Chiles Hoffnung und Chiles Katastrophe

Eine Einschätzung der Regierung Allende und ihres Endes

Ein Hintergrundbeitrag von Maria Galvão und Patrick Honer

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50 Jahre faschistischer Putsch

Heute vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte das chilenische Militär unter Führung des Generals Augusto Pinochet gegen die Regierung der Unidad Popular (Volkseinheit) unter Salvador Allende. Der Putsch bedeutete das Ende einer Phase weitgehender Reformen und leitete eine Ära schwärzesten Terrors ein.

Die Regierung Allende ist bis heute zentraler Orientierungspunkt der chilenischen Linken. Viele Bewegungen und Regierungen, vor allem in Lateinamerika, bezogen und beziehen sich explizit auf sie, in Chile selbst, aber beispielsweise auch die MAS in Bolivien oder die PSUV in Venezuela. Chile, Allende und die Unidad Popular stehen hier stellvertretend für die Hoffnung darauf, über den parlamentarischen Weg wichtige Schritte in Richtung Sozialismus zu machen – in der Darstellung beispielsweise der SPD auch explizit im Gegensatz zu den Revolutionen in Russland oder Kuba. Diese reformistischen Vorstellungen finden sich auch bei vielen Kommunisten überall auf der Welt. Beispielsweise erkennen wir eine Kontinuität von der Strategie der KP Chiles und der Unidad Popular bis zum aktuellen Programm der DKP, in dem die Hoffnung geäußert wird, in einem “antimonopolistischen Block” mit Teilen der nicht-monopolistischen Bourgeoisie eine “die gemeinsamen Interessen vertretende Regierung bilden” zu können.1

Die Zeit der Unidad Popular war jedoch nicht frei von Widersprüchen. Zwar wurden die größten Kupferminen verstaatlicht und die Lage der Arbeiterklasse durch Sozialausgaben, Infrastrukturmaßnahmen und eine bessere Arbeitsgesetzgebung spürbar verbessert. Jedoch wurde mit dem Kapitalismus nicht gebrochen. Das chilenische Kapital wurde nicht wesentlich angegriffen, weiterhin regelten Markt und Profitstreben die Produktion und die Arbeiterklasse vertraute die Macht dem Regierungsapparat an, anstatt sie selbst zu ergreifen.

Auch 50 Jahre nach dem faschistischen Putsch ist der Blick auf Allende zumeist stark romantisiert und frei von Kritik. In diesem Aufsatz wollen wir uns den historischen Kontext, das Verhalten der KP und anderer Kommunisten und die zentralen Fehler der Unidad Popular genauer anschauen und daraus Schlussfolgerungen für die Strategie heute ziehen.

Kurzer Abriss der Vorgeschichte

1800 – 1960

Obwohl die Unabhängigkeit Chiles von der Kolonialherrschaft Spaniens erst seit 1826 als vollständig abgeschlossen gilt, hatte das Land seit 1810 eine unabhängige Regierung. Bereits im 19. Jahrhundert stützte sich die chilenische Wirtschaft hauptsächlich auf den Export von Bergbauprodukten wie Silber und Kupfer2. Bis 1860 war auch die Produktion von Weizen von Bedeutung, sie wurde durch den modernen Anbau in den USA und Argentinien ersetzt. Silber und Kupfer waren für die europäische Industrie von großer Bedeutung, was sich beispielsweise an der zentralen Rolle des chilenischen Kupfers für die britische Gießereiindustrie ab 1827 zeigt. Die Anbindung an den Weltmarkt ermöglichte die Entwicklung des Bankkapitals in Chile mit zahlreichen Kreditinstituten, sowie den Aufbau und die ständige Modernisierung von Produktions- und Verkehrsinfrastruktur.

Die ständige Entdeckung neuer Minen auf chilenischem Gebiet während des 19. Jahrhunderts – sowie die technologische Entwicklung, die den Abbau von beispielsweise Kupfersulfiden ermöglichte – brachte der kapitalistischen Entwicklung regelmäßig Auftrieb. Ebenso brachten die Erschöpfung der Minen und die Krisen des Kapitalismus immer fatalere Bedingungen für ihre Arbeiter. Mit den wirtschaftlichen Aufschwungphasen wurden die ersten auf den Binnenmarkt ausgerichteten Industrien im Land angesiedelt. Die Verbindung zwischen Bergbau und Industrie bestand seit Mitte des 19. Jahrhunderts3. Die Etablierung einer Bourgeoisie in Chile ging mit kapitalistischen Arbeitsbeziehungen in der Bergbautätigkeit einher, während in der Landwirtschaft die traditionelle Agrarstruktur vorherrschte.

1870 erreichte der Kupferabbau seinen Höhepunkt und machte Chile zum größten Kupferexporteur der Welt, während die Silberminen zur Erschöpfung kamen. Große US-Amerikanische Unternehmen begannen das Gebiet entlang des Andengebirges auf der Suche nach Lagerstätten zu durchkämmen, um sie in großem Umfang auszubeuten. Gleichzeitig begann der Staat eine aktivere Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung zu übernehmen, um die Industrialisierung gezielter zu fördern. Auf diese Weise ging die Politik der Importsubstitution4 und der industriellen Entwicklung der großen Weltwirtschaftskrise von 1930 voraus.

Seit 1905 wurden die wichtigsten Kupfervorkommen in Chile vom US-amerikanischen Kapital ausgebeutet. Ende der 1920er Jahre machte seine Produktion 93 Prozent der nationalen Kupferproduktion aus5. Die enormen Gewinne dieser Unternehmen und die Vorzüge, die sie bei diesen Vorkommen genossen, waren natürlich ein Problem für die chilenische Bergbaugesellschaft6 und die gesamte chilenische Bourgeoisie, ähnlich wie es bei der beginnenden Aufteilung der Welt in vielen Ländern der Fall war. In den Gewerkschaften und unter den Sozialisten stieß eine Ablehnung der USA auf große Resonanz und Forderungen nach der Erhöhung der Steuern bis hin zur Verstaatlichung der Bergbauindustrie wurden populär.

Die Landwirtschaft war währenddessen von der Vorherrschaft von Großgrundbesitz und einer starren sozialen Hierarchie geprägt. Die Forderungen nach einer Agrarreform, vor allem nach der Aufteilung des Landes an die landlosen Bauern, gab es seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch im Präsidentschaftswahlkampf der Volksfront von 1938 hatte diese Forderung eine wichtige Rolle gespielt. Dieses Wahlversprechen wurde von der Volksfrontregierung allerdings nicht erfüllt. Auch aufgrund der wachsenden Industrialisierung wanderten hunderttausende Bauern in die Städte ab, was die aufkommende Krise in der Agrarwirtschaft noch verschärfte. Der Bedarf an Lebensmitteln konnte in der Folge nicht mehr durch die eigene Produktion gedeckt werden und in den 1950er Jahren wurde es notwendig, diese teuer zu importieren, was die Forderung nach der Agrarreform in der allgemeinen Bevölkerung wieder stark machte.

1960er Jahre

Der Vertreter der chilenischen Großbourgeoisie und späterer Unterstützer Pinochets, Montalva, gewann die Wahlen 1964 mit der Unterstützung der Rechten und besiegte damit Allende, der zum zweiten Mal kandidierte. Sein reformistisches Programm der “Revolution in Freiheit” schlug eine Reihe von Reformen vor, in deren Mittelpunkt eine neue Kupferpolitik stand, die als “Chilenisierung des Kupfers” bekannt wurde. Diese Maßnahme ermöglichte die staatliche Teilhabe am Eigentum des Kupferbergbaus im Rahmen einer Partnerschaft mit ausländischem Kapital7.

Inmitten dieses Prozesses ließen der Anstieg des Kupferpreises und die hohen Gewinne der US-Konzerne die öffentliche Debatte über eine vollständige Verstaatlichung wieder aufleben. Die Regierung wurde dadurch gezwungen, eine klare Haltung zugunsten einer Verstaatlichung einzunehmen und ebnete so den Weg für die Maßnahmen der Regierung Allendes. Konkret hieß das, die einzelnen Schritte zu benennen, die die vollständige Verstaatlichung des Kupferbergbaus bis 1969 ermöglichten.

