prognose – angestellt auf Basis der Entwicklungsgesetze – bestätigt Lenin empirisch: “Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens” (LW 22, S. 204-205).

Wir haben bereits gesehen, dass Lenin davon ausging, dass es in der Epoche des Imperialismus immer wieder zur Neuaufteilung der Welt kommen müsse, also zu zwischenimperialistischen Kriegen um Territorien, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Handelswege etc. Darüber hinaus stellte Lenin die These auf, dass ökonomische Krisen im Imperialismus zunehmend den Charakter von Weltkrisen und Kriege zwischen Großmächten den Charakter von Weltkriegen annehmen müssten. Diese These bestätigte sich spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der unmittelbar auf diesen folgende Weltwirtschaftskrise in der Praxis. Lenin untermauerte seine theoretischen Positionen mit zahlreichen empirischen Analysen über die konkreten Entwicklungen seiner historischen Gegenwart. Außerdem zog Lenin aus seinen theoretischen Analysen (nicht nur zum Imperialismus) zahlreiche konkrete Schlussfolgerungen für die unmittelbare politische Praxis der Arbeiterbewegung und der Kommunisten. Zum Beispiel, dass eine Kaderpartei notwendige Voraussetzung für die Eroberung der Macht war; dass die Kommunisten in einem zwischenimperialistischen Krieg in jedem Land für die Niederlage der eigenen Regierung und die Revolution kämpfen müssten; dass die Revolution in der Epoche des Imperialismus nicht unbedingt zuerst in den am meisten fortgeschrittenen Ländern, sondern am “schwächsten Kettenglied” des Weltsystems ausbrechen würde; dass dort der Aufbau des Sozialismus in einem Land möglich sei; dass die Arbeiterbewegung der imperialistischen Länder “natürliche Verbündete” in den antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen finden würde etc.pp. Lenins Annahmen bestätigten sich in der Praxis der Klassenkämpfe seiner Zeit. Die Geschichte gab ihm Recht.

Für unsere Klärung bedeutet dies, dass die Aussagen und Prognosen, die wir über die Wirklichkeit machen, logisch widerspruchsfrei aus unserer Theorie über den Gesamtzusammenhang abgeleitet sein müssen. Unsere Thesen müssen theoretisch begründete, klare Aussagen treffen, die anhand der empirischen Wirklichkeit überprüfbar sind.

Aus unserer theoretischen Analyse müssen wir strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Klassenkampf ableiten. Die Richtigkeit unserer Strategie und Taktik ist keine rein theoretische, sondern eine praktische Frage. Ist sie geeignet, subjektiv die Massen zu ergreifen und objektiv die sozialistische Revolution zu befördern, anstatt Illusionen zu schüren und die Bewegung von ihrem Ziel abzubringen? Das muss ständig an den praktischen Erfahrungen im Klassenkampf überprüft und mit der Theorie rückgekoppelt werden. In unseren Programmatischen Thesen schreiben wir dazu: “Sie [die strategischen Eckpunkte] genauer auszuführen, durch die Entwicklung der geeigneten Organisations- und Kampfformen und einer entsprechenden Taktik zu konkretisieren und immer wieder an unseren Erfahrungen zu überprüfen, wird Aufgabe des Klärungsprozesses der nächsten Jahre sein” (Programmatische Thesen, S. 23-24).

Die Prognosen, die wir aufstellen, dienen uns also, um unser Handeln daran zu orientieren, um der Rolle als Avantgarde der Arbeiterklasse gerecht werden zu können. Wenn man Praxis allerdings einseitig als individuelle Tätigkeit oder nur als unsere politische Praxis als KO (und nicht auch als die wirkliche historische Entwicklung der Welt) versteht, dann kommt man zu irrigen Auffassungen darüber, was es bedeutet, dass die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist. Für uns bedeutet dies, dass wir die tatsächliche Entwicklung der Welt nicht mit dem tatsächlichen Bewusstsein der Massen verwechseln dürfen als den Prüfstein für die Wahrheit. Denn wenn wir beispielsweise mit der Parole herausgehen, dass der Krieg im Interesse der Arbeiterklasse sei, und die Massen uns zustimmen und uns folgten, dann sagt diese Tatsache nur etwas über das Bewusstsein der Massen aus und nicht über die Richtigkeit unserer Analyse oder die Effektivität unserer Propaganda. Das heißt also noch nicht, dass der Krieg selbst objektiv im Interesse der Arbeiterklasse ist.

(6) „Der Marxismus ist kein Dogma“: Weiterentwicklung der Theorie entsprechend der wirklichen Entwicklung

“Gerade weil der Marxismus kein totes Dogma, nicht irgendeine abgeschlossene, fertige, unveränderliche Lehre, sondern eine lebendige Anleitung zum Handeln ist, gerade deshalb mußte er unbedingt den auffallend schroffen Wechsel der Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens widerspiegeln (Lenin, Über einige Besonderheiten, LW 17, S. 26-27, Hervorhebung von uns).

Der letzte Schritt der wissenschaftlichen Methode ist die ständige Prüfung und gegebenenfalls Weiterentwicklung der gewonnenen Theorie anhand des immer neuen empirischen Stoffs. Der Marxismus ist keine fertige Sammlung einmal entdeckter, ewig gültiger Wahrheiten, sondern das methodische Werkzeug, um zu einer lebendigen Theorie der Gesellschaft in ihrer dialektischen Bewegung zu kommen. In dem Maße, in dem sich die inneren und äußeren Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens verändern, müssen sich diese Veränderungen auch in der Theorie widerspiegeln. Dies ist nur möglich, indem sich der Marxismus das in ständiger Veränderung befindliche empirische Material der Wirklichkeit immer wieder von neuem aneignet. Jede neue Erkenntnis wird früher oder später durch die wirkliche Entwicklung eingeholt, jede einmal gefundene Antwort wirft selbst wieder neue Fragen auf. Die wissenschaftliche Erkenntnis kann demnach kein einmal durchlaufener und dann abgeschlossener, sondern nur ein kontinuierlicher, immer wieder auf höherer Stufe zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrender Prozess sein.

Die “jetzige Gesellschaft” schreibt Marx im Vorwort zur ersten Auflage von ‘Das Kapital’, ist “kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus” (MEW 23, S. 16). Wir haben bereits erwähnt, dass Marx im dritten Band selbst schon darstellt, wie sich die ersten Monopole, die Börse und das Finanzkapital herausbilden. Er beobachtete also, wie sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz, getrieben durch seine eigenen Bewegungsgesetze, zum Monopolkapitalismus weiterentwickelte. Es wäre fatal und unwissenschaftlich gewesen, hätte er diese Entwicklungen ignoriert oder als unwesentlich abgetan, um stattdessen auf seiner Beschreibung des Kapitalismus der “freien Konkurrenz” als ewig gültige Wahrheit zu beharren. Marx hat seine theoretischen Erkenntnisse ein Leben lang immer wieder anhand der neuesten empirischen Entwicklungen überprüft und schreckte dabei nie davor zurück, einmal aufgestellte Thesen zu korrigieren und auf neu erscheinende Probleme neue theoretische Antworten zu geben.

Lenin knüpfte in diesem Sinne konsequent an Marx’ Vorbild an, gerade indem er, wenn man so will, bestimmte Annahmen, die Marx anhand seiner Analyse des Kapitalismus der freien Konkurrenz entwickelt hatte, “revidierte” und für die Epoche des Imperialismus auf eine neue Stufe hob. Diese “Revision” stand aber nicht im Widerspruch zu den durch Marx aufgedeckten Bewegungsgesetzen, sondern war deren konsequente und notwendige Weiterentwicklung und damit die Bestätigung ihrer Richtigkeit. Lenin hat also nicht einfach einmal verkündete Wahrheiten schablonenartig auf die Wirklichkeit übertragen, sondern darauf bestanden, dass die tatsächliche Veränderung dieser Wirklichkeit sich in der Theorie widerspiegeln müsse und hat damit die Bewegungsgesetze weiterentwickelt. Das unterschied ihn vom Großteil der scheinbar orthodoxen “Marxisten” der Zweiten Internationale, die sich an liebgewonnene Dogmen klammerten, anstatt konsequent die marx’sche Methode auf die Verhältnisse ihrer Zeit anzuwenden. Hätte Lenin deren verknöcherten und zu einer toten Lehre erstarrten Marxismus nicht schonungslos auf den empirischen Prüfstand gestellt und entschieden bekämpft, so wäre er nicht nur nie in der Lage gewesen, eine wissenschaftliche Theorie des neuen Stadiums des Kapitalismus zu formulieren, sondern hätte den Bolschewiki und dem russischen Proletariat in der Oktoberrevolution auch nicht die richtige strategische und taktische Orientierung für ihre neue Kampfetappe geben können.

