Herrscher, Vasall – oder etwas dazwischen?

Deutscher Imperialismus im Spiegel des Ukraine-Konfliktes

Von Joshua Relko
„Der Hauptfeind steht im eigenen Land, er heißt deutscher Imperialismus“ – so oder ähnlich lauten die Losungen angesichts des gegenwärtigen Ukraine-Konfliktes in der kommunistischen Bewegung, einerseits. Andererseits sehen wir uns in dieser Situation mit der Frage konfrontiert, warum die BRD derzeit eigentlich so handelt, wie sie das tut – und was das mit den USA als ihrem NATO-Partner im Kampf gegen Russland zu tun hat. Dem zugrunde liegt die Vorstellung vom imperialistischen Weltsystem: Wird die Auffassung von mehreren, in Konkurrenz zueinander stehenden imperialistischen Zentren vertreten oder die Auffassung von einem mehr oder weniger unipolaren System mit einem imperialistischen, durch die USA dominierten Pol? Manche Vertreter eines weitgehend unipolaren Weltsystems erklären die BRD zum „Satelliten“ oder „Vasallen“ der USA.

Im Folgenden möchte ich einen Einblick in die Diskussion und Analyse des BRD-USA-Verhältnisses aus meiner Sicht geben. Die Aktualität und Dringlichkeit der im Text aufgeführten Fragen ergibt sich auch aus der Konfrontation der NATO-/EU-Länder mit Russland (und China).

Aktuelle Lage in der Ukraine und im Verhältnis BRD-USA

Mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine suggerieren die Länder der NATO, insbesondere die USA und die BRD, auffallende Geschlossenheit. In der Vergangenheit gab es lange ein Zögern der BRD in der Frage der Sanktionen gegen Russland und der Energieimporte einerseits, US-Diplomatin Nulands „Fuck the EU“ als Ausdruck der abgekühlten transatlantischen Verhältnisse besonders präsent in der Trump-Ära andererseits. Spätestens seit dem 24. Februar scheint die Einheit des westlichen Bündnisses über Allem zu stehen. Teile der kommunistischen Bewegung ziehen diese Beobachtung als Beweis für die Dominanz der USA, auch über die deutsche Außenpolitik, heran. Sie weisen unter anderem auf den wirtschaftlichen Schaden der Sanktionen hin, der sich ungleich verteilt (zum Beispiel bei den Energieembargos):
Während die BRD wirtschaftliche Probleme bekommt, die Konjunktur nachlässt, die Energieversorgung unsicher ist und so weiter, tragen die USA kaum ökonomische Nachteile davon – im Gegenteil profitieren sie massiv vom voraussichtlich stärker werdenden eigenen Energieexport (aus Fracking gewonnenes Gas soll per Schiff in die EU importiert werden – der Infrastrukturausbau dafür läuft auf Hochtouren).

Der BRD-Imperialismus muss weitgehend unabhängig werden von Energieimporten (egal von wem) und sie diversifizieren. Ist der aktuelle Konflikt, das Embargo nicht sogar ein möglicherweise willkommener Anlass dazu? Die derzeitige Stimmungsmache – „Frieren für den Frieden“ – gibt zumindest Stoff, um Energieknappheit gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen.

Der militärische Bereich ist angesichts der drohenden Eskalation im Konflikt, angesichts der hochgerüsteten beteiligten Staaten ebenso Teil unserer Diskussion. Die Zeitschrift Internationale Politik sieht eine von den USA unabhängige Aufrüstung: „Der Bundeskanzler sprach von einer ‚Zeitenwende‘, um einen Paradigmenwechsel in der deutschen Sicherheitspolitik zu beschreiben. Die weitreichendste konkrete Maßnahme seitdem war die Ankündigung, dass Deutschland umgehend Lockheed Martins F-35-Kampfflugzeuge anschaffen werde, um seine in die Jahre gekommene Tornado-Flotte zu ersetzen und weiterhin die „nukleare Teilhabe“ im NATO-Rahmen zu ermöglichen.“ (IP: Zeitenwende light, Ausgabe #4/2022) Nukleare Teilhabe – das ist eine im Rahmen der Aufrüstung besonders spannende Frage. Ist die Präsenz von US-Atomwaffen auf deutschem Boden Ausdruck einer US-Dominaz oder eher einer nuklearen Teilhabe der BRD?