In den frühen 1960er Jahren verstärkte sich der Druck für eine Agrarreform in der chilenischen Wirtschaft erheblich. Diese wurde sowohl teilweise von der katholischen Kirche unterstützt, die ihr eigenes Land unter den Bauern verteilte, als auch in Verbindung mit der “Allianz für den Fortschritt” seitens der Vereinigten Staaten.8

Die konservative Regierung von Alessandri schlug 1962 das erste Agrarreformgesetz vor, das die Umverteilung von staatlichem Land an die Bauern und die Einrichtung von Finanzinstitutionen zur Durchführung der Reform auf dem Lande ermöglichte. Mit dem Regierungsantritt von Montalva 1964 erreichte der Prozess eine neue Dynamik. Unter dem Motto “das Land denen, die es bearbeiten” wollte das Reformprogramm die Agrarwelt modernisieren9. Um dieses Ziel zu erreichen, ging die Regierung auch bestimmte Kompromisse ein, wie beispielsweise die Zulassung der gewerkschaftlichen Organisation der Bauern.

Genau wie in anderen Teilen Lateinamerikas waren die sechziger Jahre von den Bemühungen der nationalen Bourgeoisie geprägt, einen größeren Teil der vor Ort erwirtschafteten Gewinne zu erwerben, während sie eng mit dem internationalen Kapital verbunden blieb. Das widersprach natürlich den Interessen des längst in der Region etablierten ausländischen Kapitals, vor allem des US-Amerikanischen. Die chilenische Bourgeoisie hatte unter anderem durch eine gewisse Industrialisierung ein relevantes Maß an Kapitalakkumulation erreicht und forderte den entsprechenden politischen Einfluss. Die Arbeiterklasse war gleichzeitig im Formierungsprozess und in der Lage, einen gewissen Druck auf politische Themen auszuüben. Die politische und soziale Selbstorganisierung der Arbeiterklasse und der Volksschichten nahm deutlich zu, beispielsweise bildeten sich in den 1960ern spontan die “Ollas Comunes” (Gemeinsamen Kochtöpfe), die Volksküchen für die Werktätigen darstellten und damit eine günstige und relativ ausgewogene Ernährung ermöglichten.10

Politische Akteure der 1960er und 1970er Jahre

Im Kontext des Kalten Krieges hatte der Triumph der kubanischen Revolution im Januar 1959 starke Auswirkungen auf ganz Lateinamerika und die Karibik. In Chile führte dieses Szenario zu einer starken politischen und ideologischen Polarisierung. Innerhalb der politischen Linken gab es dabei natürlich erhebliche Unterschiede zwischen der revolutionären und der reformistischen Linken.

Auf der einen Seite setzten die reformistischen Akteure üblicherweise auf eine schrittweise Vertiefung des sozialen Wandels durch institutionelle Reformen. Die revolutionäre Strömung hingegen vertrat die Ansicht, dass der soziale Wandel durch direkte Konfrontation mit der herrschenden Klasse und dem Staat erreicht werden müsse, früher oder später durch bewaffneten Kampf. Die wichtigsten Akteure, die auch eine erhebliche Rolle in Allendes Regierung spielten, werden hier kurz dargestellt.

Partido Comunista de Chile (Kommunistische Partei Chiles)

Unter dem Einfluss der russischen Revolution und mit der Unterstützung der Kommunistischen Internationalen (Komintern) ging die Kommunistische Partei Chiles 1922 aus der Partido Obrero Socialista (Sozialistische Arbeiterpartei) hervor. Ende der 1930er Jahre beteiligte sich die Partei unter dem Titel Frente Popular (Volksfront) an einem Wahlbündnis mit Sozialdemokraten, Anarchisten und Linksliberalen, vor allem der Partido Radical (Radikale Partei), das Bündnis bildete bis 1941 die Regierung. Diese klassenübergreifende Plattform stand im Einklang mit der Taktik der Komintern zu dieser Zeit, die dadurch die Verbreitung des Faschismus nach dem Vorbild der französischen Volksfront verhindern wollte. Trotz der Teilnahme an der Volksfront stellte die KP keine Minister und bewahrte eine kritische Distanz zur Regierung. Die von den Liberalen dominierte Regierung setzte keine weitreichenden Reformen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse und der Volksschichten um, was zunächst zum Bruch mit den Kommunisten und dann sogar mit den Sozialdemokraten und damit zum Ende des Bündnisses führte.

Während des Kalten Krieges vollzog die Regierung der Radikalen Partei einen Rechtsruck, und die Kommunisten wurden mit der Verabschiedung des “Gesetzes zur ständigen Verteidigung der Demokratie”, einer klar antikommunistischen Maßnahme, im Jahr 1948 strafrechtlich verfolgt.

Zu Beginn der 1950er Jahre kehrte die KP in einem Bündnis mit der Partido Socialista (Sozialistische Partei, Schwesterpartei der SPD) zurück auf die parlamentarische Bühne. Dieses Bündnis organisierte die vier Kandidaturen von Salvador Allende bis zu seinem Wahlsieg im Jahr 1970. Während der Regierung der Unidad Popular – das 1969 von der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei gegründete Wahlbündnis – bemühte sich die Kommunistische Partei um die Verfolgung ihrer Strategie zur schrittweisen Verwirklichung des Sozialismus auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie. Mit ihren Analysen und ihrem Vertrauen auf den parlamentarischen Weg blieb sie dabei sogar hinter Teilen der PS zurück, die das Aufstellen bewaffneter Einheiten vorbereitete.11

Partido Socialista de Chile (Sozialistische Partei Chiles)

1933 gründeten Sozialdemokraten, christliche und liberale Linke die Sozialistische Partei. Bei der Gründung definierte sich die PS selbst als „revolutionär“ und erkannte die Überwindung des Kapitalismus als politischen Horizont zumindest dem Worte nach an. In der Realität fokussierte sich die Partei, wie so oft, auf den parlamentarischen Weg und den institutionellen Reformismus.

Schon in den ersten Jahren ihres Bestehens versuchte die Partei strategische politische Bündnisse zu entwickeln, um die Kräfte der Linken unter ihrem Einfluss zu vereinen. In den 1930er Jahren war sie beispielsweise zusammen mit der Kommunistischen Partei Chiles Teil der Volksfront. Als das “Gesetz zur ständigen Verteidigung der Demokratie” 1948 verabschiedet wurde, zeigte die PS wenig praktische oder politische Unterstützung für die Kommunisten.12

Unter dem Eindruck der kubanischen Revolution entwickelte sich die PS in den 1960ern nach links. 1967 verabschiedeten sie Positionen, die klar den Aufbau einer Planwirtschaft innerhalb eines Arbeiter- und Bauernstaates als Zielstellung formulierten.13 Innerhalb der PS gab es dabei Streitigkeiten um die Strategie: Während der von Allende angeführte reformistische Flügel auf den parlamentarischen Weg setzte, propagierten andere Teile die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfs.

1970 gewann sie als Teil der Unidad Popular mit dem Kandidaten und PS-Mitglied Salvador Allende Gossens ihre erste Präsidentschaftswahl. Die PS versuchte damit nach eigener Aussage, den “chilenischen Weg zum Sozialismus” zu verwirklichen.

Movimiento de Izquierda Revolucionaria (Revolutionäre Linke Bewegung)

1965 wurde die MIR von einem Zusammenschluss von vor allem, aber nicht ausschließlich, studentischer Organisationen gegründet. In ihrer Grundsatzerklärung definierte sie sich als “marxistisch-leninistische Avantgarde der Arbeiterklasse und der unterdrückten Schichten Chiles”.14 In wenigen Jahren wurde sie zu einem zentralen Bezugspunkt der außerparlamentarischen revolutionären Kräfte in Chile.

Die MIR verstand sich selbst nicht als Kommunistische Partei, sondern als demokratisch-zentralisitisch organisierte Bewegung, die inspiriert von der kubanischen Revolution auf den bewaffneten Weg setzte und eine klandestine Arbeitsweise pflegte. Im Vorfeld der Revolution erkannte sie scheinbar keine Notwendigkeit für eine KP, ließ aber keinen Zweifel daran, dass der Aufbau des Sozialismus nur unter Führung der Kommunistischen Partei organisiert werden könne.

