Der Kampf um die Arbeitszeit

Es sind zwei Seiten einer Medaille: Während in den Autofabriken, Restaurants und Hotels reihenweise die Arbeiter entlassen, in Kurzarbeit oder in Zwangsurlaub geschickt werden, kommt es zur Ausdehnung der Arbeitszeiten und Erhöhung des Arbeitsdrucks in den Krankenhäusern, Supermärkten und Warenlagern. Die Kapitalisten stoßen die Arbeiter immer weiter ins Elend – die einen, indem ihnen jede Möglichkeit geraubt wird, ihre Existenz zu bestreiten; die anderen, indem ihnen durch ständigen Arbeitsdruck und lange Arbeitszeiten die Lebenszeit bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt wird. Jeder Mann und jede Frau der Arbeiterklasse wird abwechselnd in die eine oder andere Lage geworfen und oft genug reicht der Lohn trotz Arbeitsplatz nicht zum Leben.

Genau so ist es in den Bereichen, die gerade durch allabendlichen Beifall und unendliche Danksagungen der Politiker und Bosse so viel „Aufmerksamkeit“ bekommen. Pflegekräfte, LKW-Fahrer und Paketboten verdienen oft nur Hungerlöhne, wie der aktuelle Vierteljahresbericht des Statistischen Bundesamts feststellen musste. Jetzt, in Zeiten der Pandemie, müssen diese Arbeiterinnen und Arbeiter noch mehr Überstunden schieben und am besten noch schneller arbeiten. Mittlerweile sogar mit staatlicher Erlaubnis: Im Rahmen des „Corona-Sozialpakets“ des Bundestags vom 23. März 2020 wurde das Arbeitszeitgesetz um einen entsprechenden Absatz ergänzt, der bundesweit Ausnahmen ermöglicht. Diese Möglichkeit zur Ausweitung der Arbeitszeit ist beileibe nicht nur auf die aktuelle Covid19-Pandemie beschränkt. Unter dem Deckmantel eines angeblichen Kampfes gegen die Pandemie wurde eine Regelung verabschiedet, die für „außergewöhnliche Notfälle mit bundesweiten Auswirkungen gilt“ und in der das Ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Ausdehnung der Arbeitszeit über alle gesetzlichen und tariflichen Regelungen hinaus zulassen kann. 

Bereits Mitte März hatten mehrere Landes- und Bezirksregierungen, darunter in Bayern und Berlin, Ausnahmebewilligungen bei der Sonn- und Feiertagsarbeit beschlossen, Pausen gekürzt und die mögliche Höchstarbeitszeit in einzelnen Branchen auf 12 Stunden täglich ausgedehnt. Seit dem 7. April 2020 gilt nun die sogenannte Covid-19-Arbeitszeitverordnung des BMAS, die Unternehmen bestimmter Branchen einen Freifahrtschein während der Pandemie ausstellt: Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, Arbeiter in der Medizin- und Verpackungsindustrie, Kommissionierer, Sicherheitsdienste, Feuerwehrleute, LKW-Fahrer, Pflegekräfte und einige mehr dürfen in Zukunft mit 12-Stunden-Schichten rechnen, mit verkürzten Pausen- und Ruhezeiten, mit Wochenarbeitszeiten um die 60 Stunden – im „Ausnahmefall“ auch darüber hinaus.

In welchen Branchen genau die Ausdehnung der Arbeitszeit angeordnet werden darf, bleibt in allen Verordnungen letztlich schwammig und damit immer eine Frage des Kräfteverhältnis zwischen den Arbeitern und ihren Bossen: Die Regierung in Niederbayern spricht beispielsweise davon, dass Arbeiter „zur Produktion von existentiellen Gütern und für Dienstleistungen zur Gewährleistung der Daseinsvorsorge, die im Zusammenhang mit den Folgen der Ausbreitung des Corona-Virus anfallen“ länger beschäftigt werden dürfen. Die Covid-19-Arbeitzeitverordnung des BMAS hat eine ganze Liste von Tätigkeiten genannt, die in Zukunft länger ausgeübt werden dürfen. Wer sich die Liste der genannten Berufe anschaut, dem kommen Zweifel auf: Haben wir akuten Lebensmittelmangel in den Supermärkten, dass die Arbeiter in den Warenlagern unbedingt länger arbeiten muss? Hat sich irgendetwas so drastisch verändert, dass Sicherheitsdienste zum Schutz von Betriebsstätten 12-Stunden-Dienste schieben müssen? Dazu in einem Bereich, in dem die Einhaltung der Ruhezeiten sowieso schon regelmäßig von den Unternehmen missachtet wird? Produzieren wir in Corona-Zeiten mehr Müll, der auf den Straßen vergammeln würde, wenn die Müllwerker nicht 12 Stunden am Tag mit verkürzten Pausen arbeiten?