Im zweiten Teil des eingangs angeführten Zitats weist Lenin darauf hin, dass es gerade im Umfeld großer historischer “Zeitenwenden”, wie auch wir sie heute erleben – in Lenins Fall ging es um die Phase zwischen der russischen Revolution von 1905 und dem Vorabend des Ersten Weltkriegs – ausgesprochen typisch ist, dass es auch zu tiefen Krisen der Arbeiterbewegung und ihrer Ideologie kommt: “Als Widerspiegelung dieses Wechsels traten tiefgehender Zerfall, Zerfahrenheit, alles mögliche Wanken und Schwanken, mit einem Wort – eine sehr ernste innere Krise des Marxismus in Erscheinung. Die entschiedene Abwehr dieses Zerfalls, der entschlossene und hartnäckige Kampf für die Grundlagen des Marxismus trat wieder auf die Tagesordnung” (LW 17, S. 27). Nichts anderes erleben wir seit dem 24. Februar 2022 schmerzhaft am eigenen Leib. Die ohnehin chronische Krise der kommunistischen Bewegung ist schlagartig akut geworden. Die Verteidigung der Grundlagen des Marxismus drängt sich als Überlebensbedingung für unsere Bewegung auf die historische Tagesordnung.

Aber solche akuten Krisen haben immer eine Vorgeschichte, eine Inkubationsphase. Viele Genossen, so beschreibt Lenin weiter, “hatten sich in der vorhergehenden Epoche den Marxismus höchst einseitig und entstellt angeeignet, indem sie sich diese oder jene ‘Losungen’, diese oder jene Antworten auf taktische Fragen eingeprägt hatten, ohne die marxistischen Kriterien dieser Antworten begriffen zu haben. Die ‘Umwertung aller Werte’ auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens führte zu einer ‘Revision’ der abstraktesten und allgemeinsten philosophischen Grundlagen des Marxismus. Der Einfluß der bürgerlichen Philosophie in ihren mannigfaltigen idealistischen Schattierungen fand seinen Niederschlag […]. Die Wiederholung der auswendig gelernten, aber nicht verstandenen, nicht durchdachten ‘Losungen’ führte zu einer starken Verbreitung hohler Phrasen, die in der Praxis auf absolut unmarxistische, kleinbürgerliche Strömungen hinausliefen” (LW 17, S. 27). Wir gehen davon aus, dass auch die ideologische Krise, die wir im Augenblick durchleben, eine solche Vorgeschichte hat. Es sind das mangelhafte theoretische Niveau und die über Jahrzehnte vernachlässigte Auseinandersetzung mit dem Revisionismus in den eigenen Reihen und der eigenen Geschichte, die sich jetzt gnadenlos rächen.

Was lernen wir daraus? Der Kampf gegen den Revisionismus und die unwissenschaftliche Verflachung des Marxismus sind permanente Aufgaben und dürfen nicht erst dann angegangen werden, wenn die Krise manifest wird. Wenn wir den Marxismus zu einem “toten Dogma” verkommen lassen, verlieren wir unsere schärfste Waffe im Klassenkampf. Neue empirische Forschungsarbeit ist also immer nötig, soll die Theorie nicht die Berührung zur konkreten Wirklichkeit verlieren. Besonders herausgefordert wird die wissenschaftliche Forschung immer dann, wenn (1.) neue Thesen auftauchen, die im Widerspruch zu unseren bisherigen Annahmen und der Theorie der Klassiker stehen; oder (2.) wir es mit neuen Phänomenen zu tun bekommen, für die wir bisher keine wissenschaftlichen Begriffe haben; oder (3.), wenn die wirkliche Bewegung unseren theoretischen Prognosen zuwiderläuft, diese also praktisch widerlegt.

Wenn heute also auf einmal Genossen behaupten, das gesamte imperialistische Weltsystem werde von einer einzigen Supermacht und deren “Vasallen” beherrscht, es gebe auch im heutigen Monopolkapitalismus noch eine “Kompradorenbourgeoisie” oder der Charakter der russischen Monopole unterscheide sich von denen im Westen, weil sie aus der Konterrevolution gegen den Sozialismus hervorgegangen sind etc., so wären diese Genossen aufgefordert, ihre Behauptungen nicht nur mit der gültigen Theorie in Einklang zu bringen (oder deren Revision zu fordern), sondern auch ihre Behauptungen durch neues empirisches Material zu untermauern. Dasselbe gilt, wenn Genossen behaupten, unsere Programmatischen Thesen wären unzureichend, um den Krieg in der Ukraine fassen zu können.

Für uns bedeutet dies außerdem, dass wir nicht einfach bei der Beschreibung der Welt, wie Marx, Engels und Lenin sie uns hinterlassen haben, stehen bleiben können. Wir müssen beobachten, zu welchen neuen Resultaten das Wirken der uns bekannten Gesetzmäßigkeiten in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Wie kann zum Beispiel das Kolonialsystem auch heute noch zum Wesenskern des Imperialismus gehören – wie einige Genossen behaupten – wo doch Kolonien heute offensichtlich nur noch als historische Ausnahme existieren, der Imperialismus deshalb aber nicht seine Existenz aufgegeben hat? Wir müssen also fragen, ob neue Phänomene und Entwicklungstendenzen entstanden sind, welche Gegentendenzen aufgekommen sein mögen und ob es Verschiebungen in der Wechselwirkung der Bewegungsgesetze gegeben hat. 

Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass wir verstehen müssen, welche Wirkung die Existenz der Sowjetunion auf die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems hatte und welche Dynamiken durch deren Verschwinden ausgelöst wurden. Wir müssen auch verstehen, was es bedeutet, dass es heute keine Kolonien mehr gibt und fast alle Länder der Welt im Stadium des Monopolkapitalismus angekommen sind. Wir werden sehr konkret und empirisch analysieren müssen, wie das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung wirkt und langfristig zum Abstieg alter Großmächte und zum Aufstieg neuer imperialistischer Pole im Weltsystem führt etc.

Was zeichnet die marxistische Theorie aus?

Wir haben uns nun ausführlich mit der marx’schen Methode und deren Anwendung beschäftigt. An dieser Stelle versuchen wir auf den Punkt zu bringen, welche allgemeinen Eigenschaften die marxistische Theorie ausmachen und wie diese untrennbar mit der wissenschaftlichen Methode zusammenhängen.

  • Sie ist dialektisch, d.h. sie stellt die Welt in ihrer widersprüchlichen Bewegung und ständigen Veränderung dar. Dies umfasst die Grundgesetze der Dialektik als Kampf und Einheit der Gegensätze, das Umschlagen von Quantität und Qualität, und die der Negation der Negation. “Sie alle  [die kleinbürgerlichen Demokraten wie auch alle Helden der II. Internationale] nennen sich Marxisten, fassen aber den Marxismus unglaublich pedantisch auf. Das Entscheidende im Marxismus haben sie absolut nicht begriffen: nämlich seine revolutionäre Dialektik” (Lenin: Über unsere Revolution, LW 33, S. 462).
  • Sie ist materialistisch, d.h. sie geht vom Primat der Materie und den wirklichen Lebens- und Produktionsverhältnissen der Menschen aus. Sie fasst die materielle Welt als objektiv auf, geht also davon aus, dass diese außerhalb der Köpfe der Menschen und unabhängig von deren Ideen und Vorstellungen existiert, im Denken aber widergespiegelt werden kann. “Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle” (Marx: Kapital Bd.1, MEW 23, S. 27).
  • Sie ist historisch, d.h. sie analysiert die Wirkung und Wechselwirkung der ökonomischen Bewegungsgesetze in ihrer konkreten Vermittlung als geschichtlicher Prozess. “Wir haben gesehn, daß der kapitalistische Produktionsprozeß eine geschichtlich bestimmte Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses überhaupt ist. Dieser letztere ist sowohl Produktionsprozeß der materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens wie ein in spezifischen, historisch-ökonomischen Produktionsverhältnissen vor sich gehender, diese Produktionsverhältnisse selbst und damit die Träger dieses Prozesses, ihre materiellen Existenzbedingungen und ihre gegenseitigen Verhältnisse, d.h. ihre bestimmte ökonomische Gesellschaftsform produzierender und reproduzierender Prozeß“ (Marx: Kapital Bd. 3, MEW 25, S. 826).
  • Sie ist ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär. Sie stellt sich nicht auf einen abstrakt moralischen Standpunkt außerhalb der Welt, sondern deckt die inneren Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den sie verschleiernden Ideologien auf. Sie akzeptiert die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als naturgegeben und unveränderlich, sondern entschleiert sie als menschengemacht und durch Menschen veränderbar. Der Fokus auf ihre dialektische Entwicklung weist ihre Vergänglichkeit und die Notwendigkeit ihrer (Selbst)aufhebung nach. “Die wahre Kritik […] zeigt die innere Genesis [des Gegenstandes]. Sie beschreibt ihren Geburtsakt. So weist die wahrhaft philosophische Kritik [des Gegenstandes] nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit” (Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 296).
  • Sie ist ihrem Anspruch nach einheitlich und harmonisch, d.h. frei von logischen Widersprüchen über alle Grenzen der Wissensgebiete und Teildisziplinen hinweg. Die marx’sche wissenschaftliche Theorie ist dem Chaos im bisherigen Geschichtsverständnis und -darstellung begegnet und kann darstellen, wie auf Grundlage der Produktivkraftentwicklung, sich andere Gesellschaftsformationen herausbilden: “Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.” (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile, LW 19, S. 4).
  • Sie betrachtet die Bewegungsgesetze und die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Gesamtzusammenhang. Die einzelnen Vorgänge nicht im Gesamtzusammenhang zu betrachten, führt zu metaphysischen Anschauungen der Wirklichkeit. “Aber [die Naturwissenschaft der letzten Jahrhunderte] hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod” (Engels: Anti-Dühring, MEW 20 S. 20).
  • Sie ist prognosefähig. Durch die richtige Widerspiegelung der Wechselwirkung der Bewegungsgesetze im Gesamtzusammenhang, ist die Theorie in der Lage, die “Richtung” der dialektischen Bewegung zu erkennen. Aus der Herausstellung der Entwicklungstendenzen, kommen wir in die Lage, Prognosen über die weitere Entwicklung aufzustellen.
  • Sie ist objektiv, aber parteilich. Unsere Gesellschaft ist in zwei Hauptklassen unterteilt. Es gibt unter diesen Bedingungen keine “neutrale” Position. Es gibt zwar eine objektive, aber keine neutrale Wissenschaft. Die Analyse der wirklichen Verhältnisse und die politischen Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, sind zwangsläufig bestimmt durch die eine oder die andere Klassenperspektive. Der Marxismus steht auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse. Dazu schreibt Lenin: “eine ‘unparteiische’ Sozialwissenschaft kann es in einer auf Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben” (Lenin: Drei Quellen, LW 19, S. 3).