Während der Regierung der Unidad Popular war die MIR nicht Teil der Regierungskoalition. Sie kritisierte von Beginn an den Versuch, den Sozialismus über den parlamentarischen Weg zu erreichen, begleitete die Regierung aber solidarisch kritisch, indem sie ihre Taktik der bewaffneten Aktionen einstellte und beispielsweise die Leibgarde für Allende stellte.15 Zwischen 1970 und 1973 konzentrierte sich die politische Aktion der MIR im Wesentlichen auf den sozialen Raum, mit dem Ziel, ihre Massenarbeit und ihre Strategie des Aufbaus der Volksmacht zu konsolidieren.

Partido Radical (Radikale Partei)

Die Partido Radical war eine traditionelle Partei eines Teils der liberalen chilenischen Bourgeoisie. Ökonomisch vertrat sie eine Politik, die sich an den Interessen dieses Teils des Kapitals orientierte, mal geprägt von Angriffen auf die Arbeiterklasse und die Volksschichten, mal in Übereinstimmung mit Reformforderungen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Massen.

Schon in der Volksfront der 1930er Jahre beteiligte sie sich gemeinsam mit der KP und der Sozialistischen Partei an der Regierung und stellte dabei die ersten beiden Präsidenten. Die zunehmenden Konflikte vor allem um Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik führten dann zum Bruch der Volksfront. Die Partido Radical setzte im Nachgang der Volksfront antikommunistische Gesetze um und verschärfte die Repression gegen die Arbeiter- und Volksbewegung.

Trotz dieser Erfahrungen und Konflikte konnte sich die Partido Radical auch an der Unidad Popular beteiligen. An der knappen Mehrheit, mit der Allende zum Präsidenten gewählt wurde, lässt sich erkennen, dass diese Breite notwendig war, um einen Wahlsieg zu ermöglichen.

Die Regierung der Unidad Popular

Die von der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei angeführte Unidad Popular vereinte sozialdemokratische Parteien, die Kommunistische Partei, Bauern- und Gewerkschaftsbewegungen und Teile des liberalen chilenischen Kapitals – repräsentiert vor allem durch die Radikale Partei – mit dem Ziel, einen Wahlsieg in Chile zu erreichen. 1970 brachte sie Allende mit einer knappen Mehrheit ins Präsidentenamt. Allende selbst war Mitglied der Sozialistischen Partei. Die KP diskutierte darüber, selbst einen Kandidaten zu stellen, konnte den Literaturnobelpreisträger und Kommunisten Pablo Neruda aber nicht dafür gewinnen und verfügte außer ihm über keine Person, die in ihrer Popularität mit Allende vergleichbar gewesen wäre.

Das Wahlbündnis verabschiedete 1969 sein Grundsatzprogramm: Konstituierung der Volksmacht und des Volksstaates, mit dem Aufbau einer “neuen” Planwirtschaft. Der “chilenische Weg zum Sozialismus” postulierte die Möglichkeit für ein kapitalistisches Land, einen demokratischen und friedlichen Übergang zum Sozialismus zu schaffen. Im Gegensatz dazu steht die erfolgreiche kubanische Revolution auf dem bewaffneten Weg, ein Jahrzehnt zuvor und ebenso der Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution.

In den Kämpfen der Arbeiterklasse und der Bauern konnten sich die KP und die PS als führende Kräfte etablieren und verfügten unter den Werktätigen dadurch über großen Rückhalt. Die Unidad Popular wurde dementsprechend sehr umfassend als legitime Vertretung der Arbeiter- und Volksbewegung akzeptiert und auch von Organisationen, die auf den bewaffneten Weg setzten (z.B. die MIR) respektiert.

Verstaatlichungen

Allende und die Unterstützer der Unidad Popular waren überzeugt davon, dass der Sozialismus auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie aufgebaut werden konnte. In diesem Sinne war es bezeichnend, dass eines der wenigen Gesetze, die im Parlament verabschiedet wurden, die Verstaatlichung des Kupferbergbaus war. Der Sieg von Allende gab dem vorherigen Prozess der Verstaatlichung einen neuen Impuls. 1971 verabschiedete der Nationalkongress mit nur wenigen Änderungen und einstimmig die Verfassungsänderung, die die vollständige Verstaatlichung des Kupferbergbaus ermöglichte.16 Dies verdeutlicht, dass diese Verstaatlichung nicht im Widerspruch zum chilenischen Kapital erkämpft wurde, sondern auch von diesem als notwendig angesehen wurde, um die Produktivkräfte in den eigenen Händen zu entwickeln.

Die Verstaatlichung des Kupfers verschaffte der Regierung Allendes Zugang zu einem wichtigen Teil der Staatseinnahmen, die zur Finanzierung anderer Projekte der Unidad Popular verwendet werden konnten. Andererseits schuf sie die offene Feindschaft mit dem US-amerikanischen Kapital.

Obwohl das Gesetz zur Verstaatlichung des Kupfers ohne Opposition im Kongress verabschiedet wurde, galt dies nicht für den Versuch, die großen Monopole, so wie im Programm angekündigt, zu verstaatlichen.17 Diesbezüglich beschloss die Regierung sich auf ein vergessenes, aber immer noch gültiges, Dekret aus der Zeit der sogenannten Sozialistischen Republik von 1932 zu berufen, das es der Regierung der Unidad Popular erlaubte, jeden als für die Wirtschaft strategisch angesehenen Industriezweig zu enteignen.

Die Unidad Popular gliederte die Unternehmen in drei Bereiche: gesellschaftlich, bestehend aus Unternehmen von gesellschaftlichem Interesse in staatlicher Hand; gemischt, mit dem Staat als Hauptaktionär; und privat, bestehend aus kleinen Unternehmen18. Eine komplette Unterwerfung wichtiger Bereiche der Wirtschaft unter einen einheitlichen Plan hat nie stattgefunden. Auch die staatlichen Unternehmen regelten ihren Betrieb über den Markt, so dass die Produktion weiterhin nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert werden konnte. Auch wenn das Programm formal die Beteiligung der Arbeiter an der Leitung der Unternehmen vorsah, wurde mit der kapitalistischen Eigentumsform und Produktionsweise nicht gebrochen und die Beteiligung beschränkte sich auf ähnliche Maßnahmen, wie sie das deutsche Betriebsverfassungsgesetz vorschreibt.

Agrarreform

Die Regierung unter Allende setzte den Prozess der Agrarreform gewissermaßen fort. Sie nutzte die von der Vorgängerregierung erlassenen Rechtsinstrumente, um große Flächen zu enteignen und sie der staatlichen Verwaltung, landwirtschaftlichen Genossenschaften oder Kleinbauern zu übertragen19. Dieser Prozess wurde auch von einer bäuerlichen Bewegung begleitet, die Land besetzte und in großer Menge in Beschlag nahm. Teile des chilenischen Kapitals unterstützten diese Reformen, da sie hofften, dadurch die Effizienz der Lebensmittelproduktion zu steigern und die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren, was bereits die Regierungen vor Allende zu ähnlichen Maßnahmen motiviert hatte.

Zum Zeitpunkt des Staatsstreichs am 11. September 1973 hatte die Unidad Popular etwa 4.400 landwirtschaftliche Grundstücke mit einer Gesamtfläche von mehr als 6,4 Millionen Hektar enteignet. In der vorherigen Regierung Montalvas, die den Prozess der Agrarreform eingeleitet hatte, wurden zum Vergleich rund 1.400 landwirtschaftliche Flächen, d. h. 3,5 Millionen Hektar, enteignet. Damit enteignete die Allende-Regierung fast doppelt so viel Land wie die offen bürgerliche Regierung.