Wir müssen insgesamt die Präsenz von mehreren zehntausend US-Soldaten in Deutschland bewerten. Wer wendet sich aus den Kreisen der Herrschenden gegen sie? Welche Rolle spielen diese Militärbasen für das BRD-USA-Verhältnis?
Wie steht es um den militärisch-industriellen Komplex, wie schätzen wir die dort vorzufindende Konkurrenz ein? Einerseits bezieht die BRD Militärtechnik aus den USA, siehe die angesprochenen F-35-Flugzeuge. Andererseits lesen wir zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP): „Diese Chance, europäische Verteidigung voranzubringen, besteht wahrscheinlich nur in diesem Jahr. Andere füllen bereits die Lücken an Rüstungsgütern, allen voran die USA, und stellen damit die rüstungspolitischen Weichen in Mittel- und Osteuropa auf Jahrzehnte.“ (DGAP: Eine Starthilfe für die europäische Rüstungswende, DGAP Online Kommentar, 07. Juni 2022) Die DGAP spricht die (in diesem Fall rüstungsindustrielle) Konkurrenz aus. Keine warmen Worte von transatlantischer Partnerschaft, stattdessen der Fokus auf europäische Aufrüstung.
„Der deutsche Imperialismus versucht derzeit seine Interessen hinsichtlich der zwischenimperialistischen Konkurrenz (vor allem gegenüber den USA) wie auch gegenüber Russland und China im Rahmen der NATO-Strukturen durchzusetzen“, schätzte Björn Blach in einem Diskussionsbeitrag zum 24. Parteitag der DKP ein (UZ: Debattenbeiträge des 24. Parteitags (Teil 2)). Abschließend müssen wir in der Einschätzung der aktuellen Lage fragen: Welche Alternativen hätte die BRD zu ihrem aggressiven Vorgehen gegen Russland? Ist es die Dominanz der USA, die dieses Vorgehen bewirkt oder ist das Ziel der Eindämmung und Zerschlagung Russlands ganz im Interesse der BRD?

Stellung der BRD im imperialistischen Weltsystem

Die Stellung in der imperialistischen Hierarchie, unabhängig davon, wie man diese beschreibt, gibt Aufschluss über die realen Einflussmöglichkeiten und Partnerschaften der BRD in der Welt, Aufschluss über ihre Stärke und damit auch den Grad ihrer Eigenständigkeit gegenüber den USA. Welchen Einfluss haben NATO und EU? Welche Rolle spielt die BRD darin? Wie ist ihr Verhältnis zu anderen imperialistischen Staaten? Wie sieht es mit dem Verhältnis zu Russland aus, wie hat es sich entwickelt? Während wir heute vor allem mit Kriegshetze konfrontiert sind, die keinen Platz mehr lässt für politische oder ökonomische Partnerschaften zwischen der BRD und Russland, gab es in der kommunistischen Bewegung stets Diskussionen um die Frage des strategischen Nutzens einer solchen Partnerschaft. Eva Niemeyer schätzte 2009 die Situation so ein: „Deutschland schafft es mit der ‚Doppelstrategie‘, sich viele Optionen offen zu halten (mit/ohne Russland; mit/ohne Frankreich; mit/ohne/gegen USA).“ (Offen-siv 8/09: Der BRD-Imperialismus nach 1989). Eine die Partnerschaft mit Russland intensivierende Ära Schröder (Nord Stream als ein Kind dieser Zeit, Stärkung der EU als Steigbügelhalter für Deutschlands Aufstieg) bekräftigte Niemeyers These.
Wie hat sich das BRD-USA-Verhältnis von Beginn an entwickelt? War die alte BRD im Zuge von Besatzungszonen, Marshall-Plan und strategischer Partnerschaft gegen den Sozialismus ein bloßer Vasall der USA oder errangen die alten deutsch-imperialistischen Kreise schon früh wieder ihre Eigenständigkeit? Wie ging die Entwicklung weiter? In einem Artikel der KAZ wurde formuliert: „Umgekehrt hält der US-Imperialismus – trotz aller von keinerlei Diplomatie mehr verhüllten Angriffe auf den deutschen Imperialismus – noch an dem Bündnis mit diesem fest. Ein Krieg gegen Russland und China scheint aus US-amerikanischer Sicht ohne den deutschen Imperialismus nicht führbar zu sein.“ (KAZ: Der Imperialismus und die Epoche der Weltkriege, KAZ Nr. 366) Und in Offen-siv 4-2021 äußerten sich Frank Flegel, Jürgen Geppert und IФB: „Treuschwüren in Richtung USA folgten Annäherungen an die Sowjetunion (in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts) oder an Russland (während der Jelzin-Zeit und nochmals während der Kanzlerschaft Schröders), seit einiger Zeit vorherrschend aber Distanz und Feindschaft gegenüber Russland und China. Ähnlich schwankend ist die Haltung gegenüber den USA, denn eins ist immer klar: jeder imperialistische Konkurrent ist potentiell ein Feind.“ (offen-siv 4-2021)