Diese Kriterien müssen auch auf eine Imperialismustheorie auf Höhe der Zeit zutreffen, sonst kann sie weder wahr noch marxistisch sein.

Wie kommen wir vom Weg ab? Revisionismus in der Methode – eine unvollständige Aufzählung…

Wir haben oben die wissenschaftliche Methode dargestellt. In diesem Kapitel möchten wir auf gängige Fehler, Probleme und Missverständnisse eingehen, die mit der wissenschaftlichen Methode verbunden sind. Wir nennen diese Fehler, weil sie uns in der Diskussion um den aktuellen Krieg besonders aufgefallen sind. Diese Fehler sind Symptome eines Revisionismus in der Methode und verschließen uns die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt. Wir verlieren die Möglichkeit, zielgerichtet und organisiert zu handeln. Entsprechend zählen wir diese Fehler hier auf, um aus ihnen zu lernen und unsere wissenschaftliche Arbeit damit auf ein höheres Niveau zu heben. Das Bewusstsein über diese Fehler hilft uns, sie zu erkennen – bei uns selbst und anderen –, um sie nicht zu begehen.

(a) Begriffe nicht Begreifen

Ein Merkmal von Revisionismus in der wissenschaftlichen Methode ist das Nicht-Begreifen von Begriffen.

Was ist eigentlich ein wissenschaftlicher Begriff? Wenn wir von Begriffen sprechen, dann meinen wir nicht die, die wir umgangssprachlich verwenden, wie die Begriffe “Baum” oder “Mensch”. Ein wissenschaftlicher Begriff, wie zum Beispiel der der “Ware”, ist ähnlich allgemein und abstrakt wie der umgangssprachliche, spiegelt aber das Wesen einer Erscheinung wider. Damit ist gemeint, dass ein Begriff die dialektische Bewegung des Gegenstandes erfasst, und damit die Widersprüche, die die Entwicklung des Gegenstandes kennzeichnen. Diese dialektische Bewegung bezieht sich auf das Verhältnis der einzelnen begrifflichen Elemente zueinander und zu ihrer Welt. Solange alles dies, also der Zusammenhang, fehlt, ist mit dem Wort „Baum” wohl eine bestimmte Vorstellung verbunden, der Gegenstand damit aber noch nicht begriffen. Wissenschaftlich gesehen heißt „in einen Begriff fassen”, aber nichts anderes als „begreifen”. “Die Begriffe sind das höchste Produkt des Gehirns, des höchsten Produkts der Materie” (Lenin: Konspekte zur “Wissenschaft der Logik”, LW 38, S. 156). Wissenschaftliche Begriffe sind das “Ergebnis des historisch fortschreitenden Erkenntnisprozesses”. In ihnen ist die jeweils erreichte Stufe der Erkenntnis der Wirklichkeit und ihrer Gesetzmäßigkeiten zusammengefasst. Sie müssen der sich verändernden Wirklichkeit und der sich entwickelnden Erkenntnis der Wirklichkeit entsprechend angewandt und in ihrem Inhalt fortentwickelt werden” (Autorenkollektiv, 1973, S. 104). Dabei ist für uns wichtig, dass ein bloßes Verwenden von Begriffen kein wirkliches Begreifen der objektiven, vom Bewusstsein unabhängigen Realität sicherstellt. Vielmehr müssen wir den Begriffsbildungsprozess in seinen wesentlichen Momenten nachvollziehen.

Im Umgang mit wissenschaftlichen Begriffen ist es unser aller Aufgabe, die Entwicklung des Begriffes nachzuvollziehen, um seinen Inhalt zu verstehen: Lenin bildet aus den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise einen inhaltlich bestimmten Begriff heraus, in unserem Beispiel: das Monopol. Wir müssen also begreifen, warum er genau so gebildet wird, wie er gebildet wird und was unter den Begriff fällt.

Wir betrachten einen wissenschaftlichen Begriff unter der Berücksichtigung der von ihm gefassten Widersprüche. Dies kann man anhand des Begriffs der Ware deutlich machen. Wir kennen das Verständnis der Ware als ein zum Austausch produziertes Gut. Aber der treibende Widerspruch, in dem sich die Ware bewegt, ist der zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, der in der Ware enthalten ist (vgl. Tschinkel, 2013, S. 89). So kommt man beim Verwenden von falschen Analyse-Elementen (hier: Gebrauchswert und Tauschwert) und falschen Verständnissen des Begriffs zu Auffassungen, die nicht den Entwicklungen entsprechen, die der Begriff als wissenschaftlicher Begriff fassen soll.

So können wir auch den für den Imperialismus zentralen Begriff des Monopols verstehen. Das Monopol entsteht aus der Konzentration der Produktion und beinhaltet damit die Zuspitzung der gesellschaftlichen Produktion bei privater Aneignung. Das Monopol entsteht aus der infolge von Konkurrenz der zahlreichen Einzelkapitalisten hervorgegangenen Konzentration der Produktion unter immer weniger Großkapitalisten (somit der Selbstaufhebung der Einzelkapitalisten durch ihr eigenes Tun) und beinhaltet damit diesen Widerspruch. Politisch-ökonomisch spiegelt sich der treibende Widerspruch hinter der Konzentration des Kapitals in den von Marx entwickelten Begriffen konstantes und variables Kapital bzw. der Verschiebung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals wider. Mit steigender Produktivkraftentwicklung wird mehr konstantes und weniger variables Kapital vonnöten. Wenn jetzt aber doch das variable Kapital ausgeweitet wird, wird die Konzentration der Produktion und damit die Entwicklung hin zum Monopol vorangetrieben. Ein Monopol ist es erst, wenn Monopolpreise und -profite erzielt werden können.

Alle Genossen, die sich an der Debatte beteiligen, müssen sich um größtmögliche begriffliche Schärfe bemühen und für Transparenz und Nachvollziehbarkeit sorgen. Dazu gehört, dass man einen Begriff wie z.B. das Monopol als einen wissenschaftlichen Begriff verstehen muss, und ihn nicht zum bloßen Wort im Sinne des Alltagsverständnisses degradiert. Wer neue Begriffe in die Debatte einführt oder klassische Begriffe in einem neuen Sinn oder einem neuen Kontext verwendet, der steht in der Bringschuld, dies auch transparent zu machen und wissenschaftlich zu begründen.

Wenn man also in unserer Debatte einen Begriff wie “abhängiges Monopol” einbringt, wie Klara Bina das tut, (“Ein Weizenmonopol ist zwar ein Monopol, aber im Vergleich zum Finanzkapital, das sich in BlackRock sammelt, ziemlich lächerlich und das ist viel wichtiger – ein abhängiges Monopol.” Bina, 31.03.22), dann muss deutlich gemacht werden, wie dieser wissenschaftlich zu begreifen ist. Sie scheint einen relevanten Unterschied zwischen “unabhängigen” und “abhängigen” Monopolen zu implizieren. Selbst wenn es Sinn ergäbe, von “unabhängigen” oder “abhängigen” Monopolen zu sprechen (wobei uns nicht klar ist, was ein “unabhängiges” Monopol sein soll; zumal auch das Weizenmonopol Finanzkapital ist), dann wüssten wir nicht, warum sich aus dieser Unterscheidung eine relevante Implikation ergäbe. Das Wesen des Monopols, das in dem wissenschaftlichen Begriff gefasst wird, ist dasselbe. Monopole sind in der Konkurrenz immer gezwungen, Profite zu machen, sie unterscheiden sich in ihrer Stärke der Profitrealisierung.