Wohnungsbau

Im ersten Jahr der Regierung Allendes wurden 100.000 Häuser gebaut, die von der nationalen Statistikbehörde registriert wurden. Die Corporación de Mejoramiento Urbano (CORMU, Körperschaft zur urbanen Verbesserung) setzte sich zum Ziel, die Segregation der Klassen in den chilenischen Städten zu bekämpfen. In direkter Abstimmung mit den lokalen Wohnungskomitees entstanden Großprojekte im Zentrum der wohlhabendsten Stadtteile der Hauptstadt. In unmittelbarer Nähe vieler Großbetriebe und Minen wurden Wohngebiete für Arbeiter errichtet, die auf einem relativ hohen Niveau ausgestattet waren – also über größere Räume, fließendes Wasser sowie über Strom verfügten. Durch diese Wohngebiete konnte die Anbindung an Geschäfte des täglichen Bedarfs und die Nähe zu Erholungs- und Freizeitstätten mit kurzen Arbeitswegen verbunden werden.

Nachdem 1971 ein starkes Erdbeben den zentralen Teil des Landes erschüttert und Tausende von Häusern in Trümmern hinterlassen hatte, stiftete die UdSSR eine komplette Fertighausfabrik und schickte Techniker zur Ausbildung des örtlichen Personals.

Der Umgang mit den staatlichen Institutionen

Im Programm der Unidad Popular stand folgende Feststellung: “Die revolutionären Veränderungen, die das Land braucht, können nur erreicht werden, wenn das chilenische Volk die Macht selbst in die Hand nimmt und sie wirklich und wirksam ausübt”20. Allerdings wurden in den drei Jahren an der Regierung keine wesentlichen Maßnahmen in diese Richtung eingeleitet und der Staat weiterhin durch den bürgerlichen Staatsapparat verwaltet. Die von der Unidad Popular vorgeschlagene Form der “Volksmacht” bedeutete nichts anderes als eine Ausweitung der bürgerlichen repräsentativen Demokratie. Damit vertrat sie Illusionen über den Klassencharakter der bürgerlichen Macht und der repräsentativen Institutionen unter den Bedingungen der kapitalistischen Herrschaft.21

Die chilenische Rechte, inklusive der großen Medien, beziehen sich gerne und häufig auf den langen Besuch Fidel Castros in Chile 1971, um nahe zu legen, dass die Unidad Popular einen Sozialismus nach kubanischem Modell aufbauen wollte. Dabei lassen sie aus, dass Allende die Vorschläge Fidels zur Überführung des parlamentarischen Prozesses in eine wahrhafte sozialistische Revolution in ihrer Breite ablehnte.

Die Unidad Popular proklamierte die Intention des Aufbaus einer Volksversammlung (“Assemblea del Pueblo”), die “auf nationaler Ebene die Souveränität des Volkes zum Ausdruck bringen”22 sollte. Im Wesentlichen entsprach sie dem bürgerlichen Parlamentarismus, da die verschiedenen Elemente der Bourgeoisie in ihr vertreten waren, und nicht die Volkssouveränität. Die von der Unidad Popular geplante allmähliche Umwandlung des bürgerlichen Staatsapparates in einen volkseigenen Apparat fand in Chile sicherlich nicht statt. Da der bürgerliche Staat von der Arbeiterklasse nicht zerschlagen wurde, blieb er das Instrument ihrer Unterdrückung.

Es wurden auch keine wesentlichen Änderungen im Repressionsapparat vorgenommen. Neben einer vagen Zielstellung wie der “Humanisierung des polizeilichen Vorgehens”23 erwähnte das Programm weder die gemeinsamen Militärhochschulen mit den USA, noch die verschiedenen militärischen und natürlich auch ideologischen Ausbildungsprogramme, die die USA der chilenischen Armee “anbot”. Allgemein blieben die engen militärischen Beziehungen der US-Armee zum chilenischen Staat unberührt. Der Sabotage und der mit Lügen durchzogenen Propaganda der chilenischen Bourgeoisie konnte so nichts entgegengesetzt werden. Die Repressionsorgane und der juristische Apparat waren weiterhin ideologisch und strukturell an den bürgerlichen Staat und seine Hauptaufgabe – die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Akkumulationsbedingungen – gebunden.

Als der Vormarsch der Rechten bereits unbestreitbar war, wollte Allende ein Referendum ankündigen, das über seinen weiteren Verbleib im Amt entscheiden sollte, anstatt auf die Vorschläge der revolutionären Kräfte zur sofortigen Bewaffnung der Werktätigen einzugehen. Das angekündigte Plebiszit fand nie statt, da der Putsch ihm zuvorkam.

Sonstige Bereiche

Im Gesundheitsbereich wurde die Ausstattung der Krankenhäuser verbessert und beispielsweise ein Programm zur Verteilung eines halben Liter Milchs pro Tag an jedes Kind umgesetzt. Im Bildungsbereich wurden die Vorschul-, Grund- und Industrieausbildung gefördert und der Zugang zur Universität erweitert.

Eine Kulturpolitik wurde nie klar definiert. Es gab jedoch zahlreiche Aktivitäten mit Regierungsbeteiligung, wie die Gründung des Verlags Quimantú. Hervorzuheben sind musikalische Entwicklungen, vor allem die Nueva Canción Chilena (Neues Chilenisches Lied). Durch Gruppen wie Quilapayun oder Sänger wie Victor Jara wurde die Perspektive der Arbeiterklasse und der chilenischen Volksschichten zum Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens. In den Liedern fanden sich klassenkämpferische Losungen und Bezugnahmen auf Kämpfe der chilenischen Arbeiterklasse, wie auch internationalistische Lieder, die z.B. den Kampf des vietnamesischen Volks beschrieben.

Der Niedergang der Unidad Popular und die weitere Entwicklung

Verschärfung der Widersprüche während der Regierungszeit

Da die Marktgesetze weiterhin herrschten, führten die Sozialausgaben zu einem wachsenden Defizit an Haushaltsmitteln, welches die Regierung durch die Ausgabe von Steuergeldern zu beheben versuchte. Dies führte zu einem Inflationsprozess, der durch schwerwiegende Versorgungsprobleme, Hortung und ökonomische Sabotage noch verschärft wurde.

Im wirtschaftlichen Bereich waren die Illusionen in eine Möglichkeit der Regulierung der Marktmechanismen, zugunsten einer auf die Bedürfnisse des Volkes ausgerichteten Wirtschaft, besonders deutlich. Als Maßnahmen gegen die damalige Inflation verfolgte die Volkseinheit beispielsweise “Maßnahmen zur Anpassung des Geldflusses an die realen Bedürfnisse des Marktes, zur Kontrolle und Umverteilung von Krediten und zur Vermeidung von Wucher im Geldhandel, zur Rationalisierung von Vertrieb und Handel und zur Stabilisierung der Preise”24.

1965 schlossen sich die Parteien der Konservativen, der Liberalen und der Nationalen Aktion zu einem gemeinsamen Bezugspunkt zusammen: der Nationalen Partei (1966). Dies ermöglichte es ihr, einen Teil der rechten Wählerbasis zurückzugewinnen. Trotzdem verlor sie bei den Präsidentschaftswahlen 1970 mit nur wenigen Stimmen gegen Allende. Während der Regierung der Unidad Popular zeichnete sich die Nationale Partei durch eine totale Opposition aus, deren Ziel es war, das Programm von Allende durch eine permanente parlamentarische Opposition, Massenmobilisierung und landesweite Streiks zu stoppen. Die Christdemokraten, die ursprünglich die UP und Salvador Allende unterstützten, schlossen sich dieser Opposition schnell an.

Auch gelbe Gewerkschaften wie die der Ärzte, des Einzelhandels, der LKW-Fahrer und der Bergarbeiter von El Teniente stellten sich unter dem Vorwand der wirtschaftlichen Instabilität gegen die Regierung, was nachgewiesenermaßen durch die CIA forciert wurde25, aufgrund der erlebbaren Probleme und Mängel unter den Werktätigen aber teilweise auf Anklang stoß. Diese Proteste hatten allerdings überhaupt nicht die Beseitigung der Probleme zum Ziel, sondern waren selbst Teil der ökonomischen Sabotage, indem beispielsweise der Streik der LKW-Fahrer genutzt wurde, um die zentralen Lieferwege zu blockieren und so die Versorgungsproblematik zu verschlimmern.

Großbauern bekämpften die Agrarreform und besetzten ihrerseits Land, das von der Regierung an Kleinbauern oder Genossenschaften verteilt worden war. Sie sabotierten die Lebensmittelproduktion und führten damit Engpässe herbei, die durch teure Importe ausgeglichen werden mussten.