Strategie des deutschen Imperialismus

Zu einem Überblick über unsere Diskussion zum BRD-USA-Verhältnis gehört abschließend auch die Strategie des deutschen Imperialismus, seine Ziele, langfristigen Partnerschaften und Bündnisbeteiligungen. Die Orientierung des BRD-Imperialismus zu erfassen, ist eine Voraussetzung für unsere eigene revolutionäre Strategie. Wir müssen verstehen, wie diese Orientierung zustande kommt, wie die politischen Prozesse innerhalb der herrschenden Klasse ablaufen. Es geht zum Beispiel um die Frage der Kapitalfraktionen, der sicher ein ganzer eigener Artikel gewidmet werde könnte (siehe die Ausarbeitungen zum Thema im BolscheWiki der KO). Wie definieren wir Kapitalfraktionen, wie finden ihre Interessen einen politischen Ausdruck? Konkret: Inwiefern stehen die bürgerlichen Parteien für die Interessen bestimmter Teile der Bourgeoisie? Welche Bedeutung haben bestimmte Kapitalinteressen gegenüber dem bürgerlichen Staat als ideellem Gesamtkapitalisten?
Abseits strategischer und politischer Überlegungen demonstrieren die Debatten um das Verbot russischer Energieimporte auch die Verwundbarkeit des BRD-Imperialismus. Hinzu kommt ein Mangel an internationalem geostrategischen Einfluss, ein Rückstand bei der Aufrüstung (das ändert sich mittelfristig vermutlich mit Sondervermögen und regulärer Etaterhöhung), fehlende feste Bündnispartner, eine vielleicht noch nicht ausreichende Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung.
Dennoch stellt sich die Frage, welche Alternativen der deutsche Imperialismus zu seinem aggressiven Vorgehen gegen Russland hat. Ist es die Dominanz der USA, die die aktuell aggressive BRD-Politik gegen Russland bewirkt oder ist die notwendige Politik der Eindämmung und Zerschlagung Russlands ganz im Interesse der BRD?

Mein Fazit

Ausgehend von den aufgeworfenen Fragen und angeführten Debattenbeiträgen denke ich, dass das Bündnis des deutschen Imperialismus mit den USA angesichts der jüngsten Eskalationen im Konflikt mit Russland wieder an Bedeutung gewonnen hat, auch wenn es nicht das Level an Partnerschaft in Phasen der Konfrontation mit den sozialistischen Staaten erreicht. Das Bündnis war und ist imperialistischer Natur, beide Staaten orientieren sich im Fall der Fälle an nationalen (Gesamt-)Kapitalinteressen. Wenn wir den deutschen Imperialismus in seiner Rolle unterschätzen oder gar in ein von den USA diktiertes Dasein einordnen, laufen wir Gefahr, die Arbeiterklasse zu desorientieren. Wir laufen Gefahr, dem deutschen Imperialismus den Rücken zu stärken gegen „äußere Feinde“, letztlich Klassenversöhnung zu befördern und die Revolution, den Sozialismus zu unterminieren. Die revolutionäre Strategie und Taktik müssen wir an dieser Realität ausrichten. Sie müssen Strategie und Taktik gegen den deutschen Imperialismus und gegen das gesamte imperialistische Weltsystem sein.

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