Außerdem gehört zum wissenschaftlichen Umgang mit Begriffen, dass man die Begriffe unserer Klassiker selbst durchdringt. So schreibt Paul Oswald in seinem Diskussionsbeitrag ‘Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen!’ vom 11.04.2022 beispielsweise, der Begriff des Imperialismus sei “kein toter und allgemeiner Begriff, er ist eine konkrete Erscheinungsform”. Das ist offensichtlich falsch. ‘Imperialismus’ ist ein allgemeiner Begriff, dessen Allgemeinheit man sich nicht entledigen kann, indem man ihn als nicht-allgemein deklariert. Im Gegenteil, die Allgemeinheit dieses Begriffes befähigt uns erst dazu, die konkrete Wirklichkeit auf den Begriff zu bekommen, ihre Bewegung und ihr Wesen zu verstehen. Tot und vor allem nutzlos wäre der Begriff, wenn er zum bloßen Wort verkäme, das keine Entwicklung fasst. Zu einem toten Wort wird der Begriff durch Paul Oswald selbst, indem er Aussagen aus Lenins Imperialismusschrift zusammenstückelt, ohne die Bewegung der Gegensätze, die der Begriff fasst, darzustellen. Schlimmer noch: seine “Kritik” am Imperialismusverständnis einer anderen Partei wird zu bloßer Diffamierung, da er nicht nachvollzogen hat, wie diese zu ihren Auffassungen kommen – nämlich aus der Bewegung der Gegensätze, die die Begriffe bei Lenin fassen.

(b) Verwechslung und Trennung von Ökonomischem und Politischem

Eine wichtige Quelle für Revisionismus in der Methode ist, die Ebene des Ökonomischen und des Politischen zu verwechseln und/oder zu trennen.

Lenin hält sich in seiner Untersuchung an die marx’sche Methode. Er untersucht zunächst das ökonomische Wesen des Imperialismus, wohl wissend, dass dieses für sich nur in der wissenschaftlichen Abstraktion existiert. Auch bei Marx behandelt das erste Kapitel des Kapitals nur das Ökonomische: den Warenaustausch und die Entwicklung des Warenaustausches. Am Anfang ist weder von Politik noch von irgendeiner politischen Form oder bereits existierenden gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen die Rede (obwohl diese der entwickelten Warenform historisch notwendig vorausgehen). Lenin zeigt in seiner Arbeit ‘Über eine Karikatur auf den Marxismus’ auf, dass “es im Interesse der Klärung des ökonomischen·Wesens einer Erscheinung notwendig ist, von allen anderen Sphären zu abstrahieren und die ökonomische Seite in ihrer Reinheit zu betrachten. Jede Vermischung z. B. der politischen mit der ökonomischen Sphäre kann dabei nur Verwirrung stiften” (Kumpf, 1968, S. 112). Wie wichtig Klarheit über das Verhältnis von Politischem und Ökonomischen ist, zeigt sich an Lenins Auseinandersetzung mit Kijewski über das Verhältnis von “Imperialismus” und “Selbstbestimmungsrecht der Nationen”. Lenin stellt klar: “Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form”, wobei “zwischen Imperialismus und Demokratie ein Widerspruch besteht”. Lenin macht deutlich, dass es in diesem Verhältnis um “die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen” geht und zeigt auf, dass man unterscheiden müsse, ob „dies ein ,logischer’ Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1) oder zwischen zwei politischen (2) Thesen oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen (3) Erscheinung bzw. These” ist. Da Kijewski das Verhältnis von Ökonomischem und Politischem nicht – bzw. nicht richtig – fasst, kommt er zu der Vorstellung, dass die Selbstbestimmung im Imperialismus nicht realisierbar sei (Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus”, LW 23, S. 37). Wie falsch und fatal diese Vorstellung war, hat nicht nur Lenin, sondern auch die Geschichte gezeigt: Heute gibt es fast ausschließlich politisch selbständige Länder.

Vom ökonomischen Wesen des Imperialismus ausgehen, bedeutet keinesfalls eine Nichtbeachtung der Wechselwirkung, die die ökonomische Basis mit der Politik als Überbau hat. Im Gegenteil, die Ausführungen in Schritt 4 sollten deutlich gemacht haben, dass ökonomische und politische Verhältnisse in Wechselwirkung miteinander stehen. Dort haben wir deutlich gemacht, dass wir die Gesamtheit der Beziehungen begreifen müssen. Das eine vom anderen zu lösen oder darauf zu reduzieren, ist ein Fehler.

Das bedeutet für uns bei der Betrachtung und Einschätzung des Krieges, dass wir das Ökonomische und das Politische nicht voneinander trennen und uns eines Teils entledigen können, wie es Philipp Kissel schreibt: „Die Reduzierung beziehungsweise Abstraktion von den tatsächlichen Ursachen ermöglicht allerdings die Gleichsetzung „beider Seiten“. Denn da die Russische Föderation ein kapitalistischer Staat ist, scheint es einleuchtend, dass es um Märkte, Rohstoffe, etc. geht. Es ist bestimmt so, dass russische Oligarchen Interessen an den Gas-Pipelines, Rohstoffen etc. der Ukraine haben. Aber das ist nicht der Grund für die Militäroperation. Zudem ist es auch auf der Ebene der ökonomischen Konkurrenz nicht einfach ein Kampf zwischen zwei gleichen Seiten. Auch hier besteht eine deutliche Übermacht der USA und EU und sie müssen mit Mitteln der Spaltung, Aggression, faschistischer Kräfte, etc. vorgehen, um Länder wie die Ukraine aus ihren regionalen Zusammenhängen zu reißen und an sich zu binden. Die NATO und die EU wollen die Ukraine außerdem nur als Anhängsel im Sinne einer verlängerten Werkbank, um billige Arbeitskräfte auszubeuten und als Rohstofflieferanten, aber nicht als Konkurrenten mit eigener industrieller Basis. Sie fördern deshalb Kräfte im Land, die die Produktivkräfte schwächen und ihnen schaden. Es ist also, abgesehen davon, dass es nicht die konkrete Ursache der Auseinandersetzung ist, nicht richtig ein Bild von zwei gleichen Seiten darzustellen“ (Kissel, 29.03.22). Philipp Kissel entledigt sich im ersten Teil seines Diskussionsbeitrags der Einschätzung des Joint Statement of Communist and Workers’ Parties, dass es ein imperialistischer Krieg sei, indem er die Behauptung aufstellt, ökonomische Interessen seien nicht der Grund für die “Militäroperation”. Ihm geht es in seiner Kritik am Joint Statement darum, dass beide Seiten (auf der einen Seite Russland, auf der anderen Seite NATO) nicht “gleichzusetzen” sind. Anstatt dann aber die Wechselwirkung von Ökonomischem und Politischem zu betrachten, und ein vermeintliches ökonomisches Ungleichgewicht in dessen Verhältnis zum Politischen darzustellen, entledigt er sich des Ökonomischen.

Er zieht zudem weitreichende Schlussfolgerungen für die Politik: “Die Regierung der RF vertritt nicht die Interessen der Arbeiterklasse, sondern die der nationalen Bourgeoisie, die allerdings im Vergleich zur Kompradorenbourgeoisie (für die tendenziell die Regierung Jelzin stand), die einen Ausverkauf des Landes und seiner Ressourcen anstrebt, in dem (begrenzten) Sinne fortschrittlicher ist, dass sie Bedingungen zur erfolgreichen Akkumulation des Kapitals herstellen will und dafür eine gewisse Eigenständigkeit braucht. In der jetzigen Situation gibt es eine Überschneidung der Interessen der nationalen Bourgeoisie mit denen der Arbeiterklasse in der Verteidigung des Landes und der Verhinderung der Zersplitterung und Unterwerfung. Sollte die NATO ihre Ziele erreichen, wäre es eine katastrophale Situation für die Arbeiterklasse. Die Entkoppelung vom Westen ist im Interesse der Arbeiterklasse und nur zum Teil oder mit Widersprüchen verbunden im Interesse der nationalen Bourgeoisie, die eigentlich eine Einbindung in den Westen angestrebt hatte. Es handelt sich also um eine partielle und begrenzte Überschneidung der Interessen, nicht um eine generelle” (Kissel, 29.03.22). Die nationale Bourgeoisie ist, laut ihm, fortschrittlicher als eine sogenannte “Kompradorenbourgeoisie”, da sie erfolgreiche Akkumulationsmöglichkeiten für das Kapital herstellen kann. Daraus zieht er eine partielle Interessensüberschneidung. Spätestens hier müsste er Aussagen treffen, um das ökonomisch zu begründen und in ein Verhältnis zum Grundwiderspruch des Kapitalismus, dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, setzen. Auch eine Begründung für erfolgreiche Möglichkeiten zur Akkumulation eines Teils der Klasse der Bourgeoisie, bleibt er schuldig. Immerhin zieht er daraus die Konsequenz, dass es sich um einen “fortschrittlicheren” Teil der Klasse handelt. Aus der Imperialismusschrift ergibt sich eine grundsätzliche Politik der Bourgeoisie: eine reaktionäre Politik. Für einen Teil der Bourgeoisie behauptet er nun, dass es auf sie nicht zutrifft: für die nationale. Er belegt aber nicht, wie er dazu kommt. Dies steht im Widerspruch zur Aussage Lenins: “Der politische Überbau der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion” (LW 23, S. 34).