Faschistische Gruppen, unterstützt durch Teile des chilenischen Kapitals und durch ausländische – vor allem US-amerikanische – Förderung formierten sich. Sie begleiteten die ökonomische Sabotage und die politischen Schmierkampagnen der legalen Opposition durch direkten Terror. In den Jahren der Regierung der Unidad Popular verübten sie um die 600 Anschläge auf Eisenbahninfrastruktur, Brücken, Hochspannungsleitungen und Pipelines.26

Innerhalb der Unterstützer der Regierung verschärfte sich die Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die den revolutionären Prozess beschleunigen und vertiefen wollten – MIR, Movimiento de Acción Popular Unitaria (MAPU, Bewegung der Einheitlichen Aktion des Volkes) und ein Teil der Sozialistischen Partei – und denjenigen, die mit der Begründung der Stabilisierung des Prozesses weiterhin auf kleine Schritte setzten – PC, Partido Radical (PR), Movimiento de Acción Popular Unitario-Obrero Campesino (MAPU-OC, Bewegung der Einheitlichen Aktion des Volkes – Proletarisch Bäuerlich) und der Teil der Sozialistischen Partei, der von Allende selbst angeführt wurde.

Der Putsch

Schon im Juni 1973 kam es zu einem Putschversuch, der allerdings scheiterte. Infolge der weiteren Stärkung der Opposition versuchte die Regierung erfolglos, Einigungen mit den Christdemokraten zu erreichen. Das Militär und wichtige Teile der Polizeieinheiten hatten traditionell eine enge Bindung an die Christdemokraten und Allende versuchte die Distanz zur parlamentarischen Opposition durch die Einbeziehung von Militärs in die Regierung auszugleichen. Im Rahmen dieser Umgestaltungen wurde Augusto Pinochet Heereschef des chilenischen Militärs, weil es von ihm hieß, dass ihn eine besondere Verfassungstreue auszeichne. Zuletzt plante Allende ein Plebiszit, das über sein weiteres Verbleiben im Amt entscheiden sollte. Es heißt, dass er dieses Plebiszit am 11. September ankündigen wollte.

Am 11. September 1973 begann der Putsch durch die Erhebung der Flotte in Valparaíso, der wichtigsten Hafenstadt Chiles. Allende befand sich mit engen politischen Vertrauten, Regierungsmitgliedern und seiner Familie im Präsidialpalast Moneda und hielt eine letzte Rede, die über die wenigen noch funktionstüchtigen Radiostationen ausgestrahlt wurde.27 In dieser Rede rief er das Volk zu Zuversicht und Kampfesmut auf und kündigte seinen Suizid an, den er kurz darauf beging. Die Luftwaffe begann, den Präsidialpalast Moneda zu bombardieren und Fußtruppen des Heeres begannen mit der Einnahme des Präsidialpalasts und des Parlaments.

Schon am selben Tag begannen die Putschisten mit der Einrichtung zentraler Gefangenenlager, auch das zentrale Fußballstadion wurde zu einem solchen umfunktioniert. Wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie der weltberühmte Kommunist und Musiker Victor Jara und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Luis Corvalan, wurden verhaftet und ersterer nur fünf Tage nach dem Putsch ermordet.

Die Diktatur

Die Militärjunta stabilisierte ihre Macht und erhielt großen Rückhalt aus dem Militär und aus zentralen Einheiten der Polizei. Auch Teile der werktätigen Bevölkerung erhofften sich vom Durchgreifen des Militärs ökonomische und politische Stabilität, die in den Jahren der Allende-Regierung abgenommen hatte. Auch wenn die Bundesregierung unter Brandt den Putsch verurteilte, gab es auch in der BRD sehr viele Stimmen aus Wirtschaft und Politik, die den Putsch begrüßten oder zumindest zurückhaltend verteidigten. Die sozialistischen Länder öffneten ihre Türen und bereiteten vielen Kommunisten und anderen Feinden der Junta eine neue Heimat. Hier ist unbedingt die DDR hervorzuheben, die viele Menschen bei der Flucht aus Chile unterstützte und große Kampagnen für die Freilassung von politischen Gefangenen organisierte.

Pinochet und sein Regime bauten einen umfassenden Repressionsapparat auf. Die Militärpräsenz auf der Straße wurde deutlich erhöht, Ausgangssperren eingeführt und ein flächendeckendes Netz von Zentralen der politischen Geheimpolizei eingeführt. Diese Zentralen sollten in den folgenden Jahren zu berüchtigten Folterkellern werden. Tausende von Kommunisten und andere politische Gegner wurden vom Militärregime getötet, verhaftet, gefoltert und ins Exil verbannt. Die KP wurde fast vollständig aufgerieben. Die MIR führte einige Aktionen aus dem Untergrund durch, aber auch viele ihrer Mitglieder wurden Opfer des Regimes. Trotz der harten und umfassenden Repression gab es während der gesamten Diktatur oppositionelle Aktivitäten, vor allem unter den Studierenden, die sich zu klandestinen Zellen zusammenschlossen.

Die Diktatur in Chile war neben der harten Repression vor allem durch ihre ökonomische Politik gekennzeichnet. Die sogenannten Chicago Boys, eine Gruppe von in den USA ausgebildeten Wirtschaftswissenschaftlern, prägten die gesamte ökonomische Ausrichtung des Regimes. Sie bestand in der vollständigen Privatisierung aller zentraler Lebensbereiche. Bildung, Kupfer, sogar das Wasser wurden fortan direkt durch Privatkapital verwaltet, die sozialen Maßnahmen der Unidad Popular ausgehebelt. Zunächst wurde dadurch ein wirtschaftlicher Aufschwung erzielt, der die Märkte und auch die Versorgung stabilisierte, die Lage der Werktätigen Chiles aber noch direkter dem Markt und seinen Schwankungen unterwarf. Das Regime arbeitete abgesehen von Antikommunismus, der Putsch und Repression rechtfertigte, wenig mit politischer Propaganda, wie sie beispielsweise der deutsche oder der italienische Faschismus genutzt hatten. Ideologische Stoßrichtung war ein ökonomischer Liberalismus, der dem Staat die Rolle gab, die politische Stabilität zu gewährleisten und wenig direkt in die wirtschaftlichen Entwicklungen einzugreifen. Öffentliche politische Debatten fanden nicht statt, vielmehr wurde propagiert, sich auf der Grundlage von Privatkrediten und dem damit finanzierten Konsum ein angenehmes Leben einzurichten.

In den 1980er Jahren verfolgte die KP offiziell eine Politik des Volksaufstandes, um der Diktatur Pinochets entgegenzutreten. Innerhalb der Opposition setzte sich allerdings stattdessen die Verhandlungsstrategie zur Wiedereinführung der bürgerlichen Demokratie durch, die von der Concertación de Partidos por la Democracia (Pakt der Parteien für die Demokratie) forciert wurde.

Der Weg zurück zur bürgerlichen Demokratie

Die Opposition im Land, aber auch der internationale Druck, wurden im Laufe der 1980er Jahre stärker, was das Regime dazu drängte, 1988 eine Volksabstimmung über die Beibehaltung der Militärdiktatur abzuhalten. Trotz der einheitlichen Propaganda der staatlichen und privaten Medien setzte sich hierbei das “Nein” mit einer Mehrheit von knapp 56% durch. Das Regime ignorierte dieses Ergebnis allerdings weitere zwei Jahre und übergab erst 1990 die Regierung wieder einem Parlament. Diese Übergabe fand friedlich und einvernehmlich statt, als die Diktatur ihre Zwecke erfüllt hatte, die Arbeiterbewegung zerschlagen und die für die Verbesserung der Akkumulationsbedingungen notwendigen ökonomischen Reformen durchgesetzt waren.

Die während der Diktatur gegründete Concertación stellte von 1990 bis 2010 die Regierung Chiles, was allerdings nicht als wirklicher Sieg der Opposition zu verstehen ist. Die Christdemokraten waren Teil dieses Bündnisses und boten nach 1990 den faschistischen Eliten eine politische Heimat. Die ersten zwei Präsidenten nach Pinochet stellten auch eben diese Christdemokraten. Darauf folgten der Liberale Escobar und die Sozialdemokratin Michelle Bachelet, bevor 2010 der pinochetistische Monopolist Piñera gewählt wurde.