Längere Arbeitszeit = Mehr Profit für die Kapitalisten

Um all das geht es nicht. Wie in der Begründung zur Covid-19-Arbeitszeitverordnung beschrieben, geht es darum, dass „in Deutschland unter anderem mit einem stark erhöhten Kranken- und Quarantänestand bei den Beschäftigten zu rechnen“ ist. Anstatt die Unternehmen zu verpflichten, mehr Arbeiter einzustellen um den Personalmangel auszugleichen, wird ihnen signalisiert: Wenn ihr die Arbeitszeiten ausdehnt, werden wir euch nicht dafür belangen.

Diese Änderung kommt den Kapitalisten hierzulande sehr gelegen: Bereits seit Jahren sägen sie an der tariflich vereinbarten 35-Stunden-Woche durch individuelle Verträge über zusätzliche Arbeitsstunden, Überstunden und durch Tarifflucht. In den ostdeutschen Bundesländern wehren sich die Kapitalisten mit Klauen und Zähnen gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche. Denn die Ausdehnung der Arbeitszeit ist eine der wichtigsten Hebel der Kapitalisten, um die Ausbeutung der Arbeiter auszudehnen und ihre Profite zu erhöhen. Laut den aktuellen Zahlen des BMAS arbeitet schon jetzt jeder zweite Arbeiter in Deutschland über 40 Stunden die Woche – bei jedem zehnten sind es mehr als 48 Stunden. Im Jahr 2018 machten die Arbeiter in Deutschland rund 2,2 Milliarden Überstunden, die Hälfte davon unbezahlt. Im ersten Halbjahr 2019 waren es wieder eine Milliarde Überstunden, wovon die Hälfte nicht bezahlt wurden – die Gesamtzahl für 2019 liegt noch nicht vor. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die neue Covid-19-Arbeitszeitverordnung keinen Unterschied machen würde – es ist die Legalisierung einer Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen, die widerstandslos nur weitere Verschärfungen nach sich ziehen wird.

Je länger ein Arbeiter für den Kapitalisten arbeitet, desto höher ist der Anteil der Arbeitszeit, die der Kapitalist dem Arbeiter nicht zahlen muss. Denn der Lohn richtet sich keinesfalls nach den real geleisteten Stunden, auch wenn er meist auf diese verteilt wird – letztlich bekommt der Arbeiter durchschnittlich nur das, was gesellschaftlich anerkannt ist, um sich und seine Familie am Leben zu erhalten. Er muss am nächsten Morgen wieder aufstehen und zur Arbeit gehen können – genauso viel ist er dem Kapitalisten wert und kein bisschen mehr. Bei Arbeitern mit ungelernten Tätigkeiten wie Kassiererinnen und Paketzustellern unterschreitet der individuelle Lohn oft genug auch dieses Niveau – denn einerseits springt der Staat den Kapitalisten zur Seite und stockt den individuellen Lohn mit Hartz4, Kindergeld usw. aus den Sozialversicherungsbeiträgen auf. Andererseits wartet ein Heer von Erwerbslosen vor den Werkstoren und Filialen, welches die durch Existenzangst und Überarbeitung geschundenen Arbeiterinnen und Arbeiter leicht ersetzen kann. 