In seiner Einleitung kündigt er an, im zweiten Teil seine Einschätzung zu begründen: “Im zweiten Teil versuche ich die Ereignisse darzulegen und einzuschätzen. Damit will ich meine Einschätzung begründen und transparent darlegen und meine Kritik am JS [Joint Statement, Anm. von uns] untermauern. Ohne eine genaue Betrachtung der konkreten Ereignisse und ihrer Entwicklung können wir nicht die richtigen Fragen stellen und nicht zu den richtigen Schlüssen kommen” (Kissel, 29.03.22). In seinem zweiten Teil des Beitrags führt er lediglich eine politische Geschichte an. Er müsste aber auch Aussagen über die Ökonomie machen. Damit trennt er das Ökonomische vom Politischen in seiner Einschätzung des Krieges.

(c) Trennung von Logischer und Historischer Entwicklung

Die wissenschaftliche Methode ist logisch und historisch. Im Philosophischen Wörterbuch findet man folgenden Eintrag dazu: “Unter dem Logischen wird hierbei die theoretische Erkenntnis verstanden, welche die Gesetzmäßigkeiten des betreffenden Gegenstandes in abstrakter und systematischer Form widerspiegelt, unter dem Historischen dagegen die Erkenntnis und Reproduktion der Entstehung und Entwicklung des Gegenstandes. Die Einheit des Logischen und Historischen ist eine besondere Erscheinungsform der allgemeinen dialektischen Gesetzmäßigkeit der objektiven Realität”(Autorenkollektiv, 1971, S. 668).

Engels beschreibt die marxistische Methode bezüglich des Logischen und Historischen so: “Die Geschichte geht oft sprungweise und im Zickzack und müßte hierbei überall verfolgt werden, wodurch nicht nur viel Material von geringer Wichtigkeit aufgenommen, sondern auch der Gedankengang oft unterbrochen werden müßte; zudem ließe sich die Geschichte der Ökonomie nicht schreiben ohne die der bürgerlichen Gesellschaft, und damit würde die Arbeit unendlich, da alle Vorarbeiten fehlen. Die logische Behandlungsweise war also allein am Platz. Diese aber ist in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet werden kann” (Rezension zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475).

Wenn sich das Logische also auf die abstrakten Zusammenhänge als Gesetze oder Verhältnisse bezieht, bezieht sich das Historische auf die tatsächliche Entwicklung eben dieser theoretisch/gedanklich reproduzierten Zusammenhänge. Wie wir dargestellt haben, spielt in der wissenschaftlichen Methode das Historische und das Logische in den beiden Wegen (vom Konkreten zum Abstrakten und vom Abstrakten zum Konkreten) eine jeweils unterschiedliche Rolle. Beim ersten Weg (vom Konkreten zum Abstrakten) ordnen wir das Chaotische logisch, um zu unseren abstrakten Begriffen und Gesetzmäßigkeiten zu kommen. Im zweiten Weg (vom Abstrakten zum Konkreten) geht es uns darum zu verstehen, wie sich diese logischen Zusammenhänge konkret historisch entfalten. Wenn der zweite Weg nicht funktioniert, dann müssen wir feststellen, dass im ersten Weg und damit logisch etwas schiefgelaufen ist.

Engels schreibt weiter: Man sieht, wie bei dieser Methode die logische Entwicklung durchaus nicht genötigt ist, sich im rein abstrakten Gebiet zu halten. Im Gegenteil, sie bedarf der historischen Illustration, der fortwährenden Berührung mit der Wirklichkeit. Diese Belege sind daher auch in großer Mannigfaltigkeit eingeschoben, und zwar sowohl Hinweisungen auf den wirklichen historischen Verlauf auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung wie auch auf die ökonomische Literatur, in denen die klare Herausarbeitung der Bestimmungen der ökonomischen Verhältnisse von Anfang an verfolgt wird. Die Kritik der einzelnen mehr oder minder einseitigen oder verworrenen Auffassungsweisen ist dann im wesentlichen schon in der logischen Entwicklung selbst gegeben und kann kurz gefaßt werden” (MEW 13, S. 477).

Also: bei der dialektischen Methode ist es nicht so, dass die abstrakten Gesetze von der konkreten Betrachtung und Entwicklung der Welt abgeschlossen wären, sondern im Gegenteil, uns gilt es immer wieder, diese in ihrer historischen Erscheinung zu illustrieren; also auch den zweiten Weg der Methode zu gehen. In diesem Zitat steckt zum Schluss noch ein wichtiger Gedanke: Kritik an falschen Auffassungsweisen (der Welt) steckt schon im Logischen. Das heißt, um Kritik an falschen Verständnissen der Welt zu üben, ist es nicht (immer) notwendig, diese vom Historischen aus zu denken, sondern es ist viel eher deutlich, den Fehler bereits im Logischen zu verorten.

Kommen wir zurück zur Bedeutung des Monopols als Wesen des Imperialismus und als Ausgangspunkt zur Einschätzung des Krieges. Wenn das durch die Konzentration des Kapitals entstandene Monopol das ökonomische Wesen des Imperialismus bildet, so bedeutet das, dass es in seinem Wesen auch der historische Ausgangspunkt ist. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sich alle anderen Momente des Imperialismus erst zeitlich nach der Entwicklung des kapitalistischen Monopols herausgebildet haben. Natürlich gab es schon verschiedene Elemente, wie die territoriale Aufteilung der Welt oder die Kapitalausfuhr vor der Herausbildung des Imperialismus in seiner “Klassizität”.

Der Imperialismus ist Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und Lenin grenzt sich in mehreren Schriften (z.B. Imperialismusschrift, Über die “Junius”-Broschüre, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den “Imperialistischen Ökonomismus”) von einer falschen Imperialismusanalyse, die von einer abstrakt historischen Untersuchung des Imperialismus ausgeht, ab. So kritisiert er Kautsky, der versucht das Wesen des Imperialismus nicht aus dem ökonomischen Wesen, sondern aus dem abstrakten Ausdehnungsdrange, aus der Kolonialpolitik, herzuleiten. Dadurch kommt er zu keinem Verständnis, das über bestimmte Oberflächenerscheinungen hinaus zu ihrem Charakter gelangt und z.B. nicht zum Wesen des Ersten Weltkrieges vordringt. Er ist nicht in der Lage, die Widersprüche, die sich in der imperialistischen Politik konkretisieren, wissenschaftlich zu verstehen und daraus die richtigen praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Für uns bedeutet das, die aus dem “ersten Weg”, logisch entwickelten Begriffe in ihrem historischen Kontext zu fassen. Erst in dieser Einheit können wir zum Wesen eines Krieges gelangen, um daraus praktische Schlussfolgerungen für uns zu ziehen. Dies würden wir missachten, wenn wir, wie in Kapitel ‘Dissense in der Klärungsfrage’ beschrieben, die Wahrheit allein in den historischen Tatsachen suchen würden.

Es muss also klar sein, dass eine konkret-historische Betrachtung nicht ohne eine logische geht: “Von einer konkret-historischen Einschätzung des gegenwärtigen Krieges kann selbstverständlich keine Rede sein, wenn diese nicht auf einer vollständigen Klarlegung sowohl des ökonomischen als auch des politischen Wesens des Imperialismus beruht. Anders kann man zu keinem Verständnis der ökonomischen und diplomatischen Geschichte der letzten Jahrzehnte gelangen, ohne ein solches Verständnis aber wäre es einfach lächerlich, eine richtige Auffassung vom Krieg erarbeiten zu wollen” (LW 22, S. 101).

(d) Wesen und Erscheinung; Notwendiges und Zufälliges verwechseln

Aus der Verwechslung von Politischem und Ökonomischen kann eine Verwechslung von Wesen und Erscheinung bzw. Notwendigkeit und Zufall folgen.

Das Wesen einer Sache ist die “Einheit des Allgemeinen und Notwendigen” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1157). “Das Wesen ist relativ stabil, beständig, hat den Charakter des Allgemeinen, des Notwendigen; die Erscheinung hingegen ist instabil, beweglich, hat den Charakter des Einzelnen, Zufälligen. Das Wesen wird uns nur vermittels der Erscheinung zugänglich, ist also stets nur mittelbar zu erfassen. Die Erscheinung hingegen ist uns unmittelbar gegeben […] Wesen und Erscheinung bilden eine untrennbare Einheit. Die Erscheinung ist aber reicher als das Wesen, denn sie enthält außer dem Allgemeinen, Notwendigen, Invarianten den Reichtum des Individuellen, Zufälligen, Variablen. Es ist die Einheit von Wesentlichem und Unwesentlichem” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1159).