Gegen die allermeisten Akteure der Militärdiktatur, von den Entscheidungsträgern bis zu den Folterknechten, wurden nie strafrechtliche Verfahren eingeleitet. Pinochet selbst konnte bis Ende der 1990er Jahre eine hohe Position im Militär ausüben und ihm wurde ein ruhiger Lebensabend in Wohlstand und Freiheit ermöglicht. Die von Pinochet eingeführte Verfassung, die die ökonomische Stoßrichtung, aber auch den autoritären Staatsaufbau festschreibt, gilt bis heute. Erst in der ersten Amtszeit von Bachelet wurden oberflächliche Schritte in der Aufarbeitung der Verbrechen gegangen. In den Mittelpunkt wurden die Ehrung der Opfer und die Verurteilung der Verbrechen gegen die Menschenrechte gestellt, eine konsequente strafrechtliche Verfolgung gegen die Täter ist bis heute ausgeblieben.

Politische Einschätzung

Zentrale Fehler

“Weil es sich dieses Mal nicht nur darum handelt

Den Präsidenten auszutauschen,

Wird es das Volk sein,

Welches ein ganz neues Chile aufbaut.”

(Lied der Unidad Popular)

Möglich gemacht hat den Putsch die unberührte Macht der chilenischen Bourgeoisie und die Unterstützung durch die USA. Doch wie hätte ein solcher Rückschritt verhindert werden können? Wie hätte aus der Bewegung der 60er Jahre doch noch eine proletarische Revolution werden können?

Ganz im Sinne der Volksfrontstrategie arbeitete die Kommunistische Partei Chiles aufs engste mit der Sozialdemokratie, vor allem in Gestalt der Sozialistischen Partei, zusammen. Beide Parteien berieten zusammen über ihre Auftritte für die Wahlen und stellten gemeinsam die Liste der Unidad Popular.

Die KP Chiles ist damals davon ausgegangen, dass die Sozialdemokratie, trotz ihrer Distanz zum sozialistischen Lager auf internationaler Ebene, auf der Seite der Arbeiterklasse und des chilenischen Volkes stehen würde. Trotz der mangelnden wissenschaftlichen Grundlage und der strategischen Inkonsequenz wurde in der organisierten Sozialdemokratie, inklusive ihrer Führung, damit ein Bündnispartner gesehen, mit dem man zumindest einige Schritte in Richtung Sozialismus gehen könne.

Dies steht im kompletten Widerspruch zu den Erkenntnissen der internationalen kommunistischen Bewegung aus den 1920er und frühen 1930er Jahren. Auf Grundlage der Rolle der Sozialdemokratie bei der Niederschlagung der Novemberrevolution in Deutschland, bei der Vorbereitung der Übertragung der Macht an die Nazis und der Erfahrungen vieler weiterer Länder wurde beispielsweise beim 5. Weltkongress festgehalten, dass nur die Kommunisten konsequent auf der Seite der Arbeiterklasse stehen. Die Sozialdemokratie war sich noch für kein Mittel zu schade, um den konsequenten Kampf der Arbeiterklasse zu behindern. Das heißt natürlich nicht, dass die Einheit mit den sozialdemokratischen Arbeitern abgelehnt werden dürfe – eben diese Einheit der Arbeiterklasse muss im Kampf geschmiedet werden, nur ist dieser Kampf eben immer auch gegen die sozialdemokratische Führung und gegen reformistische Vorstellungen zu führen. Die Komintern weichte diese Linie auf ihrem Kongress 1935 auf und orientierte in der Folgezeit stark auf die Volksfront, zunächst als Taktik gegen den Faschismus, später als Strategie für den Sozialismus – besser gesagt als Strategie für eine Zwischenetappe auf dem Weg zum Sozialismus. In dieser Tradition ist auch das Verhalten der Kommunistischen Partei Chiles zu verstehen.

Der Kampf gegen die reformistischen Vorstellungen wurde in Chile schmerzlich vernachlässigt. Die Arbeiterklasse wurde lediglich auf den parlamentarischen Weg eingeschworen und ihre eigenständige Organisierung dahinter zurückgelassen. Rätestrukturen, die die Macht hätten ausüben können, militärische Einheiten, die die Macht hätten verteidigen und durchsetzen können wurden nicht aufgebaut.

Zentraler Dreh- und Angelpunkt der Diskussionen um Chile, aber auch um andere von “linken” Sozialdemokraten regierten Länder heute, ist die Machtfrage. Die Regierung eines kapitalistischen Landes hat keine andere Möglichkeit, als den Kapitalismus zu verwalten. Sie kann dies zeitweilig etwas angenehmer gestalten, aber jede Reform ist auf Sand gebaut und die Lage der Arbeiterklasse weiterhin direkt dem Auf und Ab der Märkte und damit der periodisch wiederkehrenden Krisen ausgeliefert. Dass eine solche Regierung, selbst wenn man die besten Intentionen unterstellt, nicht dauerhaft die Lage der Arbeiterklasse verbessern kann, erfährt aktuell das venezolanische Volk am eigenen Leib.

Die Arbeiterklasse und die Volksschichten, die sich in den 60er Jahren fest organisiert hatten und wichtige Kampferfahrungen machen konnten, wurden nun angehalten, sich auf die Regierung zu verlassen. Der bürgerliche Staat selbst – das Instrument des Kapitals zur Durchsetzung und Verwaltung seiner Interessen – wurde nicht angegriffen, sondern sollte ausgenutzt werden, um über Reformen Schritt für Schritt näher an den Sozialismus zu kommen. Doch wird aus dem Kapitalismus nicht plötzlich Sozialismus, wenn nur ausreichend Arbeitsschutzgesetze erlassen werden. Der Sozialismus kann nur durch die als Staatsmacht organisierte Arbeiterklasse unter Führung der Kommunistischen Partei aufgebaut werden. Die Macht des Kapitals muss nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zerschlagen werden, die bürgerlichen Apparate müssen durch Apparate der sozialistischen Selbstverwaltung ersetzt werden.

Das heißt auch, die militärische Macht in die Hände der Arbeiterklasse zu nehmen. Die Oktoberrevolution konnte siegen, weil breite Massen in die Rote Armee geströmt sind und so die politische Macht der Räte auch militärisch verteidigt werden konnte.

Die Situation in Chile war eine sehr besondere, denn das Volk war gut organisiert, das Klassenbewusstsein zumindest so hoch, dass die Notwendigkeit des Zusammenschlusses und der Durchsetzung der eigenen Interessen gegen das Kapital erkannt wurde. Hier soll nicht gesagt werden, dass es falsch war, in einer solchen Situation die Regierung zu übernehmen, aber dabei muss die Zielstellung sehr klar sein: Eine Übernahme der Regierungsverantwortung sollte es nur dann geben, wenn dadurch die tatsächliche Revolution vorangetrieben werden kann: Statt weiterhin auf die bürgerliche Armee und ihre Führung zu vertrauen, hätten die Kommunisten nach der Wahl so schnell wie möglich die Aufstellung von Betriebskampfzellen und andere militärische Einheiten des werktätigen Volks angehen müssen. Die Bewaffnung der chilenischen Arbeiterklasse und der Volksschichten, mit dem Ziel der Umsetzung ihrer Interessen, mit dem Ziel der tatsächlichen Eroberung der politischen und ökonomischen Macht, wäre die Hauptaufgabe dieser Regierung gewesen. In allen zentralen Bereichen (bewaffnete Kräfte, Infrastruktur, Nahrungsversorgung, Bildung und Gesundheit) hätten Organe der sozialistischen Selbstverwaltung – Räte – eingesetzt werden müssen. Eine solche Initiative kann nicht von einer bürgerlichen Regierung – so links sie auch sein mag – beschlossen werden, sie muss von den Massen selbst unter Anleitung der Kommunistischen Partei entwickelt werden. Ob es also richtig ist, die Regierung zu übernehmen, hängt einzig und allein davon ab, ob diese Maßnahmen dadurch umgesetzt werden können. Beispiele für eine erfolgreiche Umsetzung der Taktik der Regierungsübernahme, zur Erringung der Macht der Arbeiterklasse, gibt es allerdings bis heute keine.