Bittere Pille für die „Helden des Alltags“

Die Ausweitung der Arbeitszeit erweist sich aktuell für Pflegerinnen, LKW-Fahrer und Kommissionierer als bittere Pille – denn es sind die Bereiche, in denen schon seit Jahren massiv Personal eingespart und die Arbeitsbedingungen deutlich verschärft wurden. Zigtausende Arbeitskräfte fehlen auf den Stationen der Kliniken, in den Führerkabinen der Lastwägen und in den riesigen Lagerhallen – und die Kapitalisten üben jetzt noch stärkeren Druck auf die übrigen Arbeiter aus, um den Personalmangel durch Überarbeit auszugleichen. Kommt es jetzt, wie erwartet, zu zahlreichen Personalausfällen durch Covid-19-Erkrankungen, wird sich die Lage nur noch weiter verschärfen.

Großspurige Ankündigungen wie vom amerikanischen Monopolkonzern Amazon, in Deutschland 350 (!) zusätzliche Stellen schaffen zu wollen, sind dabei der reine, verächtliche Hohn. Denn gleichzeitig weigert sich der Konzern seit Jahren, die Arbeiter zum besseren Einzel- und Versandhandelstarif zu bezahlen – trotz wiederholter Streiks an den verschiedenen Standorten. Und in Zeiten von Corona setzt er noch eins drauf: Krankheitsbedingte Kündigungen sind an der Tagesordnung und Arbeiter, die ihre Kinder betreuen müssen, werden mit Entlassung bedroht. Durch eine bis Ende April befristete Anwesenheitsprämie sollen jetzt auch noch kranke Arbeiter zur Arbeit bewegt werden.

Der reine Hohn ist es auch, wenn in den aktuellen Prospekten von Edeka, Aldi, Rewe und Lidl ein fettes „DANKE“ an die Arbeiter in den Filialen und Warenlagern ausgesprochen wird. Denn gleichzeitig hat nun der Handelsverband Deutschland (HDE), der Interessenvertreter eben jener Einzelhandel-Monopolisten, angekündigt, die 2019 mit ver.di vereinbarten Tariferhöhungen im Einzelhandel bis Ende des Jahres verschieben zu wollen, um jene Einzelhändler nicht noch mehr zu belasten, die durch die aktuellen Ladenschließungen in Not geraten sind. Wer dabei als „in Not geraten“ gilt, lässt der Verband bewusst offen. Denn auf der einen Seite gibt es keinen Zweifel, dass zigtausende Kleinsthändler vor dem Bankrott stehen und dringend Unterstützung brauchen. Für sie hat der Staat allerdings nur wenige tausend Euro Nothilfe zur Verfügung gestellt. Auf der anderen Seite stehen die Einzelhandels-Monopole, die während der Pandemie in Ruhe weiter Milliardenprofite einfahren können und trotzdem jetzt lautstark nach der Aussetzung der Tariferhöhung und nach einer „Flexibilisierung“ des Arbeitsrechts schreien. Was bei den Kapitalisten „Flexibilisierung“ heißt, ist in Wahrheit ein Ruf nach Ausdehnung der Kontrolle und Verfügung über die Arbeitskraft, durch einseitige Anordnung von Urlaub durch das Unternehmen und die Ausweitung der Kurzarbeit auf 24 Monate. Bezeichnend ist, dass die erste Forderung des HDE im Forderungspaket ist, dass der Staat bei der Umsetzung von Maßnahmen nicht zwischen kleinen und großen Einzelhändlern unterscheiden soll, sondern für alle dasselbe gelten muss. 

Gewerkschaften und der Kampf um die Arbeitszeit

Der Kampf gegen die Ausweitung der Arbeitszeit und für mehr Personal ist ein essenzieller Kampf der Arbeiterklasse. Bereits in den letzten Jahren und damit vor der Corona-Pandemie wurden die Stimmen in den Gewerkschaften lauter, dass ein Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich notwendig ist. In Zeiten wie jetzt zeigt sich so klar wie nie, dass dieser Kampf vorangebracht werden muss. 