Die Erscheinung, mit der wir unseren wissenschaftlichen Prozess starten, ist reicher als ihr Wesen. An der Erscheinung hängt noch mehr als ihr Wesen. Um nicht von zufälligen, unwesentlichen Charakteristika auf die falsche Fährte geführt zu werden, ist die reale Einheit von Logischem und Historischem, sowie von Theoretischem und Emprischem trotz methodischer Unterscheidung entscheidend.

Das Wesen einer einzelnen Erscheinung können wir nur im Zusammenhang mit dem Allgemeinen erkennen. Bei der Bestimmung des Wesen können wir zwei Fehler machen. Erstens, indem wir das numerisch-allgemeine (quantitative Gemeinsamkeit von mehreren Dingen) mit dem wesentlich-allgemeinen (bestimmend, die Dinge ausmachend – danach suchen wir) verwechseln. Zweitens, wenn wir das Zufällige mit dem Notwendigen verwechseln.

Zum ersten Fehler: Wie oben beschrieben gibt es zwei Arten des Allgemeinen. Das numerische und das spezifische (also bestimmende). ”Ein Allgemeines, das nur durch Vergleich der gemeinsamen Eigenschaften vieler Einzelner gewonnen wird, das also selbst nur ein abstraktes oder ein numerisches Allgemeines ist, braucht noch nicht Ausdruck des Wesens des Einzelnen zu sein. So ist zwar allen Proletariern gemeinsam, daß sie Sprache und Bewußtsein besitzen, doch machen diese Eigenschaften nicht das Wesen eines Proletariers aus. Das abstrakte Allgemeine ist nur “ein Teilchen oder eine Seite” des Einzelnen. Erst wenn das Einzelne nicht nur hinsichtlich seiner gemeinsamen Seiten (Eigenschaften) betrachtet wird, sondern in ein System von Relationen zu anderen Einzelnen gestellt wird, wenn das Gemeinsame seiner Beziehungen zu anderen Einzelnen aufgedeckt wird, gelangen wir zum konkret oder spezifisch Allgemeinen.” (Autorenkollektiv, 1969, S. 57). So kann es sein, dass etwas in seiner Allgemeinheit unwesentlich ist. Ein Schluss von einer Allgemeinheit auf dessen Wesentlichkeit ist somit unzulässig.

Zum zweiten Fehler: Das wesentlich-Allgemeine ist immer notwendig und nicht zufällig. Wenn wir ein zufälliges Ereignis für notwendig halten, kommen wir zu einem falschen Verständnis des Wesens.

Wir können den Zufall folgendermaßen fassen: “Ein Ereignis heißt zufällig, wenn es nicht mit innerer Notwendigkeit aus einer gegebenen Gesamtheit von Bedingungen folgt, wenn es so, aber auch anders hätte verlaufen können. Dies bedeutet nicht, daß ein zufälliges Ereignis nicht kausal bedingt sei” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1180). Notwendigkeit dagegen können wir so verstehen: “Ereignisse, Prozesse, Zusammenhänge usw. heißen notwendig, wenn sie innerhalb eines gegebenen Systems von Bedingungen eindeutig durch andere Ereignisse, Prozesse usw. bestimmt werden, wenn sie sich also im Rahmen dieser Bedingungen nur so und nicht anders gestalten können.” (Autorenkollektiv, 1971, S. 799).

In der Imperialismusdiskussion verwechseln wir Wesen und Erscheinung hinsichtlich der Verwechslung von Notwendigkeit und Zufälligkeit dann, wenn wir eine Abfolge von Dingen, die kausal determiniert sind, für notwendig halten und dadurch den Zusammenhang, der den Dingen zugrunde liegt, kassieren. Ein Beispiel ist, dass aus der zufälligen, wenn auch kausal nachvollziehbaren und nachzeichenbaren Diplomatiegeschichte des Krieges fehlerhafterweise das Wesen des Krieges abgeleitet wird. Obwohl die Abfolge der Diplomatie kausal nachvollziehbar für den Beginn des Krieges scheint, sagt sie nichts über die Notwendigkeit des Krieges selbst und die zugrunde liegenden Bewegungsgesetze aus. Schlimmer noch, sie kann sogar den Gesamtzusammenhang und das Wesen des Krieges verdecken. Sondern im Gegenteil, die Diplomatiegeschichte bleibt zufällig hinsichtlich der Notwendigkeit des Krieges als Wirkung der wesentlichen Gesetzmäßigkeiten. Engels schreibt dazu im Anti-Dühring: “daß Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, Zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stelle wechseln, das was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt” (MEW 20, S. 21f.). So gilt für die Einschätzung des Krieges ganz deutlich zu machen: selbst wenn wir eine deutliche Kausalverbindung zwischen zwei Ereignissen herausstellen und Politiker “nicht anders konnten”, dann bewegen wir uns noch immer auf der Ebene des Einzelnen, wo unser Alltagsverstand Ursache und Wirkung klar auszumachen vermag. So können wir aber unmöglich das Wesen des Vorgehens verstehen. Entsprechend müssen wir eben diese einzelnen Vorgänge gemäß der 6 obigen Schritte einordnen und ausgehend von den wesentlich-allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ihre konkreten Erscheinungen mit all ihren Wechselwirkungen und Entwicklungen darstellen.

Alexander Kiknadze schreibt in seinem Diskussionsbeitrag: “Weiterhin belegt die Art und Weise, wie Russland diese Militäroperation vollzieht, ihre Zielstellung.” (Kiknadze, 10.04.22) Alexander Kiknadze sieht die Zielstellung der “Militäroperation” in der Wahrung der “Sicherheitsinteressen” Russlands. Die Erscheinung, wie Russland Krieg führt, dient ihm als “Beleg” für die Zielstellung und damit den Charakter des Krieges. Mittlerweile hat sich die Art der russischen Kriegsführung deutlich geändert – die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur ist jetzt zum Kern der Taktik geworden – müsste sich damit nach Alexander Kiknadzes Logik nicht auch der Charakter des Krieges geändert haben?  

Eine grundlegende Unklarheit über Wesen und Erscheinungsform zeigt sich bei Paul Oswald, wenn er schreibt “Der Imperialismus ist […] eine konkrete Erscheinungsform, die es zu bekämpfen gilt!” (Oswald, 11.04.2022). Der Imperialismus ist nicht identisch mit seinen konkreten historischen Erscheinungsformen. Zu bekämpfen gilt es ihn natürlich trotzdem. Seine Aufhebung wird aber nicht durch den Kampf gegen die eine oder andere seiner Erscheinungsformen möglich sein, sondern nur durch die Aufhebung der monopolkapitalistischen Produktionsweise. Ein weiteres Beispiel, an dem Oswalds Verwechslung von Wesen und Erscheinung sichtbar wird, ist sein Verständnis, dass “die koloniale Unterdrückung den Kern des Imperialismus bildet” (Oswald, 11.04.2022). Dabei ist die Konkurrenz unter den Monopolen das Wesentliche, die Art ihrer Austragung, z.B. über den Erwerb von Kolonien, ist eine historische Erscheinung – und zudem eine, die mittlerweile weitgehend Geschichte ist… 

(e) Das Empirische vom Theoretischen trennen: Die Mär der neutralen Empirie

Revisionismus in der Methode findet statt, wenn die Empirie als neutrale, scheinbar voraussetzungslose oder abgeschlossene Art der Erkenntnisgewinnung betrachtet wird.

Empirisches Wissen ist Wissen, das aus Erfahrung gewonnen wird. Dabei ist Erfahrung durch die Sinne vermittelt, nämlich der Wahrnehmung und bewussten Beobachtung, zu verstehen. Empirisches Wissen erlangen wir, wenn wir uns die Welt sinnlich erschließen. Das empirische Wissen spiegelt in der Regel die äußere Erscheinung wider. “[A]uf ihrer Grundlage sind weder eine Erklärung des Wesens dieser Erscheinung, die Aufdeckung ihrer Ursachen noch exakte wissenschaftliche Voraussagen bisher unbekannter Sachverhalte möglich” (Autorenkollektiv, 1969, S. 276).

Der Erklärungsgrad empirischen Wissens ist also stark begrenzt. Wenn man nun davon ausgeht, dass Zusammenhänge allein aufgrund von empirischer Betrachtung erklärt werden könnten, dann begehen wir den methodischen Fehler, die Empirie von der Theorie zu lösen. Zumal das Ganze, welches entscheidendes Merkmal des Gesamtzusammenhangs ist, sich stets den Sinnen des Einzelnen entzieht. Der empirische Horizont erfasst logisch betrachtet nie das Ganze des Zusammenhangs.

Theoretisches Wissen ist Wissen, das aus logischem Denken gewonnen wird. Es geht um Wissen, das sich auf die Zusammenhänge von Objekten bezieht, die keine direkte sinnliche Entsprechung haben. Das empirische Wissen und das theoretische Wissen sind also zwei unterschiedliche Arten der Erkenntnis, die “im wissenschaftlichen Forschungsprozeß eine Einheit bilden und einander ergänzen” (Autorenkollektiv, 1969, S. 275). Aber wie und warum ergänzen sie sich?