Die Enteignung des Kapitals kann nur dann einen sozialistischen Charakter haben, wenn die Verwaltung bzw. der Staat selbst einen sozialistischen Charakter hat. Die Deutsche Bahn ist kein sozialistischer Betrieb, nur weil die Bundesrepublik Anteilseigner ist. Nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparats, die Entmachtung der Bourgeoisie als Ganze und der Aufbau von sozialistischen Strukturen, ermöglichen die Planung und Kontrolle der Wirtschaft und aller gesellschaftlichen Vorgänge. Nur so kann ein zentraler Plan überhaupt umgesetzt und der Einfluss des noch existierenden kleineren Kapitals schrittweise zurückgedrängt werden. Wenn der bürgerliche Staat selbst produktives Kapital besitzt, sind dadurch Markt und Profitzwang nicht aufgehoben, der Staat wird nur zu einem der Akteure auf dem Markt.

Diese Schritte wurden in Chile nicht gegangen. Das organisierte Volk wurde demobilisiert und auf das Vertrauen in die Regierung eingeschworen. Nach drei Jahren der Allende-Regierung war es nicht in der Lage, sich gegen die Putschisten zu verteidigen.

Aus der Erfahrung Chiles müssen alle Kommunisten lernen

Sowohl die Regierung Allendes und die damit verbundenen Fortschritte, als auch der Putsch und die fast 20 Jahre andauernde Pinochet-Diktatur haben bis heute ihre Spuren in der chilenischen Gesellschaft hinterlassen. Die harten Privatisierungen, die weiterhin alle grundlegenden Bedürfnisse direkt dem Markt und seinen Spekulationen überlassen, wurden bis heute nicht wesentlich zurückgenommen. Die chilenischen Monopole sind gestärkt durch die Diktatur äußerst stabil aufgestellt und beherrschen direkt die Medien, das Bildungswesen und alle zentralen Ressourcen, sowie einen Großteil der dazugehörigen Infrastruktur.

Dieser Zustand führt bis heute zu zwei grundlegenden Problemen: Das Niveau der Lebens-, Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen unterliegt deutlich stärker den Schwankungen des Marktes und den aktuellen Entscheidungen der Bourgeoisie, als es bei einer keynesianischen Wirtschaftspolitik der Fall wäre, bei der der Staat stärker in die Wirtschaft eingreifen würde. Gleichzeitig – und das ist das andere Problem, in gewisser Weise eine Widerspiegelung des ersten Problems – wird diese Besonderheit, diese Erscheinungsform des Kapitalismus in Chile von allen zentralen “linken” politischen Akteuren in Chile verabsolutiert. Allendes parlamentarischer Kampf gegen einen Teil des Kapitals wird hier weiterhin als Vorbild genommen, um in einem ersten Schritt, einer ersten Etappe, zunächst zusammen als bunte Bewegung die schlimmsten Formen der kapitalistischen Barbarei zu überwinden. Doch trotz des historischen Vorbilds blieb auch bisher jede Regierung seit dem Putsch mit ihren Forderungen und Reformen weit hinter Allende zurück. Auch die Kommunistische Partei ist bis heute der Praxis verschrieben, sich an Regierungen (z.B. der aktuellen) zu beteiligen, anstatt auf den Zusammenhang zwischen der Situation der Arbeiterklasse und den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus hinzuweisen, anstatt eine Strategie für den Kampf um den Sozialismus zu entwickeln und die Massen dahingehend zu orientieren.

Die mangelnde Aufarbeitung der Diktatur führt bis heute dazu, dass die Verbrechen der Militärdiktatur regelmäßig verharmlost werden. Es ist für Politiker kein Ausschlusskriterium, sich öffentlich positiv über Pinochet zu äußern, ganz im Gegenteil bringt dies ihnen bei einem Teil der Bevölkerung Sympathien ein, deren Wohnzimmer häufig immer noch mit Bildern von Pinochet geschmückt sind.

Die ökonomisch liberale Ideologie des Pinochet-Regimes prägt immer noch die chilenische Gesellschaft. Die meisten können sich einen Fernseher anschaffen, auch wenn sie ihn sich eigentlich nicht leisten können – in jedem Laden können Kredite aufgenommen werden und die ökonomische Selbstständigkeit von Arbeiter- und Volksfamilien wird damit ein Leben lang so gering wie möglich gehalten. Diese Abhängigkeit von Krediten, das ständige Leben in relativem Wohlstand, aber kurz vor dem finanziellen Bankrott, sind starke Hindernisse für die Organisierung der Massen.

Auch die Medien sind weiterhin geprägt von dieser Kultur des scheinbar Unpolitischen. Über Politik wird kaum und wenn dann nur sehr oberflächlich berichtet und die ersten Polit-Talkshows gibt es erst seit dem Aufkommen stärkerer Protestwellen in den letzten Jahren. Große Protestbewegungen werden in der Regel nicht aus unterschiedlichen Volksschichten heraus angeführt, vielmehr sind es die Studierenden der teuren Privatunis, die hier immer wieder hervorstechen. Auch ihr Kampf um kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung ist gerecht, aber ihre Isolation von den Kämpfen der Arbeiterklasse ist bezeichnend. Eine ausdauernde Mobilisierung breiter Volksschichten wurde seit 1973 nicht mehr erreicht.

Aus der Erfahrung des chilenischen Volks können wir lernen, wie gefährlich die Vorstellung ist, durch ein kleineres Übel, ein größeres zu verhindern. Die Zusammenarbeit mit den liberalen Teilen des Kapitals und die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie konnten den Putsch in Chile nicht aufhalten. Die parlamentarische Regierungsform und der Faschismus stellen keinen absoluten Gegensatz dar. Die Pinochet-Diktatur hatte zwei konkrete, miteinander verbundene Aufgaben zu erfüllen, nämlich 1) die brutale Vernichtung der Arbeiterbewegung und Kommunisten und 2) die gewaltsame Erzwingung ökonomischer Reformen, die die Macht des Kapitals über die AK dauerhaft und strukturell vergrößern sollte. Nachdem die Diktatur diese Zwecke erfüllt hatte, hatte sie kein großes Problem damit, wieder abzutreten und einer bürgerlich-demokratischen Regierung das Feld zu überlassen. Heutige Debatten, beispielsweise um die Wahlerfolge der AfD, sind in Deutschland aufgrund der Erfahrungen mit dem Hitler-Faschismus von der Vorstellung geprägt, Faschismus gäbe es, weil Faschisten an die Macht kommen und diese ihre Macht mit allen Mitteln gegen die “Demokraten” verteidigen würden. Chile zeigt deutlich, dass ein friedlicher Übergang zur bürgerlichen Demokratie für die herrschende Klasse völlig unproblematisch ist, wenn die Aufgaben der offenen terroristischen Diktatur erfüllt wurden. Den Kampf gegen die größten Reaktionäre als einen Kampf zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie zu führen hat sich hier erneut als falsch erwiesen und bedeutet zwangsläufig ein Abgleiten in den Opportunismus. Die chilenischen Opportunisten unterschiedlicher Couleur – am prominentesten der aktuelle Präsident Gabriel Boric – schreiben sich alle das “Nunca mas!”, das “Nie wieder!” auf die Fahne, meinen damit aber lediglich die offene Gewalt und stellen sich direkt in den Dienst des bürgerlichen Staats. Auch aktuell gibt es hunderte politische Gefangene, bei allen größeren Protesten der letzten Jahre wurden Arbeiter, Bauern und Studierende ermordet und Angriffe auf Löhne, Renten und den Zugriff auf Ressourcen gibt es kontinuierlich. Das “nunca mas” der Herrschenden ist nichts, als eine Legitimation der Weiterführung der Diktatur der Bourgeoisie, auch wenn sie ihre politische Herrschaft über Parlament und Parteien organisiert.28