Diesem Kampf entgegen stehen Aussagen der Führungen von ver.di und dem DGB, die offensichtlich an den Verhandlungen um die Covid-19-Arbeitszeitverordnung beteiligt waren – ohne die Mitgliedschaft einzubeziehen, die die längeren Arbeitszeiten schultern müssen. So heißt es in der Pressemitteilung der ver.di-Führung nur: „Die guten Nachrichten zuerst: Auf Drängen von ver.di sind Beschäftige in Verkaufsstellen – insbesondere in Lebensmittelfilialen – und Beschäftigte von Lieferdiensten von der geplanten Covid-19-Arbeitszeitverordnung der Bundesregierung ausgenommen.“ Die DGB-Führung behauptet in ihrer Stellungnahme, dass Unternehmen wohl nur die Möglichkeit haben „bei absoluten Notfall- und Notstandsarbeiten einseitig Mehrarbeit anzuordnen“. Keine grundsätzliche Ablehnung der Arbeitszeitverlängerung, die absehbar nichts anderes bedeutet, als einen Dammbruch für die Arbeitszeiten der gesamten Arbeiterklasse. 

Die Führung der NGG lehnt die Covid-19-Arbeitszeitverordnung ab, die IG BAU kritisiert sie und fordert „Nachbesserungen“. Die Führung der IG Metall schweigt, jedoch gibt es einzelne Stimmen in den Bezirken, die in der Covid-19-Arbeitzeitverordnung eine Vorlage für die Ausweitung der Arbeitszeiten auch in breiten Teilen der Industrie sehen – nämlich dann, wenn die Kapitalisten versuchen werden, auf dem Rücken der Arbeiter wieder das aktuell sinkende Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln. (https://koeln-leverkusen.igmetall.de/info-kontakt/news-presse/corona-notlage-darf-nicht-fuer-eine-aufweichung-des-arbeitszeitgesetzes-ausgenutzt-werden/) Die IG BCE hat sich schon vor drei Wochen mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) auf die mögliche Einführung von 12-Stunden-Schichten verständigt.

Ohne Einigkeit in der Arbeiterbewegung lässt es sich schwer gegen die aktuellen Angriffe kämpfen. Es kommt darauf an, eine Einheit von unten durch die Aktivierung der Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften zu schaffen. Wir müssen uns austauschen und gemeinsam die Positionen der Gewerkschaften zu den Maßnahmen des Staates und der Kapitalisten diskutieren. Denn den Führungen der Gewerkschaften das Zepter zu überlassen, heißt, faule Kompromisse mit den Unternehmen und Regierungen in Kauf zu nehmen. Ähnlich wie 2007 massenhaft Kolleginnen und Kollegen gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters durch die Bundesregierung auf die Straße gingen, müssen wir heute unter den erschwerten Bedingungen breiten und kreativen Protest gegen die Covid-19-Arbeitszeitverordnung organisieren. 

Dafür ist es nötig sich zu wappnen, und klare und deutliche Forderungen aufzustellen. In vielen Bereichen, in denen jetzt Arbeiter von der Ausdehnung der Arbeitszeiten bedroht sind, wäre eine unmittelbare, umfassende Einstellung von mehr Arbeitern ohne weiteres möglich. In den Bereichen mit gelernten Tätigkeiten, wie z.B. in der Pflege, müsste die Ausbildung massiv ausgeweitet werden und zudem wäre es bei einer Erhöhung der Löhne wahrscheinlich möglich, tausende ehemalige Pflegekräfte für die Zeit der Corona-Pandemie aus anderen Bereichen zurückzuholen um längere Arbeitszeiten der ohnehin schon überlasteten Kolleginnen und Kollegen zu verhindern.

Längere Arbeitszeiten dienen nicht dem Gesundheitsschutz und der Aufrechterhaltung der Versorgung der Bevölkerung, sondern einzig den Profitinteressen der Kapitalisten. Dem Elend der Erwerbslosen auf der einen Seite und der Überarbeitung der aktiven Arbeiter auf der anderen Seite kann nur eine Arbeitszeitverkürzung entgegengesetzt werden. Die Forderung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich muss von den Gewerkschaften als eine der wichtigsten Forderungen im Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse aufgenommen werden. 

Keine Ausweitung der Arbeitszeiten – nicht während der Krise und nicht danach!

Höhere Löhne, sofortige Einstellung von ausreichend Personal und Ausweitung der Ausbildung in allen notwendigen Bereichen!

Arbeitsstopp bei voller Lohnfortzahlung in allen nicht notwendigen Bereichen!

30-Stunden-Woche bundesweit bei vollem Lohn- und Personalausgleich!

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