Das theoretische Wissen spiegelt das Wesen der Erscheinung wider. “[Es] gestatte[t] sowohl die Erklärung bereits bekannter empirischer Sachverhalte als auch wissenschaftliche Voraussagen bisher noch nicht bekannter Sachverhalte. Sätze, in denen theoretische Kenntnisse fixiert sind, können zum Unterschied von empirischen Sätzen objektiv existierende Gesetzeszusammenhänge zum Ausdruck bringen” (Autorenkollektiv, 1969, S. 276).

Ihre Ergänzung zeigt sich im Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten – wo die Empirie die wichtige Ausgangsbasis ist, und beim Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, wo wir sehen, dass wir die empirische Entwicklung der Welt nicht ohne die theoretischen Einsichten verstehen können.

In der Unterscheidung von empirischem und theoretischem Wissen wird deutlich, wie wichtig es ist, das Empirische nicht isoliert vom Theoretischen zu betrachten. Wenn wir das Empirische vom Theoretischen aber trennen, dann sitzen wir dem Fehler auf, dass wir die Empirie für eine unabhängige und neutrale Art der Erkenntnisgewinnung verkennen.

Wir haben oben schon gesehen, dass unser Kopf nicht einfach auf null gesetzt ist, wenn wir eine neue empirische Erfahrung machen. Diese steht immer schon im Kontext unserer theoretischen Vorannahmen. Wenn wir diese nicht offenlegen und kritisch einordnen, passiert es, dass der reine Empiriker, der “so sehr in die Gewohnheit des empirischen Erfahrens” vertieft ist “sich noch auf dem Gebiet des sinnlichen Erfahrens glaubt, wenn er mit Abstraktionen hantiert” (MEW 20, S. 502). Der reine Empiriker glaubt, er würde neutral sinnliche Erfahrungen sammeln, während er in Wirklichkeit die Eindrücke gedanklich zu bereits angenommenen Begriffen einsortiert und damit nur seine eigenen Vorurteile bestätigt (vgl. confirmation bias). Er sucht sich also schon die Erfahrungen so zusammen, dass sie der vorher getroffenen Positionierung oder Annahme entsprechen. Eine Folge dieses Fehlers kann sich in der false balance ausdrücken, der Darstellung einer Mehrheitsmeinung und einer Minderheitsmeinung als gleichwertig.

Engels erkennt seinerzeit die Problematik der Mär von der neutralen Empirie in der damaligen Elektrizitätslehre: “Die exklusive Empirie, die sich das Denken höchstens in der Form des mathematischen Rechnens erlaubt, bildet sich ein, nur mit unleugbaren Tatsachen zu hantieren. In Wirklichkeit aber hantiert sie vorzugsweise mit überkommenen Vorstellungen, mit großenteils veralteten Produkten des Denkens ihrer Vorgänger, als da sind positive und negative Elektrizität, elektrische Scheidungskraft, Kontakttheorie. Diese dienen ihr zur Grundlage endloser mathematischer Rechnungen, in denen sich die hypothetische Natur der Voraussetzungen über der Strenge der mathematischen Formulierung angenehm vergessen läßt. So skeptisch diese Art Empirie sich verhält gegen die Resultate des gleichzeitigen Denkens, so gläubig steht sie davor jenen des Denkens ihrer Vorgänger” (Dialektik der Natur, MEW 20, S. 415-416).

Auf unsere Diskussion bezogen bedeutet dies, dass wir die Wahrheit zwar in den Tatsachen suchen müssen, aber wir Tatsachen nicht als rein empirische Tatsachen verstehen dürfen. Sondern wir müssen immer offenlegen, welche Annahmen, Begriffe, Theorien hinter den Schlüssen stehen, die wir aus der Empirie ziehen und anhand derer wir die “relevanten” oder “interessanten” Tatsachen auswählen. Und diese Schlüsse können wir nicht ziehen, ohne das Theoretische.

(f) Metaphysisch-dogmatische Betrachtung der Welt: Gesamtzusammenhang ignorieren

Wir begehen methodischen Revisionismus, wenn wir uns die Welt nicht in ihrer Entwicklung, sondern bloß metaphysisch-dogmatisch, also statisch und in Einzelteile zergliedert und nicht im Gesamtzusammenhang betrachten.

Engels stellt das metaphysische (statische) Denken dem dialektischen (bewegenden) Denken entgegen. Metaphysisches Denken lässt den betrachteten Gegenstand zu Statik gerinnen, selbst wenn ihr Gegenstand „die Dialektik“ sein sollte.

Dass ein Gegenstand statisch wird, ist erstmal nicht schlimm, weil man die Welt eben manchmal isoliert in ihren einzelnen Teilen abstrahiert, auch metaphysisch betrachten muss, um Halt in ihr zu finden. Aber wenn wir dabei stehen bleiben, sehen wir die Welt nur noch als statisches Gebilde. Stattdessen geht es uns ja gerade darum, die Entwicklung zu verstehen, also was sich warum und wie bewegt. Es geht darum, Tendenzen zu erkennen, um eben diese Entwicklung beeinflussen oder verändern zu können. “Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit, sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen” (Anti-Dühring, MEW 20, S. 22). Dabei muss uns auch klar sein, dass sich das Werden immer in Gegensätzen vollzieht.

Auf die Imperialismus-Diskussion bezogen können wir uns diesen Fehler beispielsweise anhand der Vernachlässigung der Bedeutung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung verdeutlichen. Wir dürfen die Hierarchie der Länder nicht statisch begreifen, sondern müssen diese in ihrer Entwicklung und damit in ihrem dynamischen Charakter fassen. Ein Land, das früher einmal Kolonie war, muss das nicht für immer bleiben. Ein Standpunkt, der diese Eigenschaft zumindest innerhalb des imperialistischen Stadiums als unveränderlichen Teil des Wesens betrachtet, wird metaphysisch-dogmatisch und damit blind für die wirkliche Bewegung der Welt.

Wir denken auch dann metaphysisch, wenn wir den einzelnen Forschungsgegenstand nicht im Gesamtzusammenhang betrachten.

“Die ganze uns zugängliche Natur bildet ein System, einen Gesamtzusammenhang von Körpern, und zwar verstehn wir hier unter Körpern alle materiellen Existenzen vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum Ätherteilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, daß diese Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, daß sie aufeinander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist eben die Bewegung.” (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 355). “Die These vom universellen Zusammenhang besagt vielmehr, daß jedes Ding, jeder Prozeß usw. mit anderen Dingen, Prozessen usw. in einem Zusammenhang steht, der durch die materielle Einheit der Welt und die Bewegung als Daseinsweise der Materie vermittelt wird” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1182).

Also: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wahr kann eine Theorie über die Wirklichkeit nur dann sein, wenn sie die einzelnen Teile ihres Untersuchungsgegenstands in ihren Beziehungen und Wechselwirkungen zueinander, also in dialektischer Bewegung widerspiegelt. Das Wesen eines einzelnen Bestandteils der Wirklichkeit kann nur im Gesamtzusammenhang seiner Beziehungen dargestellt werden. Jede Untersuchung über Teilbereiche der Welt muss diese im Gesamtzusammenhang darstellen.

Warum ist es fatal, den Gesamtzusammenhang zu ignorieren? Weil man die Bewegung/Entwicklung eines Einzelnen sonst nicht in Relation zu den anderen gleichzeitig und zu ihm in Wechselwirkung stehenden Einzelnen betrachtet. Im Vorwort zu Bucharin zeigt Lenin auf, dass Kautskys Ausführungen hinsichtlich der gesetzmäßigen Entwicklung in die Richtung eines friedlichen Ultraimperialismus, denkbar sind. Aber im Zusammenhang mit anderen, zu dieser Gesetzmäßigkeit in Wechselwirkung stehenden Gesetzmäßigkeiten sehen wir, dass die Ausführungen Kautskys falsch ist. Abstrakt ist sie richtig: als einzelne Bewegung aus dem Gesamtzusammenhang und dessen Wechselwirkungen herausgelöst. ABER: konkret, also im realen Zusammenhang mit den ganzen anderen Wechselwirkungen, falsch (vgl. LW 22, Vorwort zu Bucharin, S. 106).

Man begeht den Fehler, ein Einzelnes nur abstrakt anzuschauen, wenn man es nicht im Gesamtzusammenhang (konkret) betrachtet. Man sucht sich also ein Gesetz, einen Begriff, eine Erscheinung, eine Tendenz heraus – man abstrahiert sie – löst sie aus dem Gesamtzusammenhang heraus und betrachtet nur damit einen Gegenstand.

Dies ist auch dann der Fall, wenn der (jetzige) Krieg vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus getrennt wird. Also wenn man meint, den Krieg einschätzen zu können, ohne ihn in den Gesamtzusammenhang der imperialistischen Entwicklung zu setzen. Wenn ein Krieg ohne Gesamtzusammenhang betrachtet wird, ist es immer eine abstrakte Betrachtung eines Krieges und keine konkrete. Darauf sind wir im Kapitel ‘Dissense in der Klärungsfrage’ hinsichtlich der Herangehensweise von Klara Bina eingegangen. Sie sieht kein Problem darin, einen einzelnen Krieg einzuschätzen, ohne dies auf Basis eines Imperialismusverständnisses zu tun.