Den chilenischen Versuch, den Sozialismus über den parlamentarischen Weg zu erreichen, ohne den bürgerlichen Staat zu zerschlagen, müssen wir in seiner historischen Bedeutung ernst nehmen. Der Reformismus und das Vertrauen in den gemeinsamen Kampf mit der Sozialdemokratie oder sogar mit Teilen des nationalen Kapitals müssen ständig zurückgedrängt werden. In Chile haben wir es gesehen, aktuell sehen wir es auch in Venezuela: Jede noch so schöne Reform ist im Kapitalismus keine Garantie für die dauerhafte Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Volks. Nur der Sozialismus kann dauerhaft die Interessen des Volks absichern und entwickelt sich tendenziell immer in Richtung der umfassenderen Erfüllung aller menschlichen Bedürfnisse. Dafür muss der Sozialismus aber 1. durch den Bruch der ökonomischen Macht des Kapitals durch die Verstaatlichung aller zentralen Produktions- und Distributionseinheiten, 2. durch die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch Organe der Selbstverwaltung der Werktätigen und 3. durch die standhafte Fähigkeit zur eigenen Verteidigung durch die militärische und sonstige exekutive Macht in den Händen der Werktätigen gekennzeichnet sein. Der chilenische Weg zum Sozialismus und auch der sogenannte Sozialismus des 21. Jahrhunderts erfüllen keinen dieser Aspekte. Der durch sie geleistete Ausbau der Infrastruktur, finanziert durch nationale Ressourcen und Steuern, steht nicht im Dienst des Volkes, sondern unterstützt die nationale Bourgeoisie langfristig bei der eigenen Profitmaximierung. Häufig wird die Schlussfolgerung gezogen, die Regierung Allende habe zu schnell zu viele und zu weitreichende Reformen durchgeführt, was den Putsch verursacht hätte. Vielmehr muss geschlussfolgert werden, dass es eine gefährliche Illusion ist, den Sozialismus über parlamentarische Mehrheiten im Bündnis mit der Sozialdemokratie und Teilen der Bourgeoisie erreichen zu wollen.

Quellen

Biblioteca Nacional de Chile. (2023, 05 Sept.) Memoria Chilena. http://www.memoriachilena.gob.cl/

Braun, Juan; Braun, Matías; Briones, Ignacio; Díaz, José; Lüders, Rolf und Wagner, Gert. Economía chilena 1810-1995: estadísticas históricas. Santiago: Pontificia Universidad Católica de Chile, 2000.

Contraloría General de la República. Recopilación de leyes por orden numérico con índices numérico, temático, onomástico y de notas: desde la ley 17.426, de 27 de abril de 1971, a la ley 17.630, de 10 de marzo de 1972. Santiago: La Contraloría, 1971.

Esquerda Online. (2023, 06. Sept.) 50 anos do golpe no Chile. https://esquerdaonline.com.br/2023/09/05/carta-dos-cordoes-industriais-de-santiago-a-allende-5-de-setembro-de-1973/

Jobet, Julio César. El Partido Socialista de Chile. Santiago: Ediciones Prensa Latinoamericana, 1971.

Montalva, Eduardo Frei. Lo que Chile está realizando, 1965-1968. Santiago, Chile: Zig-Zag, 1970.

Movimiento de Izquierda Revolucionaria. El MIR ante las alzas. Santiago: Secretariado Nacional del Movimiento de Izquierda Revolucionaria, 1972.

Nachrichtenpool Lateinamerika. (2023, 06. Sept.) La Internacional de Allende. https://www.npla.de/internationalallende/es/una-casa-digna-pobladorxs-proyectos-y-utopias-urbanas-durante-la-unidad-popular-1970-1973/

Naranjo, Pedro; Ahumada, Mauricio; Garcés, Mario und Pinto, Julio. Miguel Enríquez y el proyecto revolucionario en Chile: discursos y documentos del Movimiento de Izquierda Revolucionario. Santiago: LOM, Centro de Estudios Miguel Enríquez, 2004.

Netto, José Paulo. Pequena história da ditadura brasileira (1964-1985). São Paulo: Cortez, 2014.

Travasaros, Tasos.(2023, 09 Sept.) ΤΟ ΚΚ ΧΙΛΗΣ ΣΤΗΝ ΚΥΒΕΡΝΗΣΗ ΛΑΪΚΗΣ ΕΝΟΤΗΤΑΣ. ΔΙΔΑΓΜΑΤΑ ΓΙΑ ΤΟ ΣΗΜΕΡΑ. https://www.komep.gr/m-article/b8d18d2e-f42c-11e9-95d7-3ed1504937da/

Unidad Popular. Programa básico de gobierno de la Unidad Popular. Santiago : Instituto Geográfico Militar, 1970.

Vallejos, Julio Pinto und Martínez, Luis Ortega. Expansión minera y desarrollo industrial: un caso de crecimiento asociado (Chile 1850-1914). Santiago: Universidad de Santiago de Chile, 1990.

1 https://dkp.de/programme/parteiprogramm/5/

2 Braun et al, S. 165-167.

3 Siehe Vallejos & Martines.

4 Einführung von Importrestriktionen, um die inländische Produktion zu fördern.

5 Biblioteca Nacional de Chile, http://www.memoriachilena.gob.cl/602/w3-article-3632.html#presentacion

6 Die Nationale Bergbaugesellschaft (Sociedad Nacional de Minería, SONAMI) war ein Branchenverband der chilenischen Bergbauunternehmen. Sie wurde 1883 per Dekret gegründet, eine Antwort auf die Herausforderungen, denen sich die chilenische Bourgeoisie aufgrund der Erschöpfung ihrer Minen, des Mangels an Innovation und der internationalen Lage gegenübersah.

7 Montalva, S. 20.

8 Um zu verhindern, dass Lateinamerika dem Beispiel der kubanischen Revolution folgte, schlug John F. Kennedy 1961 ein Abkommen zur ökonomischen Zusammenarbeit zwischen US- und Südamerika vor. Auf der Konferenz von Punta del Este (1961) wurde das Programm von allen Ländern der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), mit Ausnahme Kubas, angenommen.

9 Montalva, S. 24-25.

10 https://www.genero.patrimoniocultural.gob.cl/651/w3-article-49735.html

11 http://dx.doi.org/10.4067/S0718-23762008000200009

12 Teil der PS hatte das Gesetz auch offen unterstützt. Siehe Jobet, S. 210.

13 https://www.socialismo-chileno.org/PS/congresos/22-1967/Documento-CONGRESO-CHILLAN%201967.pdf

14 Naranjo et al., 2004, S. 99.

15 Siehe Movimiento de Izquierda Revolucionaria.

16 “Der Staat hat die absolute, ausschließliche, unveräußerliche und unantastbare Herrschaft über alle Bergwerke, Wiesen, metallhaltigen Sande, Salinen, Kohle- und Kohlenwasserstofflagerstätten und andere fossile Stoffe, mit Ausnahme der oberirdischen Tone.” Contraloría General de la República, S. 63.

17 Im Wahlprogramm gab die Unidad Popular bekannt, folgende Bereiche verstaatlichen zu wollen: “Kupfer-, Salpeter-, Jod-, Eisen- und Kohlebergbau; das Finanzsystem des Landes, insbesondere das private Bank- und Versicherungswesen; der Außenhandel; die großen Vertriebsgesellschaften und Monopole; strategische Industriemonopole; im Allgemeinen die Tätigkeiten, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes bestimmen.” Unidad Popular, S.20.

18 Unidad Popular, S. 19-21.

19 Unidad Popular, S. 22.

20 Unidad Popular, S. 12.

21 Für eine ausführliche Kritik siehe Travasaros.

22 Unidad Popular, S. 15.

23 Unidad Popular, S. 15.

24 Unidad Popular, S. 24.

25 https://www.nytimes.com/1974/09/20/archives/cia-is-linked-to-strikes-in-chile-that-beset-allende-intelligence.html

26 https://www.unsere-zeitung.at/2021/09/11/das-911-von-1973/

27 Die Rede wurde von der bundesdeutschen AgitProp-Rockband Floh de Cologne aufbereitet: https://www.youtube.com/watch?v=ZjgpVeck6X4

28 https://www.elrodriguista.org/cincuenta-anos-del-golpe-de-estado-y-la-politica-del-nunca-mas-como-discurso-negacionista-de-las-esferas-academicas-y-comunicacionales-de-la-democracia-chilena-parida-en-dictadura-p/

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