Milo Barus macht in seinem Diskussionsbeitrag klar, dass wenn wir die aktuellen Entwicklungen des Imperialismus, auf dessen Grundlage der Krieg stattfindet, verstehen, also unser Imperialismusverständnis schärfen wollen, wird das “nicht ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der Imperialismusanalyse, der ihr zugrundeliegenden Imperialismustheorie, aber auch nicht ohne die Betrachtung der wissenschaftlich-methodischen Grundlagen der Theorie möglich sein” (Barus, 12.04.2022). Wir halten es für ein Anzeichen von Revisionismus in der Methodik, dass leitende Teile der KO sich im letzten Jahr genau dagegen versperrt haben.

Einen solchen Fehler begeht man auch dann, wenn man sich dem Allgemeinen als “zu allgemein” entledigt. “das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Jedes Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Gegenstände. Jedes Einzelne geht unvollständig in das Allgemeine ein usw. usw. Jedes Einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinungen, Prozesse) zusammen usw.” (Lenin: Zur Frage der Dialektik, LW 38, S. 340).

Man kann richtigerweise eine Bestimmung als nicht präzise genug kritisieren. Man kann richtigerweise kritisieren, dass eine allgemeine Bestimmung noch nicht ausreicht, um das Einzelne vollständig zu bestimmen. Es ist richtig, zu sagen, dass mit der Aussage, “es handelt sich bei dem jetzigen Krieg um einen zwischenimperialistischen Krieg”, noch nicht alles über diesen Krieg gesagt ist, was über ihn zu sagen wäre. Es wäre aber falsch, sich dem zwischenimperialistischen Charakter des Krieges zu entledigen, weil dieses “zu allgemein” wäre. Entweder das Einzelne (dieser Krieg) ist Ausdruck des Allgemeinen (zwischenimperialistischer Konflikte) oder dieses Einzelne ist nicht Ausdruck davon. Beispielsweise kann man die Aussage “Hans ist ein Arbeiter” dahingehend kritisieren, dass damit noch nicht alles über Hans gesagt ist. Aber der Tatsache, dass Hans ein Arbeiter ist, kann man sich nicht entledigen, indem man sagt, dass dies “zu allgemein” sei. Viel eher müsste gezeigt werden, dass Hans ein Arbeiter ist, oder eben nicht. Die Ablehnung des Allgemeinen als “zu allgemein” ist eine Herauslösung des Einzelnen aus dem Allgemeinen und damit eine Herauslösung aus dem Gesamtzusammenhang.

Was heißt das jetzt für unsere Klärung?

Wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine klassenkämpferische Bewegung und eine kommunistische Partei in Deutschland aufzubauen (PT, S. 4). Dafür haben wir uns auf Grundlage der Programmatischen Thesen organisiert und sind weitere Schritte hinsichtlich einer gemeinsamen Formulierung unserer Vorstellung des Weges, um eine revolutionäre Strategie und Praxis zu erarbeiten. Wir nennen diesen Weg “Klärungsprozess”.

Wie wir in unserem Diskussionsbeitrag betonen, ist Klärung nur (!) mit Hilfe der dialektisch-materialistischen Methode zu erreichen. Diese muss, wie wir ausführlich dargestellt haben, im ersten Weg von den sinnlich-konkreten Erscheinungen zu einer allgemeinen Theorie des imperialistischen Weltsystems der Gegenwart aufsteigen. Erst im zweiten Weg können wir durch das erneute Aufsteigen vom Abstrakten zu den konkreten Erscheinungen der Wirklichkeit zu einer wissenschaftlichen Einschätzung derselben in ihrer “wirklichen Bewegung” kommen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für den Klassenkampf und die revolutionäre Praxis ziehen. Jeder Versuch, diesen Prozess durch das unmittelbare Suchen der Wahrheit “in den Tatsachen” oder eine “historische Herangehensweise”, die sich nie von der Ebene der Erscheinungen löst, abzukürzen, muss zwangsläufig in die Irre führen.

Für unsere Klärung bedeutet das in Kurzform: Kollektive Bildung, kollektive Forschung und kollektive Organisierung.

Zur kollektiven Bildung: Niemand von uns will bei null anfangen, das bedeutet aber noch nicht, dass wir einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Diese Grundlage müssen wir uns erst durch gemeinsame Bildung erarbeiten. Wir müssen die allgemeinen Begriffe des wissenschaftlichen Sozialismus und die ihnen zugrundeliegenden Bewegungsgesetze, die uns Marx, Engels und Lenin an die Hand geben, begreifen. Wir müssen ihren Weg vom chaotisch-Konkreten zum Abstrakten, den wir in Schritt 1-3 dargestellt haben, nachvollziehen. Das Ergebnis muss ein gemeinsames Verständnis sein und damit als kollektiver Ausgangspunkt festgehalten werden.

Zur kollektiven Forschung: Von unserem Ausgangspunkt, dem Verständnis der wissenschaftlichen Begriffe auf abstrakt-allgemeiner Ebene, beginnen wir in der Forschung bei Schritt 4 und gehen den Weg vom Abstrakten ins spezifisch-Konkrete. Indem wir die Mittelglieder und die Erscheinungsformen, die für den heutigen Imperialismus relevant sind, aufdecken, die von den wesentlich-allgemeinen Gesetzen durch ihr Wirken als Gegensätze hervorgebracht werden, können wir die Erscheinungen in ihrer wirklichen Bewegung aufdecken. So kommen wir in die Lage, unsere Thesen und Positionierungen zum Imperialismus und Krieg zu vertiefen und zu überprüfen.

Zur kollektiven Organisierung: Der Aufbau einer kommunistischen Partei mit einem revolutionären Programm ist unser Ziel. Unsere wissenschaftliche Arbeit muss sich dafür auch in unserer alltäglichen Organisierung widerspiegeln, um Dissense und Unklarheiten schnell erkennen, einen Umgang damit zu entwickeln und Schritt für Schritt einen wissenschaftlichen Apparat vorzubereiten. Die ideologische Einheit ist die notwendige Voraussetzung für den Demokratischen Zentralismus als Organisationsform. Nur auf dieser Basis verkommt der Demokratische Zentralismus nicht zu einem Selbstzweck. Es gibt keinen anderen Weg, um in die Lage zu kommen, dem deutschen Imperialismus organisiertes und schlagkräftiges Handeln entgegenzusetzen.

Nur mit Klärung auf Grundlage der materialistisch-dialektischen Methode und in ständigem Kampf gegen den Revisionismus ist es möglich, ein kollektives Verständnis des heutigen Imperialismus als Ganzes auf eine höhere Stufe der Durchdringung zu heben, uns zu schulen, konkrete Ereignisse begründet einzuordnen und praktische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dies ist die zentrale kollektive Entwicklung für den weiteren Aufbau einer revolutionären Partei.

Packen wir’s an!

Literaturverzeichnis

Marx,Karl/ Engels, Friedrich. Werke. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Lenin, Wladimir Iljitsch. Werke. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Autorenkollektiv (1969). Philosophisches Wörterbuch Band 1. Leipzig: VEB.

Autorenkollektiv (1971). Philosophisches Wörterbuch Band 2. Leipzig: VEB.

Autorenkollektiv (1973). Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Barus, Milo (12.04.2022). Das Wesen der zwischenimperialistischen Widersprüche – Fragen an die Imperialismusdebatte. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/das-wesen-der-zwischenimperialistischen-widersprueche-fragen-an-die-imperialismusdebatte/

Bina, Klara (31.03.2022). Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

Honer, Patrick (18.04.2022). Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/von-bildern-imperialistischen-laendern-und-schiedsrichtern/

Joint Statement of Communist and Workers’ Parties (03.03.2022). No to the imperialist war in Ukraine. Solidnet: http://www.solidnet.org/article/Urgent-Joint-Statement-of-Communist-and-Workers-Parties-No-to-the-imperialist-war-in-Ukraine/

Kiknadze, Alexander (10.04.2022). Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zum-defensivschlag-russlands-gegen-die-nato/

Kissel, Philipp (29.03.2022). Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zur-kritik-am-joint-statement-und-zur-nato-aggression-gegen-russland/

Kumpf, Fritz (1968). Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse. Berlin/DDR: VEB.

Latzo, Anton (28.04.2022). Die Wahrheit liegt in den Tatsachen. Unsere Zeit: https://www.unsere-zeit.de/die-wahrheit-liegt-in-den-tatsachen-168558/

Mandel, Ernest (1971). Der Spätkapitalismus: Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Oswald, Paul (11.04.2022). Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen! Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/

Stalin, Josef (1924). Grundlagen des Leninismus. In: Werke Bd.6, 1952. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Tschinkel, Gerfried (2013). Zur Dialektik finanzkapitalistischer Entwicklung. Aufhebung, 2, pp. 88-103